Angesichts der Tatsache, dass große Teile der Welt mit unvermeidlichen Gesundheits-, Energie-, Lebenshaltungskosten- und Klimaherausforderungen konfrontiert sind, haben progressive Politiker nun Gelegenheit, eine echte Alternative zur herkömmlichen Wirtschaftspolitik zu formulieren. Dies erfordert eine mutige und in sich schlüssige Vision, wie sich ein inklusives und nachhaltiges Wachstum erreichen lässt.

Auf der Jahrestagung der britischen Labour Party vergangene Woche formulierte der Parteivorsitzende Keir Starmer seine eigenen Ziele, Großbritannien in eine „Supermacht im Bereich des umweltfreundlichen Wachstums“ zu verwandeln, die imstande ist, neue Arbeitsplätze, Branchen und Technologien hervorzubringen. Da ich mit der Labour Party darüber gesprochen habe, Umweltanliegen ins Zentrum des industriellen Wandels des Vereinigten Königreichs zu stellen, freut es mich sehr, zu sehen, dass Starmer den erforderlichen Ehrgeiz dafür aufbringt. Progressive Politiker weltweit sollten Obacht geben.

Labours Vision steht im deutlichen Kontrast zu dem abgenutzten Paket aus katastrophalen „Trickle down“-Steuersenkungen im Stile der 1980er Jahre, Maßnahmen zur (noch stärkeren) Beschneidung von Arbeitnehmerrechten und aus Industriefördergebieten, das die Regierung von Premierministerin Liz Truss gerade verkündet hat. Während das konservative Vabanquespiel mit der Haushaltsstabilität die Regierung nun gezwungen hat, eine deutliche Kehrtwende bei den vorgeschlagenen Steuersenkungen für Spitzenverdiener vorzunehmen, ist derzeit kaum etwas über die zur Ankurbelung des Wirtschaftswachstums erforderlichen öffentlichen Investitionen – in Bereichen wie der Infrastruktur, der Innovation und der Bildung – zu vernehmen. Im Gegenteil: Die Steuersenkungen werden die Staatsverschuldung erhöhen, was dazu führen wird, dass die Regierung dringend erforderliche Investitionen streicht.

Unglücklicherweise hat das Fehlen einer mutigen, klaren progressiven Politik es den Rechtsextremen ermöglicht, überall in Europa an Boden zu gewinnen – nicht zuletzt in Italien, wo in Kürze Giorgia Melonis postfaschistisches Bündnis regieren wird. Wann immer einkommensschwache Gruppen leiden – wie das derzeit der Fall ist und sich in diesem Winter fortsetzen wird –, nutzen fremdenfeindliche Parteien deren Not aus und geben (so wie Donald Trump das tat) anderen die Schuld, um von ihren eigenen schwachen, unausgegorenen oder nicht vorhandenen politischen Vorschlägen abzulenken.

Erforderlich ist eine klare Vorstellung kollektiver Investitionen zugunsten des Gemeinwohls.

Vergangene politische Versäumnisse und unerfüllte populistische Versprechen stellen für progressive Politiker eine Chance dar. Doch werden sie angesichts des starken wirtschaftlichen und politischen Gegenwinds nicht nur über Umverteilung nachdenken müssen, sondern auch über Vermögensbildung und Wertschöpfung. Das Ziel kann nicht darin bestehen, die von den heutigen Erschütterungen ausgehenden Schäden lediglich abzumildern. Progressive Argumente gegen die Sparpolitik müssen über die traditionelle Forderung nach „umsetzungsbereiten“ Projekten hinausgehen und umfassende wirtschaftliche Strategien propagieren, um eine starke, nachhaltige und inklusive Erholung herbeizuführen.

Der Übergang zu einer nettoemissionsfreien Wirtschaft etwa muss durch ehrgeizige Industrie- und Innovationsmissionen vorangetrieben werden, die die komplette Wirtschaft umgestalten – von der Art und Weise, wie wir bauen, bis hin zu dem, was wir essen und wie wir uns fortbewegen. Dies würde ein nachhaltiges Wachstum hervorbringen, bei dem die Regierungen die Richtung vorgeben und die Investitionstätigkeit fördern, statt nur die durch schlechte Politik und schädliche Geschäftspraktiken hinterlassenen Probleme zu beseitigen. Eine erfolgreiche progressive wirtschaftspolitische Agenda hat fünf Dimensionen.

Erstens muss sie ein neues Narrativ über die Art und Weise der Wertschöpfung anbieten, um das alte, verfestigte Narrativ zu ersetzen, in dem allein der private Sektor die Hauptrolle spielt und der Staat lediglich Marktversagen korrigiert. Erforderlich ist eine klare Vorstellung kollektiver Investitionen zugunsten des Gemeinwohls, bei der der öffentliche Sektor als Investor erster und nicht bloß als Kreditgeber letzter Instanz auftritt.

Zweitens muss eine progressive Agenda einen gut ausgestatteten Wohlfahrtsstaat und einen dynamischen Innovationsstaat hervorbringen, denn beide gehen Hand in Hand. Ohne soziale Dienstleistungen werden zu viele Menschen hilfsbedürftig bleiben und keinen Zugriff haben auf grundlegende Zutaten für ihr Wohlergehen und ihre wirtschaftliche Teilhabe – einschließlich Bildung, sichere Arbeitsplätze und Gesundheit. Und ohne Innovation werden Wirtschaftswachstum und Lösungen für drängende gesellschaftliche Probleme – seien es eine Pandemie, der Klimawandel oder die digitale Kluft – außer Reichweite bleiben.

Die Energiekrise muss zu einer Chance zur Neuausrichtung des Wachstums werden.

Zu diesem Zweck müssen die Progressiven aktuelle soziale Herausforderungen als Schwerpunkte für die Industriestrategie nutzen. Das reicht von gesünderen, wohlschmeckenderen und nachhaltigeren Schulmahlzeiten bis hin zur Beschleunigung des Innovationstempos bei unseren Mobilitätssystemen. Ein ergebnisorientiertes Beschaffungswesen lässt sich nutzen, um die Innovation bei öffentlichen Aktivitäten jeder Art von den Schulen über die Gesundheit bis zum Verkehr voranzutreiben. Und die Energiekrise muss zu einer Chance zur Neuausrichtung des Wachstums werden, sodass dieses sowohl inklusiv als auch nachhaltig ist, angefangen bei umweltfreundlichen Innovationen in allen Industriezweigen einschließlich Stahl und Zement.

Drittens brauchen wir einen Grünen Deal, bei dem der „Deal“-Aspekt genauso viel Gewicht erhält wie der Umweltaspekt. Dies erfordert einen neuen Gesellschaftsvertrag. Sowohl der Nutzen als auch die Risiken, die mit öffentlichen Investitionen in die ökologische Wende verknüpft sind, sollten vergesellschaftet werden. Es ist kein Zufall, dass die Gewinne steigen, nicht jedoch die Investitionen. Es spiegelt lediglich die zunehmende Finanzialisierung bei den Fortune-500-Unternehmen wider: Mehr als 5 Billionen Dollar sind während des vergangenen Jahrzehnts in Aktienrückkäufe geflossen, und der größte Teil der privaten Gelder fließt zurück in den Finanz-, Versicherungs- oder Immobilienbereich.

Den Regierungen stehen eine Menge Instrumente zur Verfügung (dynamische Beschaffungsmethoden, Zuschüsse, Kredite und Vorschriften), um auf strategisch wichtige Ziele abgestimmte Investitionen voranzutreiben und sicherzustellen, dass Unternehmensgewinne auf sozial und ökologisch vorteilhafte Weisen reinvestiert werden. Während etwa die britische Regierung EasyJet Kredite von 600 MillionenPfund Sterling einräumte, ohne diese mit irgendwelchen sinnvollen Vorgaben zu verbinden, knüpfte Frankreich seine Kredite an Air France und Renault während der Pandemie an Zusagen über Emissionsverringerungen. In den USA hat der neue CHIPS and Science Act, ein Gesetz, das Subventionen für US-Halbleiterhersteller in Höhe von 52 Milliarden Dollar vorsieht, diese an gewisse Auflagen geknüpft. Das macht Mut, und man kann noch mehr tun, um sicherzustellen, dass Menschheit und Planet von der Wertschöpfung profitieren.

Es ist kein Zufall, dass die Gewinne steigen, nicht jedoch die Investitionen.

Viertens bedarf es neuer institutioneller Strukturen, um einen optimalen Nutzen aus der kollektiven Wertschöpfung zu ziehen. Angesichts des in der modernen Finanzwelt so verbreiteten kurzfristigen Denkens sollten staatliche Banken und andere öffentliche Finanzierungsmechanismen einschließlich Staatsfonds genutzt werden, um einen größeren Bestand an „geduldigem“ Kapital zu schaffen, mit dem Unternehmen finanziert werden, die bereit sind, zu investieren und innovativ zu sein.

Die Progressiven sollten zudem auf eine „Daten-Allmende“ drängen, sodass diese wichtige Ressource des 21. Jahrhunderts nicht nur Eigentum der großen Technologieunternehmen (Big Tech) bleibt und deren Kontrolle unterliegt, sondern auch der Kontrolle der Bürger. Ein inspirierendes Beispiel bietet die Bürgermeisterin von Barcelona, Ada Colau, die Hacker in ihre Stadtverwaltung geholt hat, damit diese helfen, die Data Governance zugunsten des Gemeinwohls zu verbessern. Progressive Regierungen müssen in ihre eigenen organisatorischen Kapazitäten investieren und den Trend in Richtung von immer mehr Outsourcing umkehren – einer Praxis, von der sogar einige auf der Rechten der Ansicht sind, dass sie überhandnimmt.

Und schließlich muss eine progressive Wirtschaftsagenda inspirierend sein. Progressive Wirtschaftspolitik muss mit Bürgerengagement einhergehen, um eine klare Verbindung zu den Verbesserungen im Leben der Menschen zu schaffen. Man stelle sich etwa vor, die Künste würden heute auf dieselbe Weise genutzt wie im Rahmen der Works Progress Administration unter US-Präsident Franklin Roosevelt.

Sofern progressive Politiker kein positives und inklusives Narrativ über die Zukunft propagieren, werden sie keine Wahlen gewinnen. Doch um eine erfolgreiche Strategie zu formulieren, müssen sie zuerst einen klaren Bruch mit der Denkweise vollziehen, die die Wirtschaftspolitik schon allzu lange bestimmt hat.

Starmers Plan ist ein begrüßenswerter Schritt in diese Richtung. Doch müssen derartige mutige Zusagen in eine umfassende, inklusive und nachhaltige Wirtschaftsagenda eingebunden werden. Wie die italienische Linke gerade gelernt hat, können sich die Progressiven schwerlich über das Resultat beschweren, wenn sie einander stärker bekämpfen als ihre Gegner.

Aus dem Englischen von Jan Doolan

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