Jahrelang wurde über die Frage der deutschen und der europäischen Verteidigungsfähigkeit diskutiert, nun hat die geopolitische Realität nach der Zeitenwende die Frage nach dem „Ob“ mit der Frage nach dem „Wie“ ersetzt. Es wird im großen Stil aufgerüstet, und das vor dem Hintergrund einer wirtschaftlichen Lage, in der steigende Lebenshaltungskosten und eine stagnierende Wirtschaft vielen Bürgern zunehmend Kopfschmerzen bereiten. Schlagzeilen über Massenentlassungen in der Industrie reihen sich aneinander, große Investitionen in den Standort Deutschland bleiben aus. Dieser doppelten Herausforderung möchte der Bund mit zwei großen Sondervermögen entgegentreten. Während das Sondervermögen Infrastruktur und Klimaneutralität öffentlich breit diskutiert wurde, ist das Sondervermögen für die Bundeswehr bislang außerhalb von Fachkreisen gewissermaßen unter dem Radar gesegelt. Dies ist erstaunlich, schließlich umfasst es nicht nur ein Volumen von 100 Milliarden Euro, sondern geht auch Hand in Hand mit der im März beschlossenen Bereichsausnahme von der Schuldenbremse für alle Verteidigungsausgaben oberhalb von einem Prozent des BIP. Die Konsequenz: Es gibt de facto keine grundsätzliche Limitierung der Verteidigungsausgaben mehr. Das sollte nicht nur Verteidigungspolitik aufhorchen lassen, sondern auch industriepolitisch genutzt werden.

Zwei Fragen sind dabei zentral: Wohin fließt das Geld und in was wird investiert? Der potenzielle Gewinn: Wachstumseffekte für die deutsche Industrie und strukturelle Impulse für einzelne Regionen. Das Potenzial dieser Investitionen so breit wie möglich zu nutzen, ist nicht nur wirtschaftlich klug. Es ist auch entscheidend, um die demokratische Legitimation für dieses gewaltige Investitionsprojekt zu bewahren – gerade in Zeiten eines sehr realen Spardrucks in vielen anderen Bereichen. Wenn Sozialdemokraten an der Spitze des Verteidigungs- und des Finanzministeriums sitzen, dann muss das Sicherheitsversprechen mehrdimensional eingelöst werden: Es gibt keine äußere Sicherheit ohne soziale und wirtschaftliche Sicherheit im Inneren. Wie gut die militärische Aufrüstung funktioniert, zeigt sich für die Öffentlichkeit erst im Verteidigungsfall. Wir leben jedoch in einem Zeitalter hybrider Kriegsführung, in dem lange vor einem kinetischen Aufeinandertreffen soziale und wirtschaftliche Bruchstellen unserer Gesellschaft von feindlichen Akteuren ins Visier genommen werden. Deshalb gilt es, mit Verteidigungsausgaben über die reine Bereitstellung von Material hinaus auch spürbar zur wirtschaftlichen Sicherheit beizutragen.

Rund 100 000 Menschen sind direkt in der Verteidigungsindustrie beschäftigt, etwa 500 000 indirekt.

Bei einem gegenwärtig überschaubaren Anteil der Verteidigungsindustrie am BIP (etwa einem Prozent), kommen Ökonomen zu unterschiedlichen Ergebnissen, wie groß die industriepolitischen Effekte der Verteidigungsinvestitionen tatsächlich sein können. Worin sie sich jedoch einig sind: Insbesondere Investitionen in den Dual-Use-Innovationsbereich, der zivil und militärisch genutzt werden kann, haben die vielversprechendsten Aussichten. Während die Krise des Stahlsektors (zu Recht) die Schlagzeilen bestimmt, sind die Kennzahlen in der deutschen Verteidigungsindustrie durchaus vergleichbar: Rund 100 000 Menschen sind direkt in ihr beschäftigt, 500 000 indirekt – in der Stahlindustrie sind etwa 90 000 direkt und rund 460 000 indirekt Beschäftigte. Der Umsatz der Verteidigungsbranche lag 2022 bei rund 47 Milliarden Euro, das ist ebenfalls vergleichbar mit der deutschen Stahlindustrie (45 Milliarden Euro in 2024) – mit dem Unterschied, dass die Tendenz bei Ersterer stark steigend ist und ein erhebliches Innovationspotenzial besteht.

Das Wort Aufrüstung beschwört zunächst Bilder vom Band rollender Panzerkolonnen. Unbestritten muss ein substantieller Teil der deutschen Verteidigungsausgaben in den kommenden Jahren auch in diesen „toten Stahl“ fließen, um die Mangelsituation bei der Ausstattung der Bundeswehr zu beheben. Aber die Verteidigungsindustrie konzentriert sich heute vor allem auf Bereiche, die einen hohen Grad an Innovation und Agilität erfordern: Drohnen, Raumfahrt, moderne Datenverarbeitung, autonome Systeme und andere hochkomplexe Technologien, die auch in Panzern eingesetzt werden. Technologien, die man nicht für einen Krieg brauchen möchte, die wir nun aber täglich in der Ukraine im Einsatz sehen. Technologien, die teilweise bereits in ähnlicher Form auf dem Markt existieren, die Europa im Sinne digitaler Souveränität jedoch perspektivisch selbst entwickeln und kontrollieren sollte. Und Technologien, die auch jenseits des militärischen Ernstfalls einen erheblichen zivilen Nutzen haben.

Gerade Systeme mit zivilem Nutzen haben einen industriepolitischen Mehrwert. In Deutschland beträgt der Forschungsanteil im Verteidigungshaushalt bislang lediglich fünf Prozent, in den USA ist es das Vierfache. Die Potenziale des wehrtechnischen Marktes müssen deshalb klug genutzt werden: mehr Wagnis bei neuen Systemen, höhere Investitionen in deren Erforschung, Erwerb von Patenten und absehbar auch staatliche Beteiligungen an innovativen Unternehmen. Ein Beispiel hierfür ist die bayerische Firma Hensoldt, bei der der Bund bereits 2020 über die KfW eine Sperrminorität erworben hat, um sich den Zugang zu sensibler Sensortechnologie zu sichern.

Nicht nur in Deutschland wird derzeit aufgerüstet, auch unsere europäischen Nachbarn füllen ihre Bestellzettel aus. Der aktuelle Vorschlag der Europäischen Kommission für den nächsten EU-Haushalt enthält mehrere Hebel, um militärische Investitionen für die europäische Wettbewerbsfähigkeit zu nutzen. Während die klimagerechte Modernisierung der Industrie konsequent vorangetrieben werden muss, ergibt sich hier eine Chance zur weiteren Spezialisierung im europäischen Binnenmarkt. Die Bundesregierung sollte sich auf europäischer Ebene deshalb für ein gezieltes Buy European-Schema in strategischen Bereichen der Verteidigungsindustrie einsetzen. Hier hat Deutschland etwas im Angebot, das strategisch höchst relevant ist: Stahl, Aluminium und weitere Vorprodukte werden weiterhin im Inland gefertigt. Während deutscher Stahl im Wettbewerb gegen günstigeren chinesischen Stahl verliert, hat er zwei Vorteile: Er kann nach Bedarf veredelt werden und er wird lokal produziert. Das bedeutet kurze und damit sichere Lieferketten sowie Wertschöpfung in der EU.

An der Produktion eines Panzers hängen rund 100 mittelständische Unternehmen.

In einem Oligopol führt eine steigende Nachfrage zwangsläufig zu höheren Preisen. Ein verantwortungsvoller Umgang mit Steuergeldern heißt deshalb: Die Beschaffung muss konsequent europäisch ausgerichtet werden, gleichzeitig braucht es Anreize, um den Markt, wo immer möglich, zu verbreitern und echten Wettbewerb zu schaffen. Das ist angesichts der starken Spezialisierung und strenger Sicherheitsauflagen keine einfache Aufgabe. An der Produktion eines Panzers hängen rund 100 mittelständische Unternehmen. Viele von ihnen – jenseits der großen Systemhäuser wie Rheinmetall – sind auf zusätzliche Unterstützung angewiesen: etwa durch Abnahmegarantien oder Hilfe beim Hochfahren der Produktion. Hinzu kommen bürokratischen Hürden wie langwierige Sicherheitsüberprüfungen des Personals, die Umstellungen erheblich verzögern. Daneben haben Geschäftsbanken häufig eine Zivilklausel, wodurch Unternehmen den Verlust ihrer Kreditwürdigkeit fürchten. Hier braucht es schnelle, fachkundige Beratung und pragmatische Lösungen.

Ein besonderes Augenmerk sollte zudem auf Unternehmen aus dem Automobilsektor liegen, die angesichts der existenziellen Krise dieser Säule der deutschen Industrie eine Umstellung auf militärische Produktion erwägen. Sicherlich ist das keine Patentlösung zur Rettung des gesamten Sektors, aber sie sollte mitgedacht und seitens der Bundesregierung so weit wie möglich unterstützt werden – und zwar schnell: Viele dieser Unternehmen stehen bereits mit dem Rücken zur Wand, und ein Abbau bestehender Produktionskapazitäten ist dringend zu vermeiden. Bei der breiten Streuung von Automobilzulieferern in ländlichen Regionen kann die Rettung einzelner mittelständischer Betriebe enorme Wirkung entfalten.

Der Sektor der Verteidigungsindustrie muss strategisch angegangen werden: europäisch, innovativ und mit einem klaren Blick auf strukturelle Chancen. Das ist nicht nur sicherheitspolitisch notwendig und ökonomisch klug, sondern auch eine demokratische Verpflichtung. Industriepolitik wird hier zu einem Faktor europäischer Souveränität und demokratischer Resilienz. Es geht um den verantwortungsvollen Umgang mit Steuergeldern in Zeiten von Sparzwängen und um den Erhalt von guter Arbeit in der Industrie. Ein sozialdemokratisches Projekt, das nicht hinter verschlossenen Türen stattfinden sollte.