Was ist derzeit die größte antieuropäische Plage? Viele würden an dieser Stelle wohl den Populismus oder den Nativismus nennen. Während Ersterer einfache Lösungen für komplexe Probleme verspricht, steht Letzterer für Bewegungen, welche die Rechte der einheimischen Mehrheit betonen und sich gegen Zuwanderung oder Minderheiten richten. Aus meiner Sicht ist jedoch der sogenannte „Souveränismus“ ein noch gravierenderes Problem. Er beschreibt den Wunsch von EU-Staaten, auf eigene Faust und notfalls gegen die Präferenzen der übrigen Mitglieder zu handeln – und verhindert damit, dass Europa die großen Herausforderungen dieses Jahrhunderts wirksam angeht. Diese sind offenkundig transnationaler Natur: von der Finanz- über die Migrations- und die Corona-Krise bis hin zur durch Russland ausgelösten Sicherheitskrise. Keine einzige davon konnte oder kann ein einzelner Staat allein bewältigen.

Wenn Regierungen sich als unfähig oder gar machtlos erweisen, suchen die Bürger nach Sündenböcken, denen sie die Schuld für ihr Elend geben können – und hoffen auf Wunder, die ihr Leben verbessern. Das erklärt den Erfolg von Populismus und Nativismus: Sie sind nicht die Ursache, sondern das Symptom einer tieferliegenden Malaise. Eigentlich wäre zu erwarten, dass sich liberale Politikerinnen und Politiker dem Souveränismus und dessen einfachen Antworten entgegenstellen. Doch sie beschränken sich meist auf die Kritik an Populismus und Nativismus. Populismus gilt als gefährlich, Nativismus als offen rassistisch. Der Souveränismus dagegen stößt selbst bei Liberalen oft auf Zustimmung. Warum? Die Antwort darauf hängt eng mit unserem gegenwärtigen Demokratiemodell und der europäischen Integration zusammen.

Der Nationalstaat bleibt der zentrale Ort der Demokratie – wo das Volk, ob in Frankreich, Deutschland oder den Niederlanden, souverän entscheidet und frei von äußeren Einflüssen sein soll. Die europäische Integration war nach den Verwüstungen zweier Weltkriege von Beginn an darauf ausgelegt, die Nationalstaaten zu bewahren, nicht darauf, sie abzuschaffen. Aus diesem Grund hat der Rat der Europäischen Union, in dem die Staats- und Regierungschefs zusammenkommen, und nicht die Kommission oder das Parlament, bei allen wichtigen Entscheidungen das letzte Wort. An dem Tisch, an dem über Europas Zukunft entschieden wird, sitzen letztlich nur Vertreter der Nationalstaaten, die verpflichtet sind, ihre jeweiligen nationalen Interessen zu verteidigen. Manche glauben fest an die Souveränität ihrer Länder, andere agieren zurückhaltender. Doch keiner von ihnen möchte sich von der Kommission oder anderen Mitgliedstaaten unter Druck setzen lassen.

Wenn die Nationalstaaten die zentralen Akteure im EU-Geschehen sind – warum versprechen dann so viele Politikerinnen und Politiker, die Entscheidungsmacht von Brüssel „zurück“ in ihre Hauptstädte zu holen? Sie tun es, weil es bequem ist, die Brüsseler Eurokraten für die eigenen Versäumnisse verantwortlich zu machen – sei es bei der Regulierung von Migration, beim Kampf gegen steigende Schulden, Finanzspekulation, Klimawandel, Sicherheitslücken und ausländische Desinformationskampagnen. Diese Kritik ist substanzlos: Das Vereinigte Königreich hat die EU vor einigen Jahren verlassen, und keines dieser Probleme ist auf der Insel verschwunden – im Gegenteil, sie haben sich sogar noch verschärft.

Nach den Erfahrungen mit dem Brexit will heute kein Staats- oder Regierungschef auf dem Kontinent die EU verlassen. Stattdessen versuchen viele, sie in einen losen Zusammenschluss autonomer Staaten zu verwandeln – mit wenigen bis gar keinen Auflagen aus Brüssel. Diese Politik wird nicht nur von Figuren wie Viktor Orbán oder Geert Wilders betrieben. Auch vermeintlich liberale und proeuropäische Politiker wie Polens Ministerpräsident Donald Tusk oder Bundeskanzler Friedrich Merz beteiligen sich an diesem souveränistischen Spiel. Wie sonst ließe sich die Wiedereinführung von Grenzkontrollen zwischen Deutschland und Polen erklären? Und ist Ihnen schon aufgefallen, wie oft gerade diese angeblich europäisch denkenden Regierungschefs von der Verteidigung ihrer egoistischen nationalen Interessen sprechen, wenn es um Sicherheit, Migration oder Wirtschaft geht?

Den Souveränisten ist es gelungen, zentrale Vorhaben wie die grüne Agenda oder den Migrationspakt zu verwässern, wenn nicht sogar ganz zu stoppen.

Hier zeigt sich ein Paradoxon: Je offensichtlicher die Nationalstaaten daran scheitern, transnationale Entwicklungen und die disruptiven Folgen wechselseitiger Abhängigkeiten zu bewältigen, desto hartnäckiger pochen ihre Politiker darauf, ihren eigenen Weg zu gehen – und ignorieren dabei Institutionen wie die Vereinten Nationen, die Welthandelsorganisation, die Weltgesundheitsorganisation und sogar die EU. Der einzige Akteur, den sie nicht ignorieren, sind die USA, regiert vom unberechenbarsten, transaktionsgetriebensten und gierigsten Präsidenten in der Geschichte dieses großen Landes.

Die Europäische Union steckt derzeit in einer schwierigen Lage. Den Souveränisten ist es gelungen, zentrale Vorhaben wie die grüne Agenda oder den Migrationspakt zu verwässern, wenn nicht sogar ganz zu stoppen. Zwar spricht die EU viel über ihre neue Rolle im Sicherheitsbereich, doch in der Praxis sind die Fortschritte minimal. Die Mitgliedstaaten haben lediglich zugesagt, mehr Geld für den Kauf amerikanischer Waffen auszugeben, die jedoch nur mit Zustimmung der USA eingesetzt werden können, wie die Ukraine kürzlich erfahren musste.

Selbst die „Koalition der Willigen“, die sich einem aggressiven Russland entgegenstellen soll, ist von gegenseitigem Misstrauen, Ressourcenmangel und Abhängigkeit von Uncle Sam geprägt. Diese Entscheidungsunfähigkeit, die zu halbherzigen, oft nur kosmetischen Lösungen für wachsende Probleme führt, ist nicht neu. Ein ähnliches Muster zeigte sich bereits in früheren Krisen, als nationale Alleingänge eine gemeinsame europäische Antwort verhinderten. Optimisten mögen einwenden, dass diese Alleingänge immerhin nicht mehr zu Kriegen zwischen europäischen Staaten führen. Angesichts der derzeitigen Lage der Union ist es jedoch wohl nur eine Frage der Zeit, bis der Hobbes’sche Geist wieder in Europa Einzug hält, genährt durch interne Konflikte und äußere Einflussnahme.

Was also kann getan werden, um die Zukunft Europas und seiner verunsicherten, desorientierten und zunehmend verarmenden Bürgerinnen und Bürger zu sichern? Die Antwort ist bekannt: Europa muss endlich zu einem föderalen Superstaat werden. Oder, wie Josep Borrell, Guy Verhofstadt und Domènec Ruiz Devesa es kürzlich formulierten: „Wir müssen eine echte föderale Union werden, die endlich von den Zwängen der Einstimmigkeitspflicht befreit ist und mit Kompetenzen in der Außen- und Sicherheitspolitik ausgestattet ist.“ Doch das ist leichter gesagt als getan, zumal in einer Zeit, in der das Versprechen, zum stolzen und souveränen Nationalstaat zurückzukehren, ein bewährtes Rezept für Wahlerfolge ist. Eine Föderation von Souveränisten aber ist ein Widerspruch in sich.

Auch liberale Regierungschefs in Europa sehen ihre Staaten als die stärkeren und besser legitimierten Akteure und lehnen eine Föderation entsprechend ab. Doch man muss fragen: Sind die Nationalstaaten heute überhaupt noch in der Lage, ihre traditionellen Aufgaben in Bereichen wie der Sozial-, der Währungs- oder der Verteidigungspolitik zu erfüllen? Und ist die Demokratie in den Nationalstaaten tatsächlich stark genug, um tragfähige Legitimität zu schaffen? Daran habe ich erhebliche Zweifel.

Die EU richtet sich in erster Linie nach den Bedürfnissen der Mitgliedstaaten und behandelt NGOs, Regionen und Städte eher wie Kunden denn als unverzichtbare Partner.

Studien zeigen, dass die demokratische Legitimität unserer Staaten einen historischen Tiefpunkt erreicht hat. Eine kürzlich von der Sciences Po durchgeführte Umfrage ergibt, dass nur 26 Prozent der Franzosen der Politik vertrauen, während 71 Prozent der Meinung sind, die Demokratie in ihrem Land funktioniere nicht gut. Eine andere Erhebung zeigt, dass sich mehr als die Hälfte der Europäer vorstellen kann, den klassischen Gesetzgeber durch eine KI zu ersetzen. Auch die Fähigkeit der Staaten, gesellschaftliche und wirtschaftliche Probleme wirksam zu lösen, befindet sich auf einem historischen Tiefpunkt, mit nur geringen Unterschieden zwischen den einzelnen Ländern.

Die öffentlichen Dienste vieler Länder stehen kurz vor dem Kollaps. Regierungen rühmen sich damit, ihre Grenzen gegen Migranten zu verteidigen, doch die verfügbaren Daten stützen diese Behauptung kaum. Ebenso offensichtlich ist, dass keiner der europäischen Staaten in der Lage wäre, sich wirksam gegen ein wiedererstarktes Russland zu verteidigen oder entscheidenden Einfluss auf die schwelenden Konflikte an Europas Südflanke, im Nahen Osten oder in Nordafrika zu nehmen.

Damit soll nicht behauptet werden, Staaten seien völlig nutzlos, geschweige denn, dass sie im Verschwinden begriffen wären. Doch sie sind weder so leistungsfähig noch so demokratisch, wie sie selbst behaupten. Nicht nur die EU, sondern auch Städte, Regionen und zahlreiche Nichtregierungsorganisationen in Europa können oft eine bessere Bilanz bei der Bereitstellung öffentlicher Güter vorweisen, selbst in sensiblen Bereichen wie Migration, Sicherheit und Diplomatie. Zudem genießen diese nichtstaatlichen Akteure ein höheres Maß an Vertrauen als die Nationalstaaten.

Eine Eurobarometer-Umfrage vom Frühjahr 2025 zeigt: 52 Prozent der Europäerinnen und Europäer vertrauen der EU, aber nur 36 beziehungsweise 37 Prozent ihrer nationalen Regierung beziehungsweise ihrem Parlament. Schon die Erhebung des Vorjahres hatte ergeben, dass rund 60 Prozent der Menschen in der EU Vertrauen in ihre regionalen oder lokalen Behörden haben. Was also rechtfertigt das Quasi-Monopol der Staaten auf Entscheidungen und Ressourcen? Vielleicht sollten wir die Staaten endlich dazu drängen, ihre Souveränität und ihre Mittel nicht nur mit der EU, sondern mit einer breiteren Gruppe von Akteuren zu teilen, die ich als die „fünfte Gewalt der Demokratie“ bezeichnen würde. Vielleicht ist es an der Zeit, den abstrakten Begriff der europäischen Mehrebenen-Governance Wirklichkeit werden zu lassen.

Das Problem ist, dass diese fünfte Gewalt zersplittert und unkoordiniert ist. Zudem fehlt ihr eine gemeinsame Stimme. Die EU richtet sich in erster Linie nach den Bedürfnissen der Mitgliedstaaten und behandelt NGOs, Regionen und Städte eher wie Kunden denn als unverzichtbare Partner. Einige Regionen agieren beinahe wie eigenständige Staaten, andere konzentrieren sich vor allem darauf, mehr Geld aus Brüssel zu erhalten. Städte hingegen sind weniger an Souveränitätsspielen interessiert, doch ihre Anliegen sind meist praktischer als politischer Natur, eher lokal als europäisch orientiert.

Macht wird selten freiwillig abgegeben, sie muss erkämpft werden.

NGOs engagieren sich für wichtige, aber höchst unterschiedliche Anliegen und müssen zugleich um öffentliche Unterstützung konkurrieren. Da es keine Plattform gibt, welche die verschiedenen Zweige dieser fünften Gewalt zusammenführt, sind sie anfällig für Manipulation und Marginalisierung. Der Ausschuss der Regionen und die Social Platform, der Dachverband europäischer Nichtregierungsorganisationen, sind lose organisiert und wenig einflussreich. Die Europäische Bürgerinitiative, die es EU-Bürgerinnen und -Bürgern erlaubt, neue Gesetzesvorschläge einzubringen, hat bislang kaum praktische Wirkung entfaltet und konzentriert sich meist auf eng umrissene Themen wie Käfighaltung oder Regionalsprachen.

Solange sich die unterschiedlichen Akteure dieser fünften Gewalt nicht organisieren und zusammenschließen, um eine grundlegende Reform des europäischen Entscheidungsprozesses zu fordern, werden die Nationalstaaten sich weigern, wesentliche Befugnisse und Ressourcen mit ihnen zu teilen. Macht wird selten freiwillig abgegeben, sie muss erkämpft werden. Die Empfehlung ist daher einfach und klar: Diejenigen, die auf effektive Weise zu öffentlichen Werten beitragen, sollten sich vereinen und ihre Stimme erheben.

Europa braucht einen grundlegenden Wandel. Im Moment treiben jedoch die Souveränisten diesen Wandel voran. Wenn Bürgermeister, NGO-Aktivisten und Proeuropäer an einen anderen, einen besseren Kontinent glauben, sollten sie sich zusammenschließen und ihre eigene Vision vorantreiben. Nennen wir sie einfach: ein Europa der Netzwerke.

Aus dem Englischen von Tim Steins

Dieser Artikel ist eine gemeinsame Veröffentlichung von Social Europe und dem IPG-Journal.