Die 28 Punkte machen noch keinen Frieden, sie sind nicht einmal ein Plan. Die Trumpsche Diplomatie hat den klassischen Verhandlungsprozess auf den Kopf gestellt und damit gerade die europäischen Verbündeten vor eine schwierige Aufgabe gestellt. Bisher wurden Friedenspläne lange und gründlich vorbereitet und in zahlreichen Schleifen zwischen Außenministerien feingeschliffen, bevor sie auf dem Tisch der Entscheidungsträger landeten. Die neue US-Administration hat dagegen eine Art privater Abkürzungsdiplomatie ins Leben gerufen, die bereits in Gaza zur Anwendung kam. Persönlich vom Präsidenten autorisierte Unterhändler vereinbaren etwas, das in der Automobilindustrie einer Designstudie entspräche: eine aufregend gezeichnete Vorstellung davon, wie das neue Modell aussehen könnte.
Diese Skizze ist nun Gegenstand einer sehr intensiven öffentlichen Debatte; zentrale Fragen bleiben dabei notwendigerweise ungeklärt. Was der Friedensdesignstudie fehlt, sind eine Struktur zur Klärung der oft entscheidenden Details und auch zur Umsetzung. Inwiefern die 28 Punkte tatsächlich einen Weg zum Frieden ebnen können, hängt von drei zentralen Aspekten ab: Erstens stellt sich die Frage, inwiefern die Substanz der Designskizze als Ausgangsbasis für weitere Verhandlungen tragfähig ist. Zweitens ist offen, wie Europa und die Ukraine den weiteren Prozess mitgestalten und in ihrem Sinne beeinflussen können. Drittens wird entscheidend sein, inwiefern die Administration Trump bei ihrem Versuch, Frieden zu schaffen, auch bei der Stange bleibt.
Viele der Reaktionen auf die 28 Punkte konzentrieren sich auf besonders verstörende Einzelaspekte und vermutete russische Maximalforderungen. Kühler betrachtet muss man jedoch feststellen, dass einige der 28 Punkte mit hoher Wahrscheinlichkeit auch in jedem künftigen Friedensplan auftauchen werden und daher Ansatzpunkte für weitere Verhandlungen bieten. Dazu gehören die territorialen Regelungen, Sicherheitsgarantien für die Ukraine, die Größe und Bewaffnung der ukrainischen Armee, die Rolle der NATO, ein Pfad zum Wiederaufbau sowie die Sanktionen gegen Russland.
Die Ukraine wird angesichts der militärischen Lage nicht darum herumkommen, einen Teil ihrer besetzten Gebiete faktisch Russland zu überlassen. Im Gegenzug dazu benötigt sie möglichst glaubwürdige Sicherheitsgarantien. Die bislang nur vage formulierte Möglichkeit, dass die USA Teil dieser Sicherheitsgarantien sein könnten, ist ein Fortschritt angesichts der bisherigen Positionen von Donald Trump. Auch die avisierte Stärke der ukrainischen Armee von 600 000 Soldatinnen und Soldaten ist positiv zu bewerten; immerhin hatte das Land vor 2022 nur 250 000 unter Waffen.
Im Falle der NATO-Mitgliedschaft der Ukraine decken sich die Positionen der aktuellen US-Regierung und Russlands. Es kann also nicht überraschen, dass diese hier so kategorisch ausgeschlossen wird. Die Ideen zum Wiederaufbau unter Verwendung der eingefrorenen russischen Vermögenswerte plus eines substanziellen europäischen Beitrags spiegeln am deutlichsten wider, wer diese Punkte ausgearbeitet hat: die Business Buddies der beiden Präsidenten. Für Donald Trump ist eine Art Gewinnbeteiligung zentral – und wenn dies zusätzlich mit dem Geld anderer Leute gelingen kann, umso besser.
Für Europa und die Ukraine stellt sich nun die Frage, wie mit diesem Vorschlag umgegangen werden kann. Unmittelbar hat die Veröffentlichung der russisch-amerikanischen Vorschläge Empörung und Entsetzen hervorgerufen. Hektische Diplomatie folgte, und ein Treffen in Genf wurde rasch anberaumt. Dessen Ergebnis ist offenbar eine Version 2.0 der 28 Punkte. Europa und die Ukraine haben gute Miene zum bösen Spiel gemacht, die Vorschläge als gute Ausgangslage für Frieden bezeichnet und dennoch eine „Track-and-Changes“-Version mit viel Markup (Merz) vorgelegt.
Europa hat sich einer eigenen Verhandlungsschiene mit Russland beraubt, indem jeder Dialog mit Putin abgelehnt wird.
Damit werden in Teilen Gegengebote formuliert, etwa eine Obergrenze der ukrainischen Armee von 800 000 statt 600 000 Soldaten oder die Formulierung, dass eine NATO-Mitgliedschaft derzeit nicht umsetzbar sei, aber nicht ausgeschlossen werde. Zusätzlich sollen vor allem die Punkte zu Sanktionen und Reintegration Russlands in die Weltwirtschaft so formuliert werden, dass jedes Entgegenkommen zurückgenommen werden kann, sollte Russland den Frieden wieder verletzen. Zudem versuchen die Ukraine und seine Verbündeten zu verhindern, dass sich bei der Verfolgung von Kriegsverbrechen eine „Schwamm-drüber“-Logik durchsetzt. Die direkte Reaktion aus Moskau darauf ist ein erwartbares „Njet“.
Kanzler Merz und seine Mitstreiter plagt ein fundamentales Problem: Sie können nur reagieren, nicht agieren. Europa hat sich einer eigenen Verhandlungsschiene mit Russland beraubt, indem jeder Dialog mit Putin abgelehnt wird. Eine gemeinsame Verhandlungsposition, die unter den aktuellen Bedingungen umsetzbar wäre, wird ebenfalls nicht vorgelegt. Oder wie es Außenminister Wadephul im vierten Kriegsjahr offenherzig ausdrückt: „Aber wir brauchen Zeit, nachzudenken, was eine verlässliche Grundlage sein kann für einen dauerhaften Frieden.“
Dass sie zugleich die Bedingungen eines Friedens mitgestalten wollen, erscheint unter diesen Umständen reichlich bizarr. Denn mit ihrer Verweigerungshaltung machen sie es den USA und Russland leicht, Europa zu vernachlässigen oder gar zum Erfüllungsgehilfen des eigenen Deals herabzustufen. Sowohl Putin als auch Trump neigen dazu, Europa geringzuschätzen oder gar zu verachten. Aus dieser Position heraus müssen die Europäer mit dem Fait accompli der 28 Punkte umgehen, ohne als Friedensverhinderer oder beleidigte Leberwürste dazustehen.
Das Problem dabei ist die Unberechenbarkeit des amerikanischen Präsidenten, der zugleich zentral für einen Friedensschluss ist. Ein Scheitern der 28 Punkte als Weg zum Frieden oder auch nur ihre Überführung in einen geordneten, aber langsamen bürokratischen Prozess könnte dazu führen, so die Befürchtung, dass Trump die Flinte ins Korn wirft. Das Schicksal der Ukraine würde dann vollständig Europa überlassen – und in der zynischsten Variante würden die Wirtschaftsbeziehungen der USA mit Russland trotzdem wieder in Gang gesetzt. Damit würden zentrale Hebel für eine sichere Zukunft der Ukraine verloren gehen. Immerhin erhöht eine Beteiligung der USA an einem Friedensprozess zumindest die Wahrscheinlichkeit, dass Russland sich an die Vereinbarungen hält. Ganz konkret: Eine Sicherheitsgarantie der USA dürfte in Moskau anders bewertet werden als eine europäische, und Sanktionen tun deutlich mehr weh, wenn sie auch den Handel mit den USA umfassen.
Diese Form der Shuttle-Diplomatie unter den Augen der Öffentlichkeit ist für Putin nahezu ideal.
Wie kann es also weitergehen? Die Arbeit an der Designstudie wird fortgesetzt: nicht nur am Wochenende in Genf, sondern auch in den kommenden Tagen werden die Gespräche zwischen den USA und der Ukraine intensiviert werden. Diese Form der Shuttle-Diplomatie unter den Augen der Öffentlichkeit ist für Putin nahezu ideal. Er kann in Ruhe analysieren, wie sich die einzelnen Akteure positionieren und vor allem, wie sich die Kräfteverhältnisse am entscheidenden Ort, nämlich in Washington, darstellen. Er hat deutlich gemacht, dass er zwar offen für Frieden ist, den Krieg aber auch problemlos weiterführen kann, immerhin sieht er sich auf der Siegerstraße.
Europa hat es weniger bequem. Es hat sich paradoxerweise bisher darauf verlassen, dass Donald Trump für sie verhandelt. Dadurch haben die Europäer faktisch die Wahl zwischen drei schlechten Optionen.
Eine Möglichkeit ist es, weiterhin auf Trump zu vertrauen und darauf zu hoffen, die eigenen Positionen doch noch irgendwie in Washington einbringen zu können. Eine dadurch wahrscheinliche Lösung, bei der Europa zahlt und die USA verdienen, während die Ukraine unzureichend gesichert ist, wäre jedoch Wasser auf die Mühlen europäischer Populisten. Eine zweite Option wäre, einen europäischen Sondergesandten zu benennen, der in allen weiteren Verhandlungen europäische Interessen direkt in den Prozess einbringt. Dafür müsste allerdings schleunigst – und wohl in absehbar heftigen internen Debatten – geklärt werden, was Europa eigentlich erreichen will. Die von Außenminister Wadephul angemahnte Zeit ist nämlich weitgehend abgelaufen.
Die dritte Möglichkeit für Europa besteht darin, die 28 Punkte zu sabotieren, um einen aus europäischer Sicht ungerechten Frieden zu verhindern.
Die direkten Folgen der europäischen Entscheidungen wird die Ukraine tragen müssen. Denn auch wenn die 28 Punkte heftig und vollkommen zu Recht kritisiert werden, so sind sie doch bislang der ernsthafteste und realistischste Versuch, den Krieg zu beenden und dabei die Souveränität der Ukraine zu bewahren.




