Schilder und Banner mit Aufschriften wie „One genocide does not justify another“ („Ein Völkermord ist keine Rechtfertigung für einen anderen“) sind auf Demonstrationen in ganz Deutschland zu lesen. Sie fordern die Bundesregierung auf, alle ihr zur Verfügung stehenden Druckmittel einzusetzen, um die israelische Führung unter Benjamin Netanjahu dazu zu zwingen, den Krieg im Gazastreifen zu beenden. Der Satz spiegelt das Dilemma wider, dem sich die deutsche Regierung im Umgang mit der Regierung Netanjahu gegenübersieht – obwohl sie inzwischen offene Kritik geäußert hat.

Der Holocaust steht nach wie vor im Mittelpunkt der besonderen deutsch-israelischen Beziehungen. Das Vorgehen der Netanjahu-Regierung – die weiterhin auf einen endlosen Krieg drängt und gleichzeitig Pläne zur Deportation der Zivilbevölkerung aus Gaza-Stadt vorantreibt – hat erstmals die bedingungslose Unterstützung erschüttert, die der deutsche Staat jahrzehntelang gegenüber israelischen Führungen demonstriert hatte.

Mit der Erklärung von Bundeskanzler Merz, die Waffenausfuhren nach Israel zu stoppen, hat Deutschland seine Kritik an der amtierenden israelischen Regierung erstmals in konkrete Maßnahmen umgesetzt. Dennoch bewegt sich die Bundesregierung wie bei einem Tanz: einen Schritt vor, zwei zurück. Denn unmittelbar danach weigerte sie sich, eine Erklärung von 27 EU- und Partner-Staaten zu unterzeichnen, in der Israel aufgerufen wird, humanitäre Hilfe in den Gazastreifen zu lassen. Ebenso hielt sich die Bundesrepublik zurück, als mehrere Länder ihre Absicht bekundeten, einen palästinensischen Staat anzuerkennen.

Während seines Besuchs in Israel Anfang August warnte Bundesaußenminister Johann Wadephul vor einer internationalen Isolation Israels und forderte die Regierung Netanjahu auf, sich klar gegen Vertreibung und Annexion zu positionieren. Seitdem hat Netanjahu jedoch das Gegenteil getan: Er setzt seinen Plan zur Eroberung und Zerstörung des Gazastreifens fort, fördert den Siedlungsbau im Gebiet E1 des besetzten Westjordanlands und mehr. Dennoch hat der deutsche Außenminister nicht nur davon abgesehen, seine Kritik an der israelischen Regierung zu verschärfen, sondern sogar angekündigt, Deutschland werde weitere europäische Sanktionen gegen die Netanjahu-Regierung nicht unterstützen.

Die historische Bedeutung der Anerkennung eines palästinensischen Staates kann nicht stark genug betont werden.

Wie es scheint, ist die deutsche Führung trotz ihrer Kritik noch immer nicht gewillt, die ganze Tragweite des Verhaltens der rechtsradikalen israelischen Regierung zu begreifen. Um Netanjahus messianische Mitstreiter – wie die Minister Smotrich und Ben-Gvir, deren politische Ansichten denen deutscher Rechtsextremer wie Björn Höcke ähneln – zu beschwichtigen, setzt die Regierung Israels auf extreme Maßnahmen.

Deutschlands historisches Engagement für das jüdische Volk und den Staat Israel hätten statt der gezeigten Zurückhaltung eher dazu führen sollen, dass es sich den Ländern anschließt, die die Anerkennung eines palästinensischen Staates fordern.

Die historische Bedeutung der Anerkennung eines palästinensischen Staates kann nicht stark genug betont werden. Genau wie im Fall der Balfour-Erklärung, die die erste internationale Anerkennung des Zionismus markierte, wäre nun – 108 Jahre später – eine internationale Anerkennung der Grundstein für die Verwirklichung des Rechts auf palästinensische Selbstbestimmung. Dies wiederum würde Israel vor dem Schicksal einer blutigen binationalen Katastrophe oder eines Apartheidstaats bewahren. Beides würde das Ende des Zionismus bedeuten.

Zum ersten Mal scheint es, als könnte die Regierung Netanjahu durch ihr Versagen für eine positive Wende für die Palästinenser und nicht weniger für uns Israelis sorgen. Deutschland sollte Teil dieser Wende sein.

Die zionistische Vision eines demokratischen Nationalstaats für das jüdische Volk benötigt dringend einen palästinensischen Staat und wird ohne ihn nicht mehr lange bestehen können. Das Massaker vom 7. Oktober hat die israelische Gesellschaft zutiefst erschüttert, und die Schrecken des Gaza-Kriegs haben das palästinensische Opferbewusstsein weiter verstärkt. Fast zwei Jahre später stehen wir jedoch wieder am Ausgangspunkt: Ohne einen palästinensischen Staat gibt es keine Zukunft für Israel.

Ohne einen palästinensischen Staat gibt es keine Zukunft für Israel.

Stattdessen versucht die Regierung Netanjahu, uns in eine Ein-Staaten-Realität zu drängen. Ihre Vertreter im Westjordanland eskalieren die gewaltsame Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung; der endlose Krieg in Gaza dauert ohne Hoffnung und Sinn an und führt zu einer humanitären Tragödie historischen Ausmaßes. Einige Minister Netanjahus fordern bereits die Annexion von Teilen des Gazastreifens.

Angesichts dieser Realität müssen wir die Bemühungen unserer Freunde auf der ganzen Welt begrüßen und unterstützen, die sich für eine andere Realität einsetzen. Eine Realität, die auf der einzig gangbaren Lösung basiert: zwei Staaten für zwei Völker als Teil einer regional zusammenarbeitenden Koalition. Als Israels wichtigster Verbündeter in Europa sollte Deutschland in dieser Richtung eine Führungsrolle übernehmen – und keine zögerliche Politik gegenüber einer israelischen Regierung verfolgen, die ihrerseits entschlossen ist, eine Zwei-Staaten-Lösung zu verhindern.

Nach 58-jähriger Herrschaft über ein anderes Volk hat der Staat Israel den Höhepunkt seines moralischen Versagens erreicht. Wir befinden uns an einem entscheidenden Punkt in der Geschichte der zionistischen Bewegung. Es muss eine politische Alternative zu der Sackgasse geben, in die uns diese machtbesessene Regierung führt, die von den gefährlichsten und extremsten Elementen in der Geschichte Israels kontrolliert wird. Diese Alternative muss auf einer Vereinbarung zwischen zwei souveränen Einheiten aufbauen und entweder zu einer vollständigen Trennung, zu einer Konföderation oder zu zwei politischen Einheiten führen, die sich das Land „from the river to the sea“ ohne starre Grenzen teilen – sofern dies einvernehmlich vereinbart wird.

Die israelische Gesellschaft ist verletzt und lädiert, sowohl durch die Morde der Hamas als auch durch einen endlosen, erschöpfenden und entmutigenden Krieg. Die israelische Opposition muss jetzt eine Alternative zu Racheakten, Messianismus und zur Dominanz über ein anderes Volk anbieten. Anstatt die internationale Anerkennung des palästinensischen Staates zu kritisieren, sollte sie diese fördern sowie mit den liberalen Demokratien der Welt zusammenarbeiten, um eine bessere Lebensrealität für uns alle zu schaffen.

Angesichts der Bemühungen, die zionistische Vision durch eine messianische zu ersetzen, müssen wir mit unseren Verbündeten auf der ganzen Welt, darunter auch Deutschland, zusammenstehen – nicht um den Krieg stetig fortzuführen, sondern um eine politische Lösung zu forcieren.