Drei Tage nach dem Einmarsch der russischen Truppen in die Ukraine stellte Bundeskanzler Olaf Scholz vor dem Deutschen Bundestag am 27. Februar 2022 die Zeitenwende vor. Und prägte damit einen Begriff, der seitdem auch auf dem internationalen Parkett stets zitiert wird. Der Kanzler beschrieb damit eine dramatische Lageänderung für die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik, die folgende Neuausrichtungen notwendig macht: Identifizierung Russlands als Aggressor und damit als Gefahr für die Sicherheit Europas, Ertüchtigung der ukrainischen wie auch der deutschen Streitkräfte, sicherheitspolitische Einigung der EU, Diversifikation der nationalen Energieversorgung sowie verstärkte Anstrengungen zur staatlichen und gesellschaftlichen Resilienz-Bildung.

Und dennoch war im deutschen Informationsraum zu beobachten, dass Akteure in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Medien und Zivilgesellschaft sich mit sehr unterschiedlichen eigenständigen Einordnungen und Positionen in die Öffentlichkeit begaben. Es schien so, als ob zumindest ein nicht unwesentlicher Teil der Entscheidungsträger und der Gesellschaft, trotz der offenkundig als Zäsur markierten Zeitenwende ähnlich weitermachen wollten wie bisher – wie man es aus vermeintlich sicherheitspolitisch ruhigeren Zeiten gewohnt war.

Denn im Kalten Krieg entwickelte sich die Bundesrepublik, ohne außenpolitische Kritik fürchten zu müssen, zu einer veritablen Handelsmacht. Nach dem Ende des Kalten Krieges profitierte das geeinte Deutschland davon, dass sich die EU erweiterte und gleichzeitig die Globalisierung der hochentwickelten deutschen Wirtschaft ungeahnte Wachstumschancen bot. Das sprichwörtliche „Ende der Geschichte“ war wie gemacht für Länder wie Deutschland – eine technologisch innovative Volkwirtschaft, die zudem ausgestattet war mit einem global integrierten dynamischen Finanzmarkt nebst gesunden Institutionen und einer stabilen Währung.

So wurde Deutschland nicht nur eine saturierte Status-quo-Nation, sondern auch eine Export-Supermacht, für die Gewinnmaximierung der Unternehmen und der daraus resultierende Wohlstandszuwachs strategische Maximen darstellten, die Stabilität und damit Frieden sicherten in dieser von allen liberalen Demokratien getragenen Weltordnung. Diese Grundannahmen bildeten den gesellschaftspolitischen Konsens und definierten das sicherheitspolitische Handeln in Deutschland bis zum Regierungswechsel 2021, als Olaf Scholz die Kanzlerschaft als Nachfolger von Angela Merkel antrat.

So wurde Deutschland nicht nur eine saturierte Status-quo-Nation, sondern auch eine Export-Supermacht.

Die Zeitenwende-Rede des Bundekanzlers signalisierte nun deutlich, dass eine für Deutschland notwendige expansive Handelspolitik mit den neuen und schwierigen Gegebenheiten der Außen- und Sicherheitspolitik verbunden werden muss. Freilich liegen dafür weder ein Konsens vor, noch der Ansatz, wie dieser gefunden werden könnte. In der historisch einmaligen Situation nach dem Ende des Kalten Krieges, in der Deutschland sich für gut drei Jahrzehnte von Freunden umzingelt wähnte, konnte die jeweilige Bundesregierung ohne negative politische Konsequenzen außen- und sicherheitspolitisch „auf Sicht“ navigieren. Dieser vor allem reaktive Ansatz ist seit dem 24. Februar obsolet geworden.

Um also „vor die Ereignisse“ zu kommen und Außen- und Sicherheitspolitik zu gestalten, müssen deutsche Entscheidungsträger und die Gesellschaft ihre gemeinsame Verantwortung für das Land und dessen Verpflichtungen wiederentdecken, um grundsätzlich widerspruchsfrei in Wort und Tat zu handeln. Allein die Summe aller Einzelinteressen entspricht nicht dem Allgemeinwohl.

Entsprechend sind folgende drei Überlegungen anzustellen. Erstens: Nationale sowie kollektive Glaubwürdigkeit innerhalb der EU und der NATO sind ein hohes Gut. Nach der klaren Westorientierung von Kanzler Konrad Adenauer war die Ostpolitik unter Kanzler Willy Brandt mit dem Ziel der Wiedervereinigung sowie der Aussöhnung mit Osteuropa zunächst sehr umstritten. Sie entwickelte sich freilich zu einem grundlegenden sicherheitspolitischen Bestandteil deutscher Außenpolitik der folgenden Bundesregierungen und erhielt auch im transatlantischen Bündnis Unterstützung.

Die Fortsetzung dieser Politik, also das Streben nach der Einigung Europas mit der Einbindung Russlands in die europäische und transatlantische Sicherheitsstruktur nach dem Fall der Mauer und dem Zusammenbruch der Sowjetunion, fand ähnliche Unterstützung. So auch im Reset der USA unter Präsident Barack Obama 2009 – zumindest bis zum Ende der Präsidentschaft von Dmitrij Medvedev 2012. Spätestens seit der Annexion der Krim durch Russland war es damit national und international vorbei, die Kritik nahm zu.

Nun, nach dem 24. Februar 2022, bedarf es in Deutschland, europäisch verankert, eines weiteren Anlaufs, eine außen- und sicherheitspolitische Konzeption zu entwerfen, die den neuen Anforderungen und den sicherheits- sowie wirtschaftlichen Interessen Deutschlands gerecht wird – im Verbund der EU und weiterhin transatlantisch gedacht. Dieser Ansatz muss von der Gesellschaft mitgetragen werden.

Die europäische Sicherheit ist nicht mehr nur allein europäisch zu denken.

Keine einfach Aufgabe, denn es existiert keine Blaupause. Weder ist die sicherheitspolitische Unordnung ein zweiter Kalter Krieg noch ist es eine Wiederholung einer anderen historischen Konstellation. Denn die europäische Sicherheit ist nicht mehr nur allein europäisch zu denken. Staaten wie China, Indien oder Brasilien wollen stärker dabei sein, wenn es um das politische Setzen von Normen geht.

Zweitens: Antworten darauf zu finden, setzt Strategiefähigkeit voraus. Sie sollte auf einer kritischen Debatte über das gemeinsame Verständnis darüber basieren, wo Deutschland in der globalen Welt steht und welche außenpolitischen Ziele verfolgt werden – als Nation, als Mitglied von EU und NATO sowie als Staat, der Führung übernehmen möchte.

Drittens: Dafür bedarf es Akteursqualitäten, also Verteidigungsfähigkeit und gleichzeitig das Engagement für globale Diplomatie und Krisenprävention, um das Handlungsspektrum von Kooperation, Wettbewerb und Konflikt mit anderen Akteuren möglichst gewaltfrei und im eigenen sowie im Interesse der Bündnispartner gestalten zu können.

Dem mag kaum jemand widersprechen. Gleichwohl existieren weiterhin Widersprüche, die zwar nicht komplett aufzulösen, wohl aber anzugehen sind. Dazu gehört die Frage, wie eine expansive Handelspolitik erfolgreich vereinbart werden kann mit einer Außen- und Sicherheitspolitik, die vor allem auf der Grundlage von Werten und Normen basieren soll.

Denn ob ein Handel nur mit Gleichgesinnten den Wohlstand Deutschlands und der EU wie auch mehr Sicherheit ermöglichen kann, ist nicht ausgemacht. Ebenso offen ist die Antwort auf die Frage, wie sicher die europäische, aber auch die globale Welt ist, wenn sich diese nun aufteilt in die Blöcke der „Guten“, zumeist Demokraten, und die der „Bösen“, zumeist Autokraten oder gar Diktatoren. Und schließlich werden sich die deutschen Bürgerinnen und Bürger fragen, wie unter diesen konfrontativen Umständen globale Probleme wie Klima, Nahrungsmittelsicherheit, Terrorismus und Migration gemeinsam in der gebotenen Geschwindigkeit angegangen werden können.

Ohne einen gesellschaftspolitischen Konsens bei der Beantwortung dieser Fragen wird die Zeitenwende ein unvollendetes Konzept bleiben. Mit dramatischen Folgen für die Demokratie, den Wohlstand und die Sicherheit in Deutschland und allen anderen Mitgliedstaaten der EU.