Die USA sollten dem chinesischen Vizepremier Wang Yang glauben: China strebt keine Weltvorherrschaft an. Die Beziehung zwischen China und den USA ist heute eines der wichtigsten und kompliziertesten bilateralen Verhältnisse der Welt. Dies erklärt, warum die jüngsten Äußerungen des chinesischen Vizepremiers Wang Yang zum chinesisch-amerikanischen Verhältnis eine rege Internet-Debatteausgelöst haben.

Wang Yang erklärte, China habe „weder die Fähigkeit noch die Absicht, die Vereinigten Staaten herauszufordern“. Wohl auch, weil chinesische Führungspolitiker in Hinblick auf das Verhältnis der beiden Länder nur selten so leise Töne anschlagen und Wangs Bemerkungen nicht recht zur aggressiven chinesischen Außenpolitik der jüngsten Zeit passen wollen, hat sich in den USA eine erhitzte Debatte um die Deutung von Wangs Äußerungen entwickelt.

Die meisten Beobachter sehen seine versöhnlichen Worte mit Skepsis und halten an der Befürchtung fest, dass Peking beabsichtigt, auf Kosten des US-Einflusses eine chinazentrierte Ordnung in Asien zu etablieren. Mit anderen Worten: China will die USA als globalen Hegemon ablösen.

 

Tiefes Misstrauen

Die Reaktionen in den USA illustrieren einmal mehr das tiefe Misstrauen gegenüber den langfristigen Zielen Chinas. Doch diese Skepsis ist unangebracht und für den Frieden und die Stabilität in Asien sogar potenziell gefährlich. Warum? Weil Wang Yang es ernst meinte, als er beteuerte, dass China weder die Ressourcen noch den Wunsch hat, die Vereinigten Staaten herauszufordern. Für die Ernsthaftigkeit seiner Aussage gibt es gute Belege.

Dass nicht nur Chinas Ressourcen begrenzt sind, sondern auch seine Ambitionen, haben viele US-Beobachter noch nicht recht begriffen.

Betrachten wir zunächst Chinas Ressourcen, die einiges hergeben müssten, wollte das Land die Stellung der Vereinigten Staaten infrage stellen. Zwar haben sich die Gesamtressourcen in den letzten drei Jahrzehnten gut entwickelt, doch sind sich so gut wie alle Beobachter in China wie im Ausland einig, dass der Abstand zu den USA noch gewaltig ist; vor allem in den Bereichen Militär und Technik sind die Amerikaner den Chinesen weit voraus. Zwar hat China die USA vermutlich schon 2014 als größte Volkswirtschaft der Welt abgelöst, doch die Qualität der chinesischen Wirtschaft bereitet Peking noch große Sorgen.

Angesichts dieser Kluft wäre es ein schwerer Fehler, wenn China die USA offen herausfordern würde. Das gälte auch dann noch, wenn es China tatsächlich gelänge, mit seinen Gesamtressourcen mit den USA gleichzuziehen: Die beiden Volkswirtschaften wären dann viel enger miteinander verwoben ‒ eine gegenseitige Abhängigkeit, die beiden Ländern Vorteile brächte.

Alles in allem kann unsere Welt auch ohne Hegemon überleben und florieren, sei er nun amerikanisch oder chinesisch.

Dass nicht nur Chinas Ressourcen begrenzt sind, sondern auch seine Ambitionen, haben viele US-Beobachter noch nicht recht begriffen. Es stimmt, dass China die Strategie verfolgt, den „chinesischen Traum“ wahr werden zu lassen ‒ einen Traum, der dem Land wieder Wohlstand, Ruhm und Macht bringen soll ‒, doch das heißt keineswegs, dass es in Asien zum Hegemon aufsteigen oder ein sinozentrisches Tributsystem errichten will, in dem alle kleineren Staaten den Befehlen Chinas zu gehorchen haben.

Vielleicht hält sich diese Wahrnehmung in den Vereinigten Staaten deshalb, weil viele US-Bobachter aus einer ultrarealistischen Perspektive heraus davon ausgehen, dass Staaten ständig und rücksichtslos nach Macht und Einfluss streben. Doch vor dem Hintergrund der seit dem Ende des Kalten Krieges grundlegend veränderten Struktur der internationalen Politik erscheint die weltweite Hegemonie eines Staates aussichtslos, wenn nicht unmöglich. Aufgrund des wachsenden Nationalismus, der Atomwaffen und einer zunehmenden gegenseitigen wirtschaftlichen Abhängigkeit zwischen den Großmächten wiegen in dieser neuen Ära der internationalen Politik die Nachteile einer Hegemonie faktisch schwerer als die Vorteile.

Die chinesische Führung hat diese veränderte Struktur der internationalen Politik erkannt und ausgehend von ihrer Lagebeurteilung beschlossen, keine Vorherrschaft anzustreben, weil sie in der neuen Ära ein Verlustgeschäft wäre.

 

Fixiert auf Hegemonie

Wie Simon Reich und Richard Ned Lebow jüngst aufgezeigt haben, sind die USA leider nach wie vor fixiert auf die Idee (oder die Illusion) einer Hegemonie. Genau diese Mentalität ist dafür verantwortlich, dass es in der Ära nach dem Kalten Krieg mit den USA (langsam) bergab ging. In der irrigen Annahme, eine stabile Weltordnung sei nur unter einer US-Vorherrschaft zu erreichen, verfolgen amerikanische Staatschefs eine Strategie des Interventionismus, die der Wirtschaft und dem globalen Status der USA lediglich selbstverschuldete Wunden zufügt. Die Tragik will es, dass sich diese Fehleinschätzung in den Eliten der USA hartnäckig hält und wohl erst überwunden wird, wenn es zu einer größeren Störung oder Krise kommt.

Alles in allem kann unsere Welt auch ohne Hegemon überleben und florieren, sei er nun amerikanisch oder chinesisch. Je früher die US-Führung dies begreift und den Worten chinesischer Politiker Glauben schenkt, desto besser stehen die Chancen für Frieden und Stabilität in der Welt.

 

Dieser Beitrag ist unter dem Titel „Relax, China Won't Challenge US Hegemony“ in der Zeitschrift The Diplomat erschienen.