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Die provokativen Paukenschläge des französischen Präsidenten irritieren. Ob beim NATO-Jubiläum oder beim EU-Gipfel im Dezember – es besteht Gesprächsbedarf. Vor dem „Hirntod“-Diktum über die nordatlantische Allianz blockierte Macron im Oktober die lange angestrebten EU-Beitrittsverhandlungen Nordmazedoniens und Albaniens mit kaum weniger drastischen Worten. Die EU sei in ihrem gegenwärtigen Zustand nicht in der Lage, auch nur ein einziges neues Mitglied aufzunehmen, weil es sie schwächen würde.

Macrons Veto sandte Schockwellen durch die Länder des westlichen Balkans. Sie befürchten das Ende ihrer Bestrebungen, der EU noch in diesem Jahrhundert angehören zu können. Auch unter den EU-Mitgliedern war und ist der französische Alleingang höchst umstritten.

Rechtzeitig zum europäischen Gipfeltreffen zirkuliert nun ein französische Non-Paper, das sich für eine Reform des Beitrittsprozesses ausspricht. Die gute Nachricht: Obwohl Macron die Union in ihrer gegenwärtigen Form nicht fit für weitere Mitglieder hält, setzt das Papier auf eine Fortsetzung der Beitrittspolitik.

Das Unwohlsein mit dem bisher praktizierten Aufnahmeverfahren ist nicht neu, und auch nicht beschränkt auf Frankreich. Schon seit längerem fragen sich selbst eingefleischte Anhänger der EU, ob man einfach so weitermachen kann wie bisher. Vor allem der Glaube an die große „Theory of Change“ – die Annahme, das Beitrittsversprechen entfalte bei den Kandidaten eine irreversible Transformationskraft in Richtung Marktwirtschaft, Demokratie und rechtsstaatlich organisierter Gesellschaften – ist brüchig geworden. Die politischen Entwicklungen der Kandidaten, aber auch in mehreren Mitgliedsländern, haben diese Zweifel verstärkt. Zudem zeigt sich das komplizierte Gerüst der EU, auf Gleichberechtigung und Interessenausgleich ausgerichtet, in Zeiten nationalistischer Populismen zunehmend angreifbar von innen.

Eine erweiterte EU, die nicht mehr handlungsfähig ist, wäre tatsächlich der GAU für die europäische Ordnung und Europas Stellung in der Welt.

Eine erweiterte EU, die nicht mehr handlungsfähig ist, wäre tatsächlich der GAU für die europäische Ordnung und Europas Stellung in der Welt. Dies kann weder im Interesse der heutigen noch ihrer künftigen Mitglieder liegen – Unterwanderer ausgenommen. Deshalb erteilt Frankreich mit seinem Vorschlag auch einem geopolitisch motivierten Druck, Neuaufnahmen zu beschleunigen und entsprechend Abstriche an den Beitrittskriterien zu machen, eine deutliche Absage.

Doch aus dieser Sorge heraus den Beitrittsprozess ganz abzusagen, würde beträchtlichen Flurschaden verursachen. Dabei geht es nicht nur um Ansehen und Glaubwürdigkeit der Union, die den Ländern des westlichen Balkan auf ihrem Thessaloniki-Gipfel 2003 die Beitrittsoption versprochen hat. Die EU würde sich auch ihrer wichtigsten Chance berauben, die europäische Friedensordnung in der Region nachhaltig zu festigen.

Dieses Manko würden auch einige der jüngst ins Spiel gebrachten Alternativvorschläge nicht ausgleichen – im Gegenteil. Sei es eine „Umleitung“ der Kandidaten in den bereits bestehenden Europäischen Wirtschaftsraum (Gerald Knaus von der European Stability Initiative) oder in einen neu zu gründenden Europäischen Politik- und Wirtschaftsraum (Barbara Lippert von der Stiftung Wissenschaft und Politik) – beide Vorschläge würden die Beitrittsperspektive für den westlichen Balkan hier und heute beerdigen.

Der größte Sprengstoff des Papiers verbirgt sich in einem Halbsatz. Ein effektiver Beitritt soll nämlich auch unter den neuen Regeln nur dann möglich sein, wenn sich die EU auch intern reformiert hat.

Das französische Non-Paper propagiert demgegenüber, den Beitrittsprozess neu zu regeln. Der europäische Gipfel soll dazu die Kommission beauftragen, bis Januar 2020 ein entsprechendes Konzept auszuarbeiten – bevor über weitere Beitrittsgespräche entschieden wird. Die Reform soll auf vier Prinzipien gründen: graduelle Assoziierung, stringentere Konditionen, Anreize durch konkretere Vorteile im Verlauf des Prozesses und die Option zu sanktionierenden Schritten.

Die Aspiranten sollen aufeinander aufbauende Beitrittsstufen durchlaufen, deren Abschluss an klarere, überprüfbare Bedingungen gebunden wäre – im Fall der Rechtsstaatlichkeit an „nachhaltige, irreversible“ Fortschritte. Grundsätzlich neu wäre die Möglichkeit, sie im Prozess zurückzustufen und bereits gewährte Vorteile der Heranführungspolitik zu entziehen, wenn sie bestimmte Kriterien nicht mehr erfüllen können oder wollen. Gleichzeitig sollen die Aspiranten stärker politisch begleitet werden, sowohl durch die Kommission als auch durch den Europäischen Rat.

Der größte Sprengstoff des Papiers verbirgt sich in einem Halbsatz. Ein effektiver Beitritt soll nämlich auch unter den neuen Regeln nur dann möglich sein, wenn sich die EU auch intern reformiert hat. Der Vorschlag enthebt die Länder des Westbalkans also nicht der Sorge, am Ende könnte es an einer reformmüden EU doch noch scheitern. Doch dieses Risiko besteht schon heute.

Das französische Non-Paper versucht also die Quadratur des Kreises: das Beitrittsversprechen für die Länder des Westbalkan aufrecht zu erhalten und gleichzeitig Druck auszuüben, die EU-internen Reformen nun auch anzugehen.

Hier zeigt sich die taktische Natur des Macron'schen Paukenschlags. Zu oft wurde in der Vergangenheit zugestanden, die EU müsse sich den Herausforderungen einer wachsenden Union in einer komplexeren Welt durch interne Reformen stellen – und dann passierte nur wenig. Dafür gibt es durchaus nachvollziehbare Gründe. Gerade weil die Interessen bei jeder Veränderung mühsam neu ausbalanciert werden müssen und, siehe europäische Verfassung, dies auch spektakulär scheitern kann, neigt der Staatenverbund zum Erhalt des Status Quo. Doch die Hoffnung, „irgendwie“ würde sich schon alles einpendeln, schwindet.

Das französische Non-Paper versucht also die Quadratur des Kreises: das Beitrittsversprechen für die Länder des Westbalkan aufrecht zu erhalten und gleichzeitig Druck auszuüben, die EU-internen Reformen nun auch anzugehen. Ob es in der Praxis funktionieren würde, Beitrittskandidaten auch zurückzustufen, müsste sich zeigen. Aber es ist einen Versuch wert. Dass ein neu gestalteter Prozess die Dauer der Aufnahmeverhandlungen verlängern würde, ist wahrscheinlich. Für die Beitrittskandidaten scheint dies zunächst eine schlechte Nachricht. Doch der Weg ist das Ziel – transformationspolitisch gesprochen. Es ist besser, länger zu verhandeln als den Verhandlungsbeginn weiter zu verschleppen.

Die deutsche Außenpolitik hält zu Recht an der Beitrittsperspektive für den westlichen Balkan fest. Mit dieser starken Botschaft im Tornister sollte Deutschland – trotz aller Verstimmung über den Alleingang – auf Frankreich zugehen, ein qualifiziertes „Oui“ zum „Non“-Paper aussprechen und die angestrebte Reform in diesem Sinne mitgestalten.