Der russische Rock-Dinosaurier Juri Schewtschuk, Frontmann der Band DDT, brachte bei einem Konzert die Stimmung im Saal zum Kochen. „Die Heimat ist nicht der Hintern des Präsidenten, den man küssen muss“, rief er dem Publikum zu und zog sich damit den Zorn der Behörden zu. Wegen „negativer Äußerungen über den Präsidenten“ und angeblicher Diskreditierung der „militärischen Spezialoperation“ wurde Schewtschuk zu einer Geldstrafe verurteilt, seine Konzerte in Russland wurden abgesagt. Seither tritt DDT nur noch im Ausland auf.
Schewtschuk ist kein Einzelfall. Seit Beginn des Ukraine-Kriegs stehen dutzende russische Musikerinnen und Musiker auf den schwarzen Listen des Kremls. Rocklegenden wie Boris Grebenschtschikow und Andrej Makarewitsch, Rap-Stars wie Noize MC, Oxxxymiron oder Face – sie alle haben Russland verlassen. Ihre Songs wurden aus Streamingdiensten gelöscht, sie selbst als „ausländische Agenten“ oder gar als Extremisten stigmatisiert. Wie weit der Arm des Regimes reicht, zeigte der Fall der Band Bi-2: Anfang 2024 wurden die Musiker in Thailand festgenommen – offiziell wegen fehlender Arbeitserlaubnis. Auf Drängen des russischen Konsulats drohte ihnen die Abschiebung nach Russland. Nach tagelangem politischem Tauziehen, an dem russische Oppositionelle im Exil und israelische Diplomaten beteiligt waren, durften sie schließlich ausreisen. Viele fragten sich: Warum dieser Aufwand, um Künstler sogar im Ausland einzuschüchtern, deren größte Hits längst Geschichte sind?
Ein ähnliches Schauspiel wiederholte sich in diesem Herbst, als die Ikone der sowjetischen und russischen Popmusik, Alla Pugatschowa (76), ins Visier der Propaganda geriet. Nach langem Schweigen hatte sie ein YouTube-Interview gegeben, in dem sie sich kritisch über die politische Lage in ihrer Heimat äußerte. Das Gespräch mit der Sängerin, die Russland bereits 2022 verlassen hatte, wurde zu einem kulturell-politischen Ereignis. Die gesamte Propagandamaschinerie stürzte sich auf sie: Duma-Abgeordnete, staatsnahe Künstler und selbst Außenamtssprecherin Maria Sacharowa erklärten pausenlos, Pugatschowa sei alt, niemand interessiere sich mehr für sie, während die Zuschauerzahlen des Interviews stetig wuchsen und Ende Oktober bereits 26 Millionen erreichten.
Doch all das scheint dem Regime nicht genug. Nach den Stars der 1980er und 1990er Jahre sind nun selbst Straßenmusiker an der Reihe. Am 15. Oktober wurde in Sankt Petersburg die 18-jährige Sängerin Diana Loginowa, bekannt unter ihrem Künstlernamen Naoko, zu 13 Tagen Arrest verurteilt – weil sie auf offener Straße Lieder von „ausländischen Agenten“ wie Monetotschka, Semfira und Noize MC gesungen hatte. Der offizielle Vorwurf lautete, sie habe durch ihre Musik „eine Menschenansammlung verursacht“. Videos, in denen junge Leute auf dem Newski-Prospekt mitsingen, verbreiteten sich rasend schnell in den russischen sozialen Netzwerken.
Es geht um den Kampf um die Köpfe und Herzen einer ganzen Generation.
Die Verhaftung Naokos löste eine Welle der Empörung aus – besonders unter russischen Exil-Oppositionellen. Viele sahen in ihr ein Symbol der Hoffnung: Endlich wagt sich die junge Generation, offen gegen Putin und den Krieg aufzustehen. In russischen Medien im Exil wurde Diana als „neuer Typus von Anti-Kriegs-Heldin“ gefeiert. Auf TikTok kursierten Videos, in denen die zierliche Musikerin, die beim Abführen im Gericht ein Herzzeichen formte, mit Alexej Nawalny verglichen wurde. Künstlerinnen und Künstler, deren Lieder sie gesungen hatte, stellten sich hinter sie. Monetotschka schrieb: „Ihr macht uns ein böses Gesicht, doch fürchtet selbst Gitarren und Lieder.“
Ein Foto, auf dem ein bulliger Polizist der zierlichen Sängerin Handschellen anlegt, wurde zum Symbol. Der Kreml wirkt in dieser Szene grotesk: ein Staat, der seine ganze Macht gegen eine junge Frau mit Gitarre richtet. Und doch kann die Regierung nicht tatenlos bleiben – denn es geht um mehr als nur Musik. Es geht um den Kampf um die Köpfe und Herzen einer ganzen Generation. Naoko wurde 2007 geboren, ihre Zuhörer sind kaum älter als sie. Diese Jugendlichen kennen keine andere Realität als diejenige Putins. Sie leben in einem Land, in dem man inzwischen gefahrlos nur noch patriotische Hymnen singen darf – Lieder wie die des Sängers Schaman, der mit Songs wie „Ich bin Russe“ oder „Lasst uns aufstehen“ zum Liebling der Propaganda geworden ist. Alles andere gilt als verdächtig. Songs von „ausländischen Agenten“ zu singen, ist zu einem realen Risiko geworden.
Doch kann man das Schwenken von Handys im Takt verbotener Musik wirklich als Antikriegsdemonstration bezeichnen? Bis zum 15. Oktober 2025 lebte die Mehrheit der jungen Russinnen und Russen in einer Komfortblase: Sie hörten die verbotenen Künstler zu Hause oder über Kopfhörer – oft ohne überhaupt zu wissen, dass es sich um verbotene Musik handelte. In den meisten Fällen blieb das ohne Folgen. Doch nun wurde eine einfache Straßenperformance zur „staatsfeindlichen Aktion“, und die Kette der Repression setzte sich in Gang. Der friedliche Versuch, ein Stück privaten Raums zu bewahren, wurde plötzlich zum „Verbrechen“. Junge Petersburger mussten am eigenen Leib erfahren, dass heute selbst die Wahl eines Songs zum Verhör führen kann. In einem Interview mit der unabhängigen Online-Zeitung Bumaga hatte Naoko noch im Sommer gesagt: „Ich habe Angst, aber meine Hände tun es trotzdem. Kunst ist heute der einzige Weg, in Russland zu sagen, was man denkt.“ Nun weiß sie: Selbst dieser Weg wird blockiert.
Der Kreml scheint überzeugt, dass ein paar Gitarrenakkorde genauso gefährlich sein können wie eine laute Demonstration.
Der Fall Naoko hat zwei Phänomene offengelegt. Erstens wurde die panische Angst der Macht vor jeder unkontrollierten Stimme für die ganze Welt sichtbar. Der Kreml scheint überzeugt, dass ein paar Gitarrenakkorde genauso gefährlich sein können wie eine laute Demonstration. Der Staat verfolgt junge Menschen, die sich bislang unpolitisch gaben, die vielleicht bloß „genervt“ waren von „Opa“, wie sie Putin nennen. Nun treibt der Machtapparat sie genau in jene Opposition, die er fürchtet. Er lehrt sie: Im heutigen Russland kannst du nicht einmal deine Playlist selbst bestimmen.
Zweitens zeigt sich die innere Zerrissenheit der jungen Generation. Für viele waren die Lieder verbotener Künstler kein Protest, sondern Teil ihres Alltags. Doch nun ist das Hören dieser Songs zum Akt des Widerstands geworden. So zu tun, als wäre alles normal, funktioniert nicht mehr. Ein fragiles Gefühl innerer Freiheit entsteht, und genau das versucht der Staat zu zerstören.
Nach Naokos Verhaftung befragte Bumaga andere Straßenmusiker, ob sie aus Solidarität mit ihr auftreten würden. „Mir egal. Ich singe einfach gern auf der Straße“, sagte einer. Doch wie lange bleibt selbst Gleichgültigkeit noch unbestraft? Viele berichteten, dass die Polizei inzwischen aggressiver vorgeht, Ausweise kontrolliert und mit Abschleppungen droht. Kein Wunder, die Beamten wollen sich selbst absichern: Denn was passiert, wenn sie nicht hart genug durchgreifen? Gleichzeitig tauchen in russischen sozialen Medien immer mehr Videos auf, in denen junge Leute in verschiedenen Städten verbotene Lieder singen – einige von ihnen werden festgenommen.
Parallel treibt das Regime seine Zensur weiter voran. Ein neues Gesetz gegen die „Propaganda von Drogen“ trifft vor allem den Rap: Schon metaphorische Anspielungen können zu Strafverfahren führen. Der russische Rap, einst die Stimme der Straße, verliert seine Ehrlichkeit. Obwohl das Gesetz erst im März 2026 in Kraft tritt, überarbeiten Musiker schon jetzt ihre Texte, löschen Songs oder ganze Alben. Sie hoffen, sich durch Selbstzensur vor dem allgegenwärtigen Leviathan schützen zu können. Doch in einem Land, in dem jedes Wort politisch gedeutet werden kann, ist Selbstzensur keine Rettung. Sie macht die Kunst nur leblos.
Heute fürchtet die russische Macht weniger den Klang der Musik als den freien Willen, sie zu wählen. Die Verhaftung einer 18-Jährigen wegen einiger Lieder sagt viel über den Zustand des Landes aus: Das Regime verliert die Kontrolle über jene, die es einst für unpolitisch hielt, und zieht die Schrauben immer fester an. Eines Tages könnte das Gewinde tatsächlich brechen. Doch noch ist es nicht so weit.




