Der Fall der nordafghanischen Stadt Kundus ist ein Tiefschlag. Er ist peinlich für die Bundeswehr, für Berlin und Washington. Und erst recht für den afghanischen Präsidenten Aschraf Ghani, der in dieser Woche sein erstes Jahr im Amt feiern wollte. Kundus ist Synonym für das sagenhafte Schlamassel, in den das Land trotz, oder wahlweise wegen, des internationalen Engagements von fast 50 Nationen geglitten ist. Kundus ist der Beweis, dass zig Billionen Dollar Transfermittel und rund 150.000 internationale Truppen zu Peakzeiten in einem wilden Land wenig bewirkt haben. Kundus ist der Schlag ins Gesicht der Familien, deren Söhne und Töchter am Hindukusch gestorben sind. Kundus ist dieser Tage auch all das, was Kommentatoren schon immer über Afghanistan wussten.
Eines ist Kundus aber ganz sicher nicht: Die Katharsis, die befreiende Katastrophe, die uns endlich erlaubt, in den Sack zu hauen und abzuziehen. Im Gegenteil. Dass es den Taliban seit ihrem Fall 2001 erstmals gelungen ist, eine ganze Stadt einzunehmen, muss ein schriller Weckruf für die internationale Gemeinschaft sein.
Wenn die Volksvertreter und Minister der westlichen Welt jetzt nicht couragiert handeln, werden sie bald hilflos zusehen müssen, wie das Problem Afghanistan mit den anderen Krisen in dieser instabilen Weltgegend zusammenwächst und sich zu einem mit friedlichen Mitteln nicht mehr entwirrbaren Problem entwickelt.
Während hierzulande der Bundeswehr und ihrer recht verschwiemelten Mission als „Entwicklungshelfer in Uniform“ endgültig Scheitern attestiert wird, schießt dieser Bilanzierungsdrang am Kern des Dilemmas vorbei. Den Truppen wurden politische Aufgaben aufgebürdet, die diese mit ihren Mitteln gar nicht lösen konnten. Kundus' Probleme sind jahrzehntealte tiefe ethnische Gräben, in denen recht frische Erinnerungen ethnischer Säuberungen und Bürgerkriegstraumata ein friedliches Miteinander fast unmöglich machen. Warum Kundus von den Taliban eingenommen werden konnte, erklärt schon ein Blick auf die unmögliche lokale Führungsspitze: Der von Präsident Asgraf Ghani eingesetzte Gouverneur, ein Paschtune, liegt im Dauerclinch mit seinem Vize und dem Polizeipräsidenten, zwei Tadschiken. Statt miteinander, arbeiten sie gegeneinander.
So ist das Drama von Kundus nur ein Ausschnitt für die Lage in Afghanistan. Denn auch Kabuls vermeintliche Einheitsregierung, ein fauler, vom Westen erzwungener Kompromiss nach einer in die Binsen gegangenen Präsidentschaftswahl, ist durch Rivalitäten und Misstrauen gelähmt. Nun fragt sich die Politik: „Was können wir überhaupt noch tun? Haben wir über ein Jahrzehnt nicht alles versucht?“ Die Antwort ist einfach: keineswegs.
ISAF-Truppen haben organisiert, gekämpft, patrouilliert und ausgebildet. So lange sie in Afghanistan waren, verharrte das Land in einer Art Krieg auf niedrigem Niveau. Die Zusammenstöße spielten sich meist auf dem Land ab. Die Städte hingegen, in denen längst mehr als die Hälfte aller Afghanen lebt, entwickelten sich und funktionierten. Mehr hätte die ISAF-Mission nicht leisten können. Es sind daher nicht die Militärs, die gescheitert sind, sondern die Politik.
Westliche Parlamente, die Soldaten nach Afghanistan schickten, waren nicht bereit, sich intensiver mit den Problemen in Afghanistan und seiner Region auseinanderzusetzen. Diese reichen neben Terrorismus von Wassermangel über Armut zu Atomwaffen und gedeihen vor dem Hintergrund einer geopolitisch äußerst quirligen aber instabilen Weltgegend. Die Politik hatte auch wenig Mumm, diese komplexe Lage ihrer Wählerschaft zu erklären. Sonst würde die politische Debatte um den Hindukusch längst auf höherem Niveau geführt als sie heute, nach 13 Jahren Engagements, in immer wieder erschreckend schlichter Weise zu vernehmen ist.
Nie wird in der deutschen öffentlichen Debatte davon gesprochen, dass der schwärende Konflikt zwischen Pakistan und Indien eine der treibenden Faktoren von Afghanistans Dauerkrise ist. Kaum gibt es informierte Debatten darüber, dass sich in den letzten Monaten alarmierende Berichte aus Zentralasien, allen voran aus den beiden direkten Nachbarstaaten Afghanistans, Usbekistan und Tadschikistan, häufen. Dass sich der IS dort mit usbekischen, tadschikischen und anderen zentralasiatischen Terrorgruppen verbündet und sich diese zum Beispiel gemeinsam in der afghanischen Provinz Kundus gruppieren und sammeln. Außenpolitische Entscheider hinken also auch in dieser Region einer sich längst globalisierenden Krise hinterher und verharren in alten nationalstaatlichen Lösungsmustern.
Es gibt daher keine Alternative als Afghanistan weiterhin zu unterstützen und zu stabilisieren, wenn man den Flächenbrand in der Region – und die reicht längst bis Syrien, wie Gemeindebürgermeister von Garmisch bis Flensburg jetzt lernen müssen – verhindern will. Zudem ist kaum ein Problem Afghanistans ohne die Hilfe seiner Nachbarländer wirklich zu lösen.
Nicht die Bundeswehr, sondern die Politik hat versagt. Ein unregierbares Afghanistan hat das Zeug, die gesamte Region zu destabilisieren. Ein gescheitertes Afghanistan treibt genau die jungen Afghaninnen und Afghanen aufs Mittelmeer und nach Europa, für deren Ausbildung und zivilgesellschaftliche Ermunterung der Westen viel Geld ausgegeben hat. Daher müssen jetzt westliche Staaten alles daran setzen, den Friedensprozess in Afghanistan erneut in Gang zu bringen und die Nachbarstaaten in diese Bemühungen unnachgiebig einzubeziehen und in die Pflicht zu nehmen. Klar muss auch sein, dass dies eine harte und langfristige Aufgabe sein wird. Denn der Schaden, den die Halbherzigkeit des letzten Jahrzehnts verursachte, wird uns letztendlich noch mehr Geld kosten.
Entgegen allen öffentlichen Erklärungen werden seit einem Jahr neben den Truppen auch die Hilfsgelder und Aufbauhelfer abgezogen. Doch ohne Unterstützung versinkt Afghanistan im Chaos seiner nach dem Truppenabzug implodierenden Wirtschaft. Es braucht jetzt nicht nur erneutes Überdenken des voreiligen Abzugs, sondern auch intensiven politischen Dialog auf allen Ebenen. Diplomatische Initiativen und Formate. Kurz: Es braucht jetzt deutsche Außenpolitik.
2 Leserbriefe
"Nicht die Bundeswehr, sondern die Politik hat versagt."
Wer, bitteschön, ist denn "die Politik"? Wenn Sie schrieben: "die bisherige Politik des Westens / der Bundesregierung / von wem auch immer": dann könnte ich mich damit auseinandersetzen. "Die Politik" allgemein aber für gescheitert zu erklären, bedeutet in der Konsequenz nur eines: Vorschläge für eine ANDERE Politik, die es immer gegeben hat und die man im einzelnen gut oder schlecht finden mag, werden pauschal gleich mit abqualifiziert. Und das ist nicht fair und politisch verhängnisvoll. Denn Politik ist, anders als es die Kanzlerin so gern sagt, nie "alternativlos".