Es ist immer interessant, welche Bücher prominente Leute mit in den Urlaub nehmen, auf dem Nachttisch liegen haben und als wertvolle Quellen der Information erachten. Die Präsidenten Theodore Roosevelt und Harry Truman beschäftigten sich beispielsweise sehr ernsthaft mit Geschichte, und auch Präsident George W. Bush las gern in der Vergangenheit, allerdings wohl vor allem, um dort seine eigenen Überzeugungen und politischen Maßnahmen bestätigt zu finden. Henry Kissinger hat eine ausgeprägte Leidenschaft für Geschichte und setzt sich insbesondere mit Clausewitz und Bismarck auseinander. Und aus so gut wie jeder Zeile, die Winston Churchill je schrieb, aus jeder Rede, die er hielt, spricht ein Mensch, der sich mit den Geschichten und Lektionen der Vergangenheit auskannte.
Als der Direktor der Nationalen US-Nachrichtendienste und anschließend die New York Times veröffentlichten, welche Bücher die Navy Seals, die im Mai 2011 Osama bin Laden töteten, im Bücherregal seines Verstecks fanden, wurde in den Medien natürlich ausgiebig darüber diskutiert, welche Schlüsse aus bin Ladens Lektürewahl zu ziehen seien. Da sich der fundamentalistische Islamistenführer mit Englisch und Geschichte befasste und offenbar bemüht war, »den Feind kennenzulernen«, waren alle Bücher in seinem Umfeld englischsprachig und dienten einem bestimmten Nutzen. Ausgaben der Gedichte Shakespeares oder der Dramen Tennessee Williams‘ fanden sich nicht. Viele Bücher behandelten aktuelle internationale Themen, die arabische Welt, die Terrorismusbekämpfung und die militärische Haltung der Amerikaner, einige verfasst von Politikwissenschaftlern, andere von Fachleuten für internationale Politik.
Ausgaben der Gedichte Shakespeares oder der Dramen Tennessee Williams‘ fanden sich nicht.
Das provoziert dann doch die eine oder andere spekulative Frage. Ließ sich bin Laden bestimmte Bücher schicken? Machte er sich Notizen? Oder überließ er es seinen Gefolgsleuten, die Literaturliste zusammenzustellen? Was versprach er sich von der Lektüre dieser Bücher?
Ebenso frage ich mich natürlich, wie umfangreich und anspruchsvoll die Bücher sind, die westliche Staatschefs wie Angela Merkel, David Cameron und natürlich Barack Obama auf dem Nachttisch liegen haben. Beauftragen sie gerade ihre Assistenten, ihnen Literatur für den erhofften Sommerurlaub zu besorgen? Und welche Bücher liegen neben Putins Bett – Biografien Peters des Großen und Geschichtsbücher über den »Großen Vaterländischen Krieg« 1941 bis 1945? Das ist eine durchaus ernst gemeinte Frage, kann man doch davon ausgehen, dass Führungspolitiker von dem, was sie lesen, zumindest teilweise beeinflusst werden.
Amerika im Niedergang
Wie auch immer die Sache im Falle der Staatschefs aussehen mag, wissen wir doch zumindest, welche Bücher bin Laden in seinem beengten Domizil begleiteten, und können daher zu der faszinierenden Frage zurückkehren: Was zog er daraus? Hat er sie immer wieder gelesen? Ich stelle diese letzte Frage mit besonderer Neugier, weil eines dieser Bücher mein Aufstieg und Fall der großen Mächte war. Das ist keine leichte Lektüre, und wahrscheinlich haben es bin Ladens Assistenten beschafft, weil das Buch, als es 1987 erschien, für einiges Aufsehen sorgte. Ich behauptete (unter anderem), dass sich die UdSSR und die USA der »imperialen Überdehnung« schuldig machten und sich in die Gefahr des relativen Niedergangs begäben. Arabische Medien wie al-Jazeera und auch die Leserschaft des Buches faszinierte die Vorstellung, dass Amerika auf den Zusammenbruch zusteuert. Davon muss bin Laden natürlich erfahren haben. Und immerhin interessieren sich ja auch Leserinnen und Leser in vielen anderen Ländern für das Schicksal Amerikas und erwerben bereitwillig Bücher, die hoffentlich Erhellendes dazu beitragen. Erst in der vergangenen Woche sorgte die Nachricht, dass mein Buch in Osama bin Ladens Regal stand, für steigende Verkaufszahlen bei Amazon. Da die anderen Titel ähnliche Themen behandelten – US-Außenpolitik, Terrorbekämpfung und internationale Politik –, ist es nicht weiter überraschend, dass Aufstieg und Fall der großen Mächte auf bin Ladens Leseliste stand. Der Große Führer las doch gewiss gern über ein Amerika im Niedergang?
Für mich steht fest, dass keiner von bin Ladens Assistenten das erste Kapitel von Aufstieg und Fall der großen Mächte gelesen hat, in dem es darum geht, warum die arabische und die ottomanische Welt etwa seit dem 16. Jahrhundert ins Hintertreffen geriet, während der Westen seinen wirtschaftlichen, militärischen und imperialen Vorsprung immer weiter ausbaute. Die muslimische Welt kämpfte nicht nur an allen Fronten erbittert gegen externe Feinde, sondern wurde zudem von den heftigen, anhaltenden und grausamen internen Kriegen zwischen den Religionsgruppen der Schia und der Sunna zerrissen. Ähnliche Gewaltausbrüche gab es nach der Reformation auch in Europa, doch bis 1640 wich der Fanatismus einer stärker säkularen, ja relativ toleranten Epoche.
Im Westen, der im 18. und 19. Jahrhundert nach außen drängte und so die muslimische Welt überflügelte, vollzogen sich in dieser Zeit auch die großen Revolutionen in Technik und Handel, die frühe Industrialisierung und der Beginn des Parlamentarismus. Im Lande des Propheten dagegen verboten extremistische Bewegungen Bücher, entweihten historische Monumente und machten den Handel zunichte. Zu beiden Entwicklungen gab es Ausnahmen, doch Tatsache ist, dass das Zeitalter der Aufklärung in den folgenden Jahrhunderten die Gebiete der Türkei, Syriens, Ägyptens und Mesopotamiens nicht erreichte. Und wenn es nach dem Islamischen Staat geht, wird es auch nicht dazu kommen. Der IS beweist mit der Entweihung historischer Ruinen und der Zerstörung herrlicher religiöser Gebäude, dass er eine Bewegung ohne Zukunft ist.
Der entschlossene Feind
Die historischen Lektionen, die sich aus dem 16. Jahrhundert lernen lassen, haben aber recht offensichtlich weder die heutige al-Kaida noch der Islamische Staat oder andere pervertierte gewaltbereite Gruppen des Islam verinnerlicht. Stattdessen basteln sie sich lieber einen ideologischen »Text« über den Kampf gegen einen westlichen Feind zusammen, der am Ende untergehen wird. Die Botschaft der Geschichte ist nicht etwa das Scheitern des Nihilismus, sondern der Triumph ihrer Bewegung. Aus dieser Warte ist es nicht völlig abwegig zu behaupten, dass Osama bin Ladens Büchersammlung, selektiv ausgewählt und interpretiert von einem ultrareligiösen Leser wie ihm selbst, das Vorurteil bestätigen könnte, dass der Westen (und besonders die USA) bösartig, korrupt und pervers ist, eine entsetzliche Gefahr für den Islam und ein unüberbrückbares Hindernis für das Kalifat – und dass man ihm daher bei seiner eigenen Zerstörung behilflich sein muss. Ein Kompromiss ist heute so unmöglich wie im 16. Jahrhundert. Die Geschichte lügt nicht.
Wenn obige Interpretation stimmt, wäre die Nachricht über den Inhalt von bin Ladens Bücherregal in der vergangenen Woche mehr als die Kurzmitteilung wert, als die sie in unseren westlichen Medien behandelt wurde. Vielmehr offenbart sie einen entschlossenen und cleveren Feind, der uns ernst nimmt und mehr über uns erfahren will – um uns zu zerstören, versteht sich. Wir sollten angesichts dieser Nachricht verstärkt darüber nachdenken, wie groß die Gefahr eigentlich ist, die von bin Ladens Bewegung für unsere Welt, vielleicht für die gesamte Welt ausgeht. Das Wissen darüber, was er mutmaßlich über uns gelesen hat, verschafft uns paradoxerweise einmal mehr einen Einblick in die Gedankenwelt unseres Gegners.
5 Leserbriefe
Die Kurden finden unsere G-36 angeblich "super"...
Zu 91 Prozent beziehen sich seine Äußerungen auf die Okkupation, Aggression und Unterdrückung der Muslime in "muslimischen Ländern" durch "den Westen" und seine Kollaborateure.
Der äußerst lesenswerte Beitrag von James L. Payne "What Do the Terrroists Want? gibt da Auskunft: "The idea that terrorists seek to destroy the institutions of Western civilization is erroneous, a demonizing of the enemy that has no empirical basis."
https://www.independent.org/pdf/tir/tir_13_01_2_payne.pdf
Im Übrigen hatte Peter Bergen darauf hingewiesen, wie wenig Bin Laden von der westlichen Welt eigentlich wüsste und dass er kaum Bücher besitzen würde. Ein interessanter Widerspruch zu den neuen Meldungen.
Die Bücherliste zur Ergänzung: http://www.odni.gov/index.php/resources/bin-laden-bookshelf?start=3