Viele Deutsche vertreten die Auffassung, dass stets ein ausgeglichener Haushalt angestrebt werden müsse. Das zeigt sich in der Einführung der Schuldenbremse 2009 – und im Streben nach möglichst hohen Außenhandelsüberschüssen, damit Deutschland Exportweltmeister bleibt. In Frankreich herrscht dagegen weitgehend Einigkeit, dass ein solcher Ansatz irrational und letztlich nicht nur für die EU, sondern auch für Deutschland selbst schädlich sei. Deutschlands Besessenheit von Exportüberschüssen hat zudem eine übermäßige Abhängigkeit von China und den USA geschaffen. Das schwächt Deutschland heute wirtschaftlich wie geopolitisch – und damit auch Europa. Der Wunsch nach ständigen Überschüssen bedeutet in letzter Konsequenz, auf Investitionen im eigenen Land und die Verbesserung der Lebensbedingungen zu verzichten, obwohl die Mittel vorhanden wären.

Wenn Deutsche nach Frankreich blicken, fragen sie oft, warum dort höhere öffentliche Ausgaben getätigt werden. Der Grund liegt in der Geschichte: Frankreich gehört aufgrund des Erbes der Französischen Revolution zu den Ländern, in denen Gleichheit am stärksten gewichtet wird. Zugleich weist es – bedingt durch die extreme Macht- und Reichtumskonzentration in Paris – große regionale Ungleichheiten auf. Das ist das Gegenteil von Deutschland oder Italien, wo Wohlstand auf viele regionale Metropolen verteilt ist. Auch beim Primäreinkommen, also bei den direkten Markteinkommen, ist Frankreich eines der ungleichsten Länder Europas. Ursachen sind die historisch schwache Gewerkschaftsbewegung und schwache Tarifverhandlungen. Da Paris diese doppelte regionale und soziale Ungleichheit kennt, versucht der Staat gegenzusteuern. Umfassende öffentliche Umverteilung ist daher notwendig. Die französische Rechte verspricht in der Opposition stets Ausgabenkürzungen. In der Praxis setzt sie das nie um – nicht zuletzt, weil gerade die ländlichen Regionen, ihre Hochburgen, von Umverteilung profitieren.

In Deutschland herrscht die Meinung vor, Frankreich sei in Fragen der Haushaltsdisziplin stets lax gewesen. Das stimmt nicht.

In Deutschland herrscht die Meinung vor, Frankreich sei in Fragen der Haushaltsdisziplin stets lax gewesen. Das stimmt nicht. Bis 2009 verlief die Verschuldung sehr ähnlich zur deutschen, beide lagen unter dem europäischen Durchschnitt. Erst mit der Finanzkrise kam es zu einer Divergenz: Die französische Staatsverschuldung stieg sprunghaft an, während die deutsche zurückging – mit all den negativen Folgen, die wir gerade beobachten. Mit der derzeit dritthöchsten Staatsverschuldung, hinter Griechenland und Italien, und angesichts einer Herabstufung durch die Ratingagenturen ist die Lage zweifellos ernst. Dennoch ist sie nicht so dramatisch, wie oft in den deutschen Medien behauptet wird: Frankreich ist nicht das Griechenland der frühen 2000er Jahre und es besteht keine Gefahr, dass es in naher Zukunft vom Internationalen Währungsfonds unter Zwangsverwaltung gestellt wird. Warum? Selbst wenn die Zinssätze steigen, bleiben die konkreten Auswirkungen auf die Schulden begrenzt. 2024 lag der durchschnittliche Zinssatz für Staatsanleihen bei 1,9 Prozent – deutlich niedriger als Anfang der 2000er. Auch die Zinszahlungen sind mit 2,1 Prozent des BIP geringer als 1998 (3,6 Prozent). Zwar steigen beide Kurven rapide, doch eine akute Krise ist nicht in Sicht.

Die Außenhandelsbilanz Frankreichs weist keinen so hohen Überschuss aus wie die Deutschlands, aber auch kein so hohes Defizit wie Griechenland im Jahr 2008. Was Länder wie Griechenland, Argentinien oder andere in den Bankrott trieb und was sie zwang, sich an den IWF zu wenden, war immer die Kombination aus einem erheblichen öffentlichen Defizit mit einem erheblichen Außenhandelsdefizit. Innerhalb dieser Länder gab es keine ausreichenden Sparpotenziale mehr, um die Zinsen zu bedienen und die Schulden zurückzuzahlen. Dies ist im heutigen Frankreich überhaupt nicht der Fall. Es gibt reichlich private Ersparnisse, auf die der Staat zurückgreifen könnte, wenn sich die Lage hinsichtlich der Staatsverschuldung auf den Finanzmärkten zu sehr zuspitzen sollte. Und die Finanzakteure wissen das.

Es ist dennoch unbestritten, dass die französischen Defizite schnell abgebaut und dass die Staatsverschuldung stabilisiert werden muss. Das bestreitet in Frankreich auch niemand grundsätzlich. Um zu einer gemeinsamen Entscheidung zu kommen, wie dies geschehen soll, muss man sich allerdings zunächst über die Gründe für die derzeitige Fehlentwicklung einig werden. Wie bereits erwähnt, geht die Divergenz zu Deutschland auf die Finanzkrise von 2009 zurück. Seitdem gab es drei Präsidenten: Nicolas Sarkozy, François Hollande und Emmanuel Macron.

Der konservative Sarkozy erhöhte während seiner Amtszeit das Staatsdefizit um 2,2 Prozentpunkte, indem er die Ausgaben mehr als die Einnahmen steigerte. Der sozialdemokratische Hollande hat dieses Defizit in den Folgejahren um 1,8 Prozentpunkte reduziert, was zu seiner großen Unbeliebtheit beitrug. Der liberale Macron hat mit 2,4 Prozentpunkten des BIP das Staatsdefizit noch stärker erhöht als Sarkozy, indem er vor allem die Einnahmen senkte. Mit anderen Worten: In der jüngsten Vergangenheit waren es eindeutig die von Emmanuel Macron beschlossenen massiven Steuersenkungen und Sozialabgabensenkungen, die zu einer Verschlechterung der französischen Staatsfinanzen geführt haben: Sie kosten den französischen Staat jedes Jahr 90 Milliarden Euro.

In Frankreich sind es in Wirklichkeit immer die linken Regierungen, die die Defizite reduzieren.

In Frankreich sind es in Wirklichkeit immer die linken Regierungen, die die Defizite reduzieren, wie es François Hollande zwischen 2012 und 2017 und vor ihm Lionel Jospin um die Jahrtausendwende getan haben. Die rechten Regierungen hingegen vergrößern sie, weil sie es immer vorziehen, Geld von den Reichen zu leihen, anstatt sie Steuern zahlen zu lassen. Trotz dieser recht objektiven Diagnose schlug der vormalige Premierminister François Bayrou vor, das Defizit nur durch eine Senkung der öffentlichen Ausgaben zu reduzieren, ohne insbesondere eine Erhöhung der Einkommens- oder Vermögenssteuern für die Wohlhabendsten vorzuschlagen. Aus diesem Grund verweigerte ihm eine große Mehrheit in der Nationalversammlung das Vertrauen und er musste zurücktreten, bevor er seinen Haushaltsentwurf einbringen konnte.

Heute dreht sich die Debatte in erster Linie um das Tempo der Anpassung, wobei die Rechte ein schnelles Tempo befürwortet mit einer Senkung des Defizits ab 2026 auf drei Prozent im Jahr 2029 (gegenüber den für dieses Jahr erwarteten 5,6 Prozent). Die Linke spricht sich für eine langsamere Anpassung aus. Die andere wichtige Debatte dreht sich um die Besteuerung der Wohlhabendsten und wie man das angeht. In Frankreich haben sich die Einkommens- und Vermögensunterschiede in den letzten Jahren stark vergrößert, vor allem zugunsten des reichsten einen Prozents. Diesem fällt es zudem leicht, sich durch Steueroptimierung und Schlupflöcher der Besteuerung gänzlich zu entziehen. Vor diesem Hintergrund schlägt die Linke eine sogenannte Zucman-Steuer vor, benannt nach dem Ökonomen Gabriel Zucman. Dabei handelt es sich um eine Mindeststeuer von zwei Prozent für Vermögen über 100 Millionen Euro, was lediglich 1 800 Superreichen-Haushalte in Frankreich beträfe.

Gabriel Zucman und die Linke erwarten von dieser singulären Maßnahme Einnahmen in Höhe von 25 Milliarden Euro pro Jahr. Andere Ökonomen schätzen diese eher auf fünf Milliarden Euro, insbesondere aufgrund der Kapitalflucht, die diese Steuer nach sich ziehen könnte. Auch ist die Vereinbarkeit dieser Steuer mit der französischen Verfassung umstritten. Eine Alternative wäre die Wiedereinführung der Solidaritätssteuer auf Vermögen, die in Frankreich seit den 1980er Jahren bestand und von Macron 2017 abgeschafft wurde. Sébastien Lecornu, der von Macron eingesetzte neue Premierminister, hat sich jedoch gerade öffentlich gegen diese beiden Möglichkeiten ausgesprochen und riskiert damit, wie seine beiden glücklosen Vorgänger, ebenfalls in den kommenden Wochen aus dem Amt gewählt zu werden.

Eine Sanierung der öffentlichen Finanzen Frankreichs, so viel ist sicher, wird nicht gelingen, solange sich die Anstrengungen nicht prioritär auf die Generierung von Einnahmen richten. Und wenn diese Mehreinnahmen nicht in erster Linie mit Abgaben von Unternehmen und Hochvermögenden gesammelt werden. Wenn die neoliberale Macron-Fraktion weiterhin nicht bereit ist, von ihren Grundsätzen abzuweichen und mit der französischen Linken zu verhandeln, ist zu befürchten, dass es nur der Rassemblement National sein wird, der aus der anhaltenden politischen Blockade Kapital schlagen kann.