Die schwache Wirtschafts- und Haushaltslage in westlichen Ländern und das neue Selbstbewusstsein Russlands und Chinas haben in den USA die Auseinandersetzung über die strategischen Prioritäten in der Außen- und Sicherheitspolitik angeheizt.
An der Debatte beteiligte sich nicht zuletzt Michael J. Mazarr. In seinem Artikel »State Building: Unbezahlbar und unrealistisch« plädiert er für einen Paradigmenwechsel in Bezug auf fragile Staaten. Mazarr vertritt die Ansicht, der westliche Fokus auf Fragilität hätte seit 2001 lediglich von wichtigeren Bedrohungen durch größere Mächte, Terrorismus, organisiertes Verbrechen, Pandemien und Klimawandel abgelenkt. Zugleich habe er unakzeptabel hohe Kosten verursacht. Mazarr argumentiert, dass die im Fokus der Öffentlichkeit stehenden State-Building-Interventionen im Irak und in Afghanistan fehlgeschlagen seien. Daher kommt er zu dem Schluss, die USA und Europa sollten instabile Staaten und Staatsaufbauversuche nicht länger als Priorität behandeln.
Zu hoher Stellenwert für fragile Staaten?
Nehmen wir die Argumentation einmal genauer unter die Lupe. Zunächst ist zu hinterfragen, ob große und aufstrebende Mächte tatsächlich eine größere Bedrohung für die nationale und internationale Sicherheit darstellen. Chinas selbstbewusstes Auftreten und Russlands expansionistische Agenda untermauern diese Sichtweise. Allgemeiner könnte man sagen, dass das Fehlen einer klaren internationalen Sicherheitsarchitektur schon in der Vergangenheit zu größeren Spannungen und Konflikten zwischen Staaten geführt hat. Denn in Abwesenheit einer solchen Ordnung kämpfen aufstrebende und verblassende Mächte um ihre Position. Und genau das passiert heute wieder.
Es wäre kurzsichtig, fragile Staaten und die Bemühungen um den Aufbau ihrer staatlichen Strukturen in einem neuen Sicherheitsparadigma als Nebenschauplätze zu behandeln.
Mazarrs Bedenken, dass den fragilen Staaten ein zu hoher Stellenwert zukommt, werden seit einiger Zeit von anderen Sicherheitsexperten und einem nicht unbedeutenden Teil des US-Militärs geteilt. Und zwar schon seitdem die Aufstandsbekämpfungsstrategie im Irak (Counterinsurgency, COIN) und ihre Verfechter, die Generäle McCrystal und Petraeus, noch die Nachrichten dominierten. Der Fairness halber sei jedoch gesagt, dass von Staaten ausgehende Bedrohungen nie von der Sicherheitsagenda verschwunden sind. Die Aufmerksamkeit, die dem Iran und Nordkorea zukommt und zugekommen ist, ist ein Beispiel dafür.
Als zweites stellt sich die Frage, ob Terrorismus, organisiertes Verbrechen und Pandemien, die mit instabilen Staaten in Verbindung gebracht werden, nicht auch von entwickelten Staaten ausgehen können. Das tun sie in der Tat. Aber alle drei Erscheinungen entstehen weiterhin auch in instabilen Staaten und finden dort immer wieder einen sicheren Zufluchtsort. Von daher wäre es kurzsichtig, fragile Staaten und die Bemühungen um den Aufbau ihrer staatlichen Strukturen in einem neuen Sicherheitsparadigma als Nebenschauplätze zu behandeln.
Das Argument, die Vereinigten Staaten und Europa sollten instabile Staaten und staatsbildende Maßnahmen abschreiben, scheint auf den ersten Blick eine gewisse Zugkraft zu besitzen.
Drittens steht die Frage im Raum, ob die US-Bemühungen um den Aufbau staatlicher Strukturen in fragilen Staaten im letzten Jahrzehnt wirklich gescheitert sind. Eine objektive Bewertung der Einsätze in Afghanistan und im Irak wird einräumen, dass der enorme Einsatz US-amerikanischen und internationalen Personals und anderer Ressourcen keine adäquaten Resultate gezeitigt hat. Es sind diese beiden Fälle, die die aktuelle Abneigung der meisten US-amerikanischen Entscheidungsträger und eines Großteils der Öffentlichkeit gegenüber neuen großangelegten State-Building-Missionen begründen. Doch zu verweisen ist auch auf weitere Fälle, die weniger bekannt sind. Denn auch die langfristigen Bemühungen internationaler Akteure in Mali, im Süd-Sudan und in Haiti sind weitestgehend fehlgeschlagen. So ist Mazarr in diesem wichtigen Punkt Recht zu geben. Das Argument, die Vereinigten Staaten und Europa sollten instabile Staaten und staatsbildende Maßnahmen abschreiben, scheint auf den ersten Blick eine gewisse Zugkraft zu besitzen.
Ginge es bei dieser Argumentation in Bezug auf fragile Staaten und State Building ausschließlich um so massive Missionen wie im Irak und Afghanistan, wären sie bereits aus der nationalen Sicherheitsplanung der USA gestrichen. In den verteidigungspolitischen Richtlinien der USA von 2012 wurde Missionen dieser Größenordnung für die absehbare Zukunft eine klare Absage erteilt. Die enttäuschenden Ergebnisse im Irak und in Afghanistan zusammen mit knappen Ressourcen haben dazu geführt, dass großangelegte State-Building-Missionen keine politische und öffentliche Unterstützung mehr finden.
Stabilisierung von fragilen Staaten als Teil der Terrorismusbekämpfung
Und doch: Eine Marginalisierung fragiler Staaten und der Bemühungen um den Aufbau ihrer staatlichen Strukturen, wie Mazarr es vorschlägt, wäre ein strategischer Fehler. Warum? Der Kapazitätsaufbau in fragilen Staaten ist von entscheidender Bedeutung für die Verhinderung von Konflikten, für die Stabilisierung nach Konflikten und für die Terrorismusbekämpfung. Die Verhinderung gewaltsamer Konflikte ist ein Kernstück der wichtigsten US-amerikanischen, europäischen und internationalen sicherheitspolitischen Dokumente. Der Terrorismus gehört auch dazu. In seiner Rede vor dem Abschlusslehrgang der Militärakademie West Point am 28. Mai 2014 bezeichnete Präsident Obama den Terrorismus als die größte Bedrohung für die nationale Sicherheit. Vor dem Hintergrund der Neuausrichtung auf einen Kapazitätsaufbau schlug er die Einrichtung eines mit fünf Milliarden USD (knapp 3,7 Mrd. Euro) ausgestatteten Partnerschaftsfonds zur Terrorismusbekämpfung vor. Aus diesem könnte die Ausbildung von Anti-Terror-Kämpfern im Nahen Osten sowie in Afrika finanziert werden. Schon eine frühere Initiative der Obama-Regierung vom April 2013, eine präsidiale Direktive im Rahmen der US-Politik zur Unterstützung im Sicherheitssektor, zielte darauf ab, in Partnerländern Sicherheitsorgane aufzubauen. Damit sollten diese Länder in die Lage versetzt werden, ihre Probleme selbst zu lösen. Das Ziel: Die Notwendigkeit einer US-Intervention zu verringern. Im Großen und Ganzen fußt das Konzept des Kapazitätsaufbaus auf den verteidigungspolitischen Richtlinien des Jahres 2012. In denen heißt es nicht nur, dass die USA sich nicht mehr in großen COIN-Missionen engagieren werde, sondern auch, dass Kapazitätsaufbau in den Partnerländern, Spezialeinheiten, Technologie und Geheimdienste die Säulen der zukünftigen nationalen Sicherheitsstrategie Washingtons seien.
Oben genannte Initiativen konzentrieren sich auf die Stärkung des Sicherheitssektors. Dieser ist zwar ein wesentlicher aber eben auch nur ein Baustein eines funktionierenden Staates. Ebenso wichtig ist die Unterstützung beim Aufbau und/oder bei der Stärkung anderer entscheidender Organe und Institutionen. Andererseits unterstreichen die Misserfolge beim Aufbau staatlicher Strukturen in den vergangenen Jahren die Notwendigkeit einer radikalen Neugestaltung der US-amerikanischen und europäischen Unterstützung für fragile Staaten.
Der New Deal bringt Hoffnung
Der New Deal for Engagement in Fragile States könnte eine vielversprechende Alternative zum traditionellen durch die Geberländer gesteuerten Ansatz bieten. Dieser von fragilen Staaten initiierte neue Referenzrahmen stellt bei allen Aspekten des Transformationsprozesses aus der Fragilität die Führungsrolle und Eigenverantwortung der Nehmerländer in den Vordergrund. Seine Grundprinzipien erinnern an den Marshall Plan. Zu den spezifischen Aspekten des New Deal gehören:
- von den betroffenen Ländern durchgeführte Fragilitätsanalysen
- von den betroffenen Ländern festgelegte Prioritäten
- eine Zukunftsvision – ein Plan. Die Hilfe der Geberländer soll die Prioritäten und die Strategien der betroffenen Länder unterstützen, um die Länder bei der Überwindung der Fragilität effektiver zu unterstützen. Die Zukunftsvision und der Plan werden in einer Umsetzungsagenda (Compact) konkretisiert.
- eine Nutzung und Stärkung der ländereigenen Systeme durch die Geber, um das andauernde Problem der externen Finanzhilfen zu verringern. Denn durch die traditionelle Hilfe entstehen parallele Bereitstellungssysteme, die lokale Kapazitäten untergraben. Stattdessen werden durch diesen neuen Ansatz lokale Kapazitäten aufgebaut.
- Gemeinsam sollen Indikatoren entwickelt werden, mit denen die Fortschritte in Richtung der Peacebuilding and Statebuilding Goals (PSGs) gemessen werden können.
Der New Deal wird gerade in acht fragilen Konflikt-Staaten in einer Pilotphase getestet (Afghanistan, Zentralafrikanische Republik, Demokratische Republik Kongo, Liberia, Sierra Leone, Südsudan, Osttimor und Somalia. Wenn er sich als erfolgreich erweist, wird dieser neue Ansatz ein State-Building-Modell liefern, das nicht nur effektiver, sondern auch kostengünstiger ist als die bisherigen Methoden.
Abschließend lässt sich sagen, dass Mazarrs Artikel uns vor eine falsche Wahl stellt: Eine Wahl zwischen fragilen Staaten auf der einen und Großmächten auf der anderen Seite. Verantwortungsbewusste nationale und internationale Sicherheitsstrategien müssen sich selbstverständlich um beide kümmern. Tatsächlich ist ein Paradigmenwechsel vonnöten, aber einer, der sich von dem von Mazarr propagierten erheblich unterscheidet. Denn wir sollten uns darauf konzentrieren, wie die Geberländer den Staatsaufbau in fragilen Staaten besser unterstützen können. Der New Deal liefert hier eine Vision. Die Geberländer werden weitgehende institutionelle Veränderungen vornehmen müssen, unter anderem in Bezug auf Anreizstrukturen und Personal, um diese Vision Realität werden zu lassen. Die Rekrutierung und Förderung von Länder- und Regionalexperten ist ein wesentlicher erster Schritt.
Es muss darum gehen, eine finanziell bescheidenere Unterstützung zu leisten, die den Prioritäten der Nehmerländer und den in fragilen Staaten vorhandenen Systemen besser zunutze kommt.
Dabei sind die knapper werdenden Ressourcen zusammen mit den Fehlschlägen der Vergangenheit die wichtigsten Verbündeten in dem Versuch, die USA und andere Geberländer zu einem Politikwechsel zu zwingen. Es muss darum gehen, eine finanziell bescheidenere Unterstützung zu leisten, die den Prioritäten der Nehmerländer und den in fragilen Staaten vorhandenen Systemen besser zunutze kommt. Dieser Paradigmenwechsel, kombiniert mit einer angemessenen Aufmerksamkeit für größere Mächte und die Herausforderungen des Klimawandels, wird eine nationale und internationale Agenda hervorbringen, die den sicherheitspolitischen Herausforderungen unserer Zeit tatsächlich gewachsen ist.





2 Leserbriefe
Die US-amerikanische Orientierung auf fragile Staaten lag eine besondere außenpolitische Konstellation zugrunde (Übermut an Macht laut "Foreign Affairs). Dass Militärs die Situation lösen können, war von Anfang an umstritten.
Warum werden Staaten fragil? Eine mögliche Erklärung ist, dass der Staat aufgrund exogener Modernisierungsschocks zerbricht. Klassische Entwicklungshilfe kommt hier an ihre Grenzen. Neue Instrumente und Strategien sind erforderlich: langfristig, nachfragebezogen, innovativ. Manchmal kann man mit wenig Mitteln viel erreichen, manchmal ist die Situation völlig verfahren. Es gibt wohl kein einfaches Rezept.
Dass fragilen Staaten geholfen werden muss, sollte außer Zweifel stehen, denn die Kosten, einen zerfallenden Staat wieder aufzubauen, sind immer viel höher, als den Zerfall zu verhindern. Neben Terrorismus gehört zu den potentiellen Gefahren auch Piraterie (Somalia), Destabilisierung ganzer Regionen (Liberia) oder Flüchtlingsströme nach Implosionen (Jemen).