Ein dumpfer Schmerz hat die europäischen Sozialdemokraten erfasst. Voller Reue und Schuldzuweisungen blicken sie auf vergangene ruhmreiche Zeiten zurück und schauen zugleich mit Sorge in die Zukunft. Doch es gibt auch Lichtblicke in ihrer bedrückenden Lage. Rob Jettens niederländische Mitte-Links-Partei D66 hat die rechtsextreme Partei von Geert Wilders abgehängt. Zwar zog sich die Koalitionsbildung in die Länge, aber am Ende hat die niederländische Demokratie die faschistischen, fremdenfeindlichen Parteien besiegt, die den ganzen Kontinent bedrohen.
Auf den ersten Blick steht es um die progressive Sache gar nicht so schlecht, wie viele Sozialdemokraten meinen. Ihre Parteien stehen in der Regierungsverantwortung. Laut Umfragen haben sie in Spanien, Portugal, Dänemark, Norwegen, Schweden und Finnland die Nase vorn. In Deutschland konnte Mitte-Rechts die extreme Rechte auf Abstand halten. In Großbritannien errang die Labour-Partei im vergangenen Jahr einen fulminanten Sieg – eine Seltenheit für eine Partei, die während mehr als zwei Dritteln der Nachkriegszeit nicht an der Macht war. Dennoch müssen die Sozialdemokraten der bitteren Tatsache ins Auge sehen, dass die Zeiten, in denen sie regelmäßig über 40 Prozent der Stimmen erzielten, in einer fragmentierten politischen Landschaft vorbei sind.
Ich selbst kann mich noch sehr genau an die glanzvollen Zeiten erinnern, als im November 1999 auf einer Konferenz im prächtigen Palazzo Vecchio in Florenz progressive Politiker ihre gemeinsame Hochphase feierten. Bill Clinton, Tony Blair, Gerhard Schröder, Lionel Jospin, Massimo D’Alema, Fernando Henrique Cardoso und Romano Prodi waren zusammengekommen und wollten der Welt eine Zukunft im Zeichen des progressiven Optimismus aufzeigen – eine unwiderstehliche Vision für das damals bevorstehende neue Jahrhundert.
In dem bitterkalten, aber atemberaubend schönen Saal in Florenz bestaunten die Anwesenden – wir waren rund 500 – die Gemälde von Vasari und ließen uns wieder mehr denn je beflügeln von Clintons großartiger, mitreißender Rhetorik. Überraschenderweise war sein Beitrag der linkeste von allen, wie der britische Europaminister Denis MacShane in seinen Tagebüchern festhielt. „In den Vereinigten Staaten gibt es Menschen und Orte, die komplett abgehängt sind“, sagte Clinton, sprach über die bedrückende Armut im eigenen Land und redete davon, den Entwicklungsländern müsse durch Schuldenerlass Gerechtigkeit verschafft werden. Eine beeindruckende sozialdemokratische Vision, die jedoch zu spät kam, denn Clinton blieb damals nur noch ein Jahr seiner Amtszeit, nach der er den Stab nicht etwa an einen anderen Progressiven, sondern an den rechtsgerichteten George W. Bush übergab. Clintons rhetorische Höhenflüge gingen wie immer zu Herzen, trafen aber nicht den Kern seiner Politik. Dass Politiker radikal werden, wenn alles schon gelaufen ist, kommt öfter vor.
Leider brach kein großes sozialdemokratisches Jahrhundert an. Lionel Jospin verlor die Präsidentschaftswahlen 2002 nicht nur gegen Jacques Chirac, sondern musste sich auch dem Rechtsextremen Jean-Marie Le Pen geschlagen geben. Massimo D'Alema trat im Jahr darauf zurück. Schröder blieb noch bis 2005 im Amt, wurde dann aber von Angela Merkel abgelöst, die 16 Jahre lang regierte. Die Labour-Partei hielt sich weitere elf Jahre, bevor sie für die nächsten 14 Jahre das Ruder den Konservativen übergab, die den Brexit herbeiführten.
Es war der Auftakt zu einem Rechtsruck, bei dem die Idee des Dritten Weges propagiert wurde – weder rechts noch links, sondern irgendwo dazwischen.
Im Rückblick war das feierliche Ereignis zur Jahrtausendwende tatsächlich ein Meilenstein für die Sozialdemokratie, aber nicht so, wie deren selbstgefällige Anführer es sich vorstellten. Es war der Auftakt zu einem Rechtsruck, bei dem die Idee des Dritten Weges propagiert wurde – weder rechts noch links, sondern irgendwo dazwischen. Einen Kompass gab es nicht. Im selben Jahr hatten Blair und Schröder ihr Manifest „Europa, der Dritte Weg: die Neue Mitte” veröffentlicht und es den anderen Progressiven als Weg zur Macht verkauft. Sie warfen ihre bisherige gewerkschaftliche Metaphorik über Bord und machten sich für Sozialkürzungen, unternehmensfreundliche Globalisierung, Outsourcing und Privatisierungen stark. „Seht doch: Es klappt“ konnte Blair prahlen, als er trotz des Irakkriegs drei Wahlen hintereinander gewann und soziale Gerechtigkeit mit freien Märkten kombinierte. Auf lange Sicht aber war dies für den Progressivismus der Todesstoß, unter dem wir noch heute leiden. Die Worte „Dritter Weg“ haben die Mitte-Links-Bewegung ihrer Lebensader beraubt und ihr den Mut genommen: Der Zentrismus ist erledigt.
Im Scherz wies jemand darauf hin, dass genau im gleichen Saal Savonarola verurteilt worden sei, bevor man ihn hinausgeführt, erhängt und verbrannt habe. Der Scherz sollte andeuten, die Konferenz des Dritten Wegs mache in ähnlicher Weise dem Extremismus den Garaus. Nicht alle teilten diese Ansicht – insbesondere nicht der Sozialist Lionel Jospin. Der Geist der EU erstickte nach und nach in der fantasielosen Zurückhaltung des Dritten Weges, der träge und konventionell war und weder begeistern konnte noch wollte. Beppe Grillos bedeutungslose Fünf-Sterne-Bewegung, die Brüssel-feindliche Syriza und Jean-Luc Mélenchon bezeichneten den Dritten Weg dementsprechend als Unternehmerclub. Der Brexit hatte nur einen Vorteil: Er schockte die EU-Gegner so sehr, dass sie zurückruderten. Denn die Staatskasse des verarmten Vereinigten Königreichs verliert durch ihn jährlich 80 Milliarden Pfund.
Die Sehnsucht nach Veränderung, politischer Dramatik, nach Sinn und Identität treibt die Wählerschaft weiter nach links und weiter nach rechts, während die Mitte darum kämpft, sich zu halten. Die Labour-Partei muss fassungslos zur Kenntnis nehmen, dass sie nach ihrem beachtlichen Wahlsieg innerhalb eines Jahres in den Umfragen auf 18 Prozent zurückgefallen ist. Die Grünen, die sich mit einer dynamischen Führung erneuert haben, agieren kopflos, während die Liberaldemokraten andauernd damit punkten, dass sie für Prinzipien eintreten, vor denen Labour zurückschreckt. Als Donald Trump der BBC mit einer Milliardenklage drohte, waren es die Liberaldemokraten, die sich schützend vor den nationalen Sender stellten. Die Labour-Partei schwieg, weil sie in der Regierungsverantwortung steht und Angst vor dem hat, was Trump mit seinen angedrohten 100-Prozent-Zöllen anrichten könnte.
Das eigentliche Risiko für Sozialdemokraten, die an der Macht sind, besteht darin, dass sie in Lähmung verfallen und ihre Politik der sozialen Gerechtigkeit in Zeiten knapper Kassen feige und knauserig wirkt. Nigel Farages Reform UK liegt mit 31 Prozent weit im Vorsprung. Wie in anderen europäischen Ländern wird die Labour-Partei durch die extreme Rechte in Versuchung geführt, die verlorene Wählerschaft zurückzugewinnen – vor allem mit dem toxischen Thema Einwanderung. Laut Umfragen verliert Labour jedoch viel mehr Wählerinnen und Wähler an die linke Seite des politischen Spektrums.
Fast überall macht sich eine regierungsfeindliche Grundstimmung breit, die nicht davon abhängt, wer an der Macht ist. „Throw the bastards out” („Werft die Mistkerle raus“) ist vielleicht Europas größte Bewegung. Den Rebellen auf der Oppositionsbank macht Politik mehr Spaß als Labour, die das Regieren überhaupt nicht mehr lustig findet. Die widrigen Verhältnisse bringen jeden Funken, der in ihr lodert, zum Erlöschen. Rückblickend würde ich sagen: Die linke Mitte begann ihre Lebensfreude und ihr Gespür für ihre Mission in dem Moment zu verlieren, als sie falsch abbog und den Dritten Weg einschlug, der mehr oder weniger ins Leere führt.
Aus dem Englischen von Christine Hardung
Dieser Artikel ist eine gemeinsame Veröffentlichung von Social Europe und dem IPG-Journal.




