Griechenland, Syrien und die Flüchtlingskrise sind nur einige Momente der Ereignisdichte, die erkennen lassen, dass die deutsche Politik aus dem Krisenmodus nicht mehr herauskommt. Politik und die Taktzahl politischer Entscheidungen werden immer mehr durch die Zeit getrieben, innerhalb von weniger als 48 Stunden sind die Finanzhilfen für Griechenland durch die Parlamente zu verabschieden gewesen. Die Politik gerät unter Druck und setzt sich dem Vorwurf aus, dass ihre Reaktionszeit auf neue Krisen zu lang sei, der Koordinations- und Abstimmungsbedarf zu zeitaufwendig. Sei es durch die Medien oder die Märkte, sei es durch die politischen Akteure selbst inszeniert – immer mehr drängen sich Entscheidungsnotwendigkeiten in den Vordergrund, die der Beschleunigung etablierter Verfahren bedürfen – und sei es durch entsprechend vorgelegte „Beschleunigungsgesetze“. Die Turbulenzen der Weltpolitik schlagen deutlich spürbar auf nationale Entscheidungen durch und provozieren einen Stil nachlaufender Reaktionen.
Die jüngsten Ereignisse unterstreichen diesen Tatbestand: Die Twitter-Welt der Flüchtlinge ist schneller als Anordnungen über die Einrichtung oder das Verschieben von Grenzkontrollpunkten zustande kommen. Politik findet zunehmend in Krisengipfeln, Sondersitzungen des Kabinetts sowie eilbedürftigen Beratungen und Beschlüssen im Parlament statt. Außenpolitik scheint an Interdependenzüberflutung zu leiden, der Zeitdruck droht die Qualität politischer Entscheidungen zu beeinträchtigen. Hinzu kommt: die Mehrebenenarchitektur der Europäischen Union erhöht noch den Problemdruck, aber die Problemlösungsfähigkeit der Politik wird nur weiter in die Ferne geschoben. Zudem gelingt es angesichts der Überlagerungen von außenpolitischen Krisen mit innenpolitischen Notwendigkeiten (wie in der Flüchtlingsfrage) immer weniger, bestimmte Entscheidungsbereiche vom Überborden der Probleme abzuschotten. Gewachsene externe Erwartungen erzeugen einen zusätzlichen Druck, sich zu einer Fülle von Fragen verhalten zu müssen, ohne über eine begründete Position zu verfügen. Innen- und Außenpolitik verschmelzen immer mehr, darauf ist das außenpolitische Handeln bislang kaum vorbereitet. Die Politik läuft der Realität hinterher, der Eindruck von Ziellosigkeit und Handlungsschwäche ist unvermeidbar. Der Krisenmodus wird zum Normalzustand, die Zeit-Dimension des Entscheidens ist situativ und krisengetrieben, nicht mehr an Politikzielen ausgerichtet.
Die Folgen der Beschleunigung von Politik
„Fast Thinking“ hat nicht zuletzt auch bei politischen Entscheidungsträgern die Tendenz, sich intuitiven Mustern der Urteilsbildung zu verschreiben. Damit werden Gelegenheiten für politische Weichenstellungen oftmals verpasst. Zeitdruck und Beschleunigung von Beschlüssen ist eine der Ursachen für die vorgebliche „Alternativlosigkeit“ der gewählten Handlungsoption, indem Ermessensspielräume und Gegenvorschläge kurzgeschlossen werden. Nicht zuletzt die digitale Kommunikation und die Twitter-Wolken, die Entscheidungsdruck simulieren, unterstützen diesen Trend kurzfristiger Stellungnahme und Positionsergreifung. Gleichwohl gerät politisches Handeln mit gewachsener Verdichtung und beschleunigten globalen Vernetzungen in die Gefahr, sich selber aus dem Spiel zu nehmen, etwa durch eine Art „Instant-Politik“ der Politiker, die meinen auf jedes Ereignis oder jede politische Stellungnahme unmittelbar mit einem Tweet antworten zu müssen, um ihre Präsenz in der Medienlandschaft zu behaupten. Mit solchen Meinungsreflexen wird jedoch nur vermeintlich Orientierungssicherheit hergestellt, meist reflektieren sie nicht mehr als eine Festlegung auf „Nicht-Ziele“, also den Ausschluss bestimmter Optionen, ohne einer anspruchsvollen Bestimmung von Gestaltungszielen näher zu kommen. Stillschweigend wird damit das Kriterium der Relevanz politischer Ereignisse zugunsten des Gewinns von politischer Aufmerksamkeit verschoben. Zudem werden damit nur Pfadabhängigkeiten fortgeschrieben und die politische Neubestimmung tendenziell ausgeschlossen. Die Einordnung eines bestimmten Sachverhalts in seine komplexen Bezüge bleibt dabei auf der Strecke, einfache Kausalitäten sind gefragt.
Solche Routinen sind zudem auch ein Ausdruck organisationsinterner Veränderung in Gestalt der zunehmenden „Präsidentialisierung“ der Entscheidungswege, sei es durch die Ministerbüros oder sei es im Kanzleramt bezogen auf die gesamte Bundesregierung. Kleinere Kreise werden als reaktionsfähiger und schneller angesehen. Mit solchen Vorentscheidungen werden dem administrativen Apparat bereits Handlungskorridore vorgegeben, die bestimmte alternative Wege von vorneherein ausschließen. Der Bürokratie gelingt es dann nur mit erheblichem Kraftaufwand, diese Optionen wieder in den Entscheidungsprozess einzubringen und sie erneut diskussionsfähig zu machen.
Entschleunigungsschleifen einbauen
Das Ziel von Entschleunigung ist nicht Eskapismus oder die Verdrängung von Realitätsanforderungen sondern ein Versuch, die Qualität und Legitimität von Beschlüssen zu verbessern, Alternativen systematisch zur Geltung zu bringen und damit Gestaltungsspielräume zu gewinnen. Nicht umsonst sind im parlamentarischen Gesetzgebungsprozess drei Lesungen bis zur Entscheidung vorgesehen, um bessere Entscheidungen und deliberative Freiräume durch Verfahrensverlangsamung zu sichern. Dabei handelt es sich um eine willentliche Verzögerung politischer Entscheidung, um Raum für neue Ideen zu schaffen. Dies gilt gerade auch für die Außenpolitik, die ihre Entscheidungen in mehrfachen, strukturierten Beratungsrunden, unter Einbeziehung externen Sachverstands und alternativer Meinungen zur Vermeidung des „group think“ vorbereiten muss, wenn sie die Folgen von Digitalisierung und Beschleunigung der Nachrichten- und Ereignisproduktion bewältigen will. Gegenüber solchen Effekten haben sich Bemühungen als hilfreich erwiesen, politische Narrative zu kultivieren, die Bedeutung in historischer und prospektiver Sicht interpretieren und als konkurrierende Deutungsmuster angelegt werden können. Solche Instrumente systematisch anzulegen und weiter zu entwickeln, könnte eine hilfreiche Initiative zur Überwindung der Kurzfristigkeit und für eine Verlangsamung von Entscheidungsprozessen sein.
Mit dem Review-Prozess 2014 unter dem Titel „Außenpolitik Weiter Denken“ hat das Auswärtige Amt seinen Anspruch auf ein anspruchsvolles politisches Gestaltungshandeln formuliert, nicht zuletzt wurde eine Abteilung für Krisenprävention, Stabilisierung und Konfliktnachsorge gegründet. Insgesamt sollte ein stärker strukturorientierter Zugriff in den Vordergrund gerückt werden, indes weist der gegenwärtige Krisenmodus zu Syrien und der Flüchtlingswelle aus, dass ein bekanntes Problem in veränderter Gestalt wieder zurückgekehrt ist. Zwar ist sich die deutsche Außenpolitik ihres begrenzten eigenen Gestaltungsvermögens bewusst und sucht den Schulterschluss im Verbund mit Partnern oder einer multilateralen Anordnung, aber das Fehlen von Frühwarnkapazitäten und Sicherheitsreserven zur Abfederung von Ansprüchen multipler Akteurskonstellationen schränken die Handlungsmöglichkeiten an. Hier kommt es darauf an, Einfluss auf die Taktung politischer Krisenstrategien zu gewinnen, um den Druck auf die Steigerung des Entscheidungstempos kontrollieren zu können. Politik jenseits des Krisenstabes bedarf eines steuernden Impetus in Verbindung mit anderen „stake holder“ und unabhängigen Köpfen in Regierung, Staat und Gesellschaft. Dies muss schon zwischen den Ressorts beginnen, wo übergreifende Allianzen gefragt sind, um die Grundlagen für integrales handeln zu legen, wie in der Flüchtlingskrise zu besichtigen ist.
7 Leserbriefe
T. Eßer
Es geht nicht um Beschleunigung und auch nicht um Entschleunigung sondern um eine Politik, die ihren Aufgaben gerecht wird.
Politik dreht sich im Wahlmodus und fachliche Kriterien spielen bis in die Spitzen der Ministerien keine oder eine zufällige Rolle. Sie reisen schon ohne Wissen und Kompass an... Und überraschen nur selten. Fachpolitik ist auch für die Listenaufstellung kein Kriterium. Internationale wissenschaftliche Erkenntnisse dringen überhaupt nicht mehr vor, auch nicht die der UN oder OECD auch die europäische Dimension spielt keine Rolle. Gehandelt wird, wenn es brenzlig zu riechen beginnt.
Planung findet nur bis zu den nächsten Wahlen statt, Umfragen ersetzen die eigene Meinungsbildung. Selbst die Emotionen kommen aus zweiter Hand.
Deutschlands internationale Performanz ist im Vergleich zu anderen europäischen Ländern und verglichen mit den BRICS recht gut. Auch Deutschlands Übernahme von Kosten für global governance ist beträchtlich. Die veränderten europäischen Herausforderungen, die globalen Machtverschiebungen sowie die globalen wie regionalen Krisen (Kriege, Konflikte, Klima, Sicherheit, Terrorismus) leiteten eine Neuausrichtung der Politik ein, die inzwischen in verschiedenen Dokumenten formuliert wurde. Deutschland ist in den wesentlichen weltpolitischen und –wirtschaftlichen Fragen eine Gestaltungsmacht geworden. Dennoch ist die bislang verfolgte Außen- und Sicherheitspolitik nicht konsistent. Dies resultiert vor allem daraus, dass die folgenden Fragen nach wie vor ungeklärt sind:
1. Wie soll mit autoritären Regimes umgegangen werden? Bislang pflegt Deutschland mit den meisten großen autoritären Ländern durchaus enge Beziehungen (China, Russland, Iran, Saudi Arabien, Ägypten, Vietnam), während auf kleinere autoritäre Länder weniger Rücksicht genommen wird. Wie die Erfahrungen der Kooperation mit China, Äthiopien, Vietnam u.a. Staaten zeigen, hat ein zivilmachtorientiertes Land durchaus Möglichkeiten, Demokratie, Partizipation und Rechtssicherheit zu fördern und über Entwicklungskooperation und NGOs für eine offenere Gesellschaft zu werben. Hier bedarf es einer jedoch eines klaren Konzepts, Durchhaltevermögens und Konfliktbereitschaft.
2. Mit welchen Partnern will Deutschland Allianzen bilden? Es gibt bislang kaum eine Diskussion, welche Rolle die Zusammenarbeit mit den BRICS einnehmen soll. Zwar gibt es zunehmend Kooperationen mit ihnen und auch Konflikte, aber inwieweit die BRICS als Gruppe Adressat deutscher Politik werden, wurde bislang nicht öffentlich thematisiert. Wichtig wäre es auszuloten, wie die Kooperation mit demokratischen Mittelmächten ausgestaltet werden kann, um global gemeinsam im Sinne eines Zivilmachtkonzepts zu agieren. Die Vertiefung der Zusammenarbeit mit Mittelmächten, also Ländern, die eine ähnlich große Bevölkerung wie Deutschland haben, könnte für viele internationale Verhandlungen genutzt werden. Zu den Mittelmächten gehören bspw. Staaten wie Indonesien, Kolumbien, Mexiko, Korea, Argentinien, die Türkei, Südafrika, Malaysia und Nigeria. Mit den Mittelmächten könnte das Zivilmachtkonzept weiter entwickelt werden anstatt von ihm abzuweichen. Es ist das Modell, dem die meisten Staaten, vor allem die kleinen und mittleren, anhängen. D.h. es geht nicht um Transformationsallianzen mit Regional Powers per se (unter Hintanstellung westlicher Werte) sondern um eine Kooperation mit demokratischen Mittelmächten, die bereit sind an globalen Lösungen mitzuwirken.
3. Wie kann deutsche Außenpolitik Adhocismus vermeiden. Maihold gibt Anregungen, wie durch Entschleunigung, die zu strategischem Agieren beiträgt, eine wichtige Steilvorlage für einen Diskurs.
In meinen Augen sollte Deutschland sein Konzept der Zivilmacht modernisieren und neuen zentrifugalen Entwicklungen und geostrategischen Ambitionen durch eine Agenda entgegen treten, die insgesamt von Europa ausgehen muss. So wird Deutschland Vormachteffekte vermeiden bzw. reduzieren und kein „benign hegemon“ sondern eine „benign middle power“, die gemeinsam mit den EU-Ländern und Mittelmächten gestaltet.
Eine Fortsetzung dieser Debatte wäre zu wünschen.
Robert Kappel