Als Anfang der 1980er Jahre in den USA die kommunitaristische Debatte geführt wurde, war es kein Zufall, dass die sozialen Probleme der großen Metropolen zu den wesentlichen Auslösern der Auseinandersetzung gehörten. Unter den Bedingungen einer wachsenden Anonymität der Nachbarschaften schien das öffentliche Leben einem unaufhaltsamen Zerfall und einer zunehmenden Verwahrlosung preisgegeben zu sein. Wer es sich leisten konnte, zog in die sauberen Vorstädte, um den gesellschaftlichen Folgen des exzessiven Drogenkonsums und der steigenden Kriminalität zu entkommen. Im Zentrum der kommunitaristischen Kritik stand daher sowohl ein paternalistischer Wohlfahrtsstaat, der zur dauerhaften Untätigkeit der Leistungsempfänger beitrug, als auch ein Liberalismus, der Freiheit vor allem als eine private Angelegenheit begriff. Ausgangspunkt der kommunitaristischen Argumentation war die Annahme, dass eigenverantwortliches Handeln nur in einer gelebten Gemeinschaft gelingen kann, die zugleich Anforderung und Unterstützung bedeutet.

Auch heute ist die kommunale Ebene entscheidend, um die massiven politischen Spannungen verstehen zu können. Hier zeigt sich in unmittelbarer Weise die Überforderung des Staates, eine angemessene Sicherheit und Ordnung öffentlicher Räume zu gewährleisten. An den städtischen Schulen bestehen die kulturellen Konflikte nicht in abstrakten identitätspolitischen Debatten, sondern sind handgreiflich und konkret. Auf den Bürgerämtern werden die Menschen mit einer Bürokratie konfrontiert, die es ihnen schwer macht, sich mit ihrem Gemeinwesen zu identifizieren. Und in den Städten haben vor allem Familien mit einer Wohnungsnot zu kämpfen, die den Glauben an die Fähigkeit zur Gestaltung kommunaler Räume erschüttert. Wer die Wut nachfühlen will, die das Land fest im Griff zu haben scheint, muss sich mit dem Zustand der Kommunen und den alltäglichen Erfahrungen auf der Straße beschäftigen. Denn dort wird der Zustand gesellschaftlicher Integration besonders augenfällig, nicht nur von Zugewanderten, auch von Einheimischen.

Maßgeblich geführt wurde die kommunitaristische Debatte von liberalen amerikanischen Philosophen. Den Anfang machte Michael Sandel mit einer Kritik des Freiheitsverständnisses von John Rawls. Dessen Theorie der Gerechtigkeit war zum Leitstern der Bürgerrechtsbewegung geworden, hatte aber zugleich die Idee der Freiheit auf individuelle Rechte verengt. Waren die emanzipativen Strömungen für eine umfassende Selbstbestimmung in allen Lebensbereichen eingetreten, verwiesen die Kommunitaristen auf den Zerfall der Familien, die zunehmende Isoliertheit in der Konsumwelt und die mangelnde Bereitschaft, sich überhaupt noch in irgendeiner Weise in die Gemeinschaft einzubringen. Jeder Freiheitsgewinn hatte ihrer Meinung nach auch einen Preis, dessen Entrichtung eine Gesellschaft auf Dauer ruinieren könne. Charles Taylor machte geltend, dass gemeinsam geteilte Werte nur durch die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft wirksam bewahrt werden könnten. Und der Soziologe Amitai Etzioni legte weitreichende Vorschläge vor, wie ein neues Gemeinwesen einzurichten sei.

Es ist kein Zufall, dass diese Debatte heute unter den Bedingungen einer Krise der liberalen Weltordnung erneut aufflammt.

Es ist ebenso kein Zufall, dass diese Debatte, die nach den welthistorischen Ereignissen von 1989 mit der beginnenden Globalisierung zunehmend an Bedeutung verlor, heute unter den Bedingungen einer Krise der liberalen Weltordnung erneut aufflammt. Allerdings wird sie nun vorwiegend von konservativer Seite geführt. Den Auftakt hat Russel Ronald Reno gemacht, ein amerikanischer Theologe und Philosoph, indem er das Ende des „langen 20. Jahrhunderts“ verkündete und damit die liberalen Grundüberzeugungen in der Nachkriegszeit bis heute meinte. Er prophezeite eine Wiederkehr des Bedürfnisses nach starken Bindungen, nach Identität, Solidarität und Loyalität. Im Unterschied zu den 1980er Jahren spielt die Religion heute eine zentrale Rolle. Waren die Kommunitaristen noch für die Erneuerung republikanischer Werte eingetreten, werden die nötigen Bindekräfte heute dem Glauben zugetraut. Dahinter verbirgt sich nicht nur die Sorge um den Zerfall der Gesellschaft, sondern auch die Befürchtung, die Überzeugungen anderer Kulturen könnten stärker sein als die eigenen.

Galt es bislang als ausgemacht, dass der westliche Liberalismus ein Alleinstellungsmerkmal weltpolitischer Überlegenheit sei, hat sich inzwischen der Verdacht erhärtet, eine allein nach liberalen Prinzipien geordnete Gesellschaft könnte der neuen globalen Rivalität nicht gewachsen sein. Vor diesem Hintergrund plädiert der Politologe Patrick Deneen, der zu den einflussreichsten Stichwortgebern der aktuellen Debatte in den USA gehört und auch von J.D. Vance sehr geschätzt wird, für einen „katholischen Kommunitarismus“. Demnach habe der Westen nur dann eine Überlebenschance in der „postliberalen Zukunft“, wenn er sich auf gemeinschaftsstiftende Werte besinnen kann. Während die Zäsur von 1989 eine globale Liberalisierung in Gang gesetzt hat, zeichnet sich derzeit eine identitätspolitische Wende im weltweiten Maßstab ab. Nach dem Ende der bisherigen Globalisierung sind zahlreiche Länder auf der Suche nach ihrer Position in der entstehenden neuen Weltordnung, die nicht mehr wie in der Vergangenheit durch den Westen dominiert werden wird.

Im Horizont dieses weltgeschichtlichen Umbruchs hat die liberale Gesellschaft ihre einstige Vorreiterrolle eingebüßt. Hatten sich die Europäer nach dem Ende der Blockkonfrontation noch als Avantgarde einer postnationalen Weltgesellschaft gesehen, müssen sie sich jetzt mit ganz neuen Anforderungen an ihre Selbstbehauptung auseinandersetzen. Dazu gehört nicht nur die Notwendigkeit, ihre militärischen Fähigkeiten zur Verteidigung auszubauen, sondern auch die Herausforderung, wie der Zusammenhalt in einer zunehmend heterogenen und von Einwanderung geprägten Gesellschaft gewährleistet werden soll. Neben der Wehrpflicht, die bereits einige europäische Länder wieder eingeführt haben, wird es auch um gesellschaftspolitische Antworten wie eine allgemeine Dienstpflicht gehen müssen, um die Bindung an das Gemeinwesen sicherstellen zu können. Weder die USA noch die Europäische Union können sich weiterhin als Vorbild für den Rest der Welt begreifen, sondern müssen ihre Gesellschaften auf die fundamental veränderte Weltlage einstellen.

In diesem Kontext findet in Deutschland eine tiefgreifende Auseinandersetzung über das nationale Selbstverständnis statt, die allerdings vorwiegend dem rechten Lager überlassen wird.

In diesem Kontext findet in Deutschland, wie in anderen Ländern auch, eine tiefgreifende Auseinandersetzung über das nationale Selbstverständnis statt, die allerdings vorwiegend dem rechten Lager überlassen wird. Dabei ist es entscheidend für den Ausgang dieser Debatte, dass sie auch in der politischen Mitte geführt wird. Denn es wäre zu kurz gegriffen, die Polarisierung allein als politischen Antagonismus zwischen rechten und linken Kräften zu begreifen, bei der jede Seite glaubt, die Probleme wären gelöst, wenn nur die andere Seite nicht wäre. Für die Progressiven stellen die reaktionären Kräfte die Ursache eines gesellschaftlichen Rückschritts dar. Und die reaktionären Kräfte sehen den nationalen Niedergang in der Ideologie der Progressiven begründet. Aber beiden Positionen liegt ein Problem gesellschaftlicher Resilienz zugrunde, das es zu lösen gilt. Denn mit der Verschiebung der politischen Gewichte in der Welt von West nach Ost haben die bisherigen Zukunftserwartungen an die liberale Gesellschaft ihre stabilisierende Funktion weitgehend verloren.

Ausgerechnet die Sozialdemokratie tut sich besonders schwer damit, ihren Beitrag zu dieser Debatte zu leisten. Dabei kann sie auf eine lange kommunitaristische Tradition zurückblicken. Seit der Gründung der Partei ging es in der gewerkschaftlichen Bewegung immer auch darum, der Konkurrenzgesellschaft eine Gemeinschaftserfahrung entgegenzusetzen. Es war der Sozialdemokrat Ferdinand Tönnies, der das bis heute wichtige Begriffspaar „Gesellschaft und Gemeinschaft“ in die politische Diskussion eingeführt und die SPD angesichts der fragilen politischen Lage in der Weimarer Republik als die maßgebliche „Partei der Republik“ verstanden hat. Aber das bedeutete für ihn zugleich, dass auch eine liberale Gesellschaft auf eine politische Gemeinschaft angewiesen ist, deren Mitglieder nicht nur zufällig, sondern auch wesentlich miteinander verbunden sind. Die SPD hat sich stets als eine Partei mit einem hohen Anspruch an die gesellschaftliche Integration ausgezeichnet, die sich nicht bloß in der liberalen Forderung nach einer „offenen Gesellschaft“ erschöpfen kann.

Auch wenn sich die Gesellschaft seit den 1980er Jahren verändert hat und die Problemlage eine andere geworden ist, haben die philosophischen Argumente der Kommunitaristen nichts an ihrer Gültigkeit verloren. Anstelle des liberalen Fokus auf individuelle Rechte und individuelle Sozialleistungen richteten sie den Blick auf starke Einrichtungen, die sowohl unterstützen als auch fordern. Denn dort entstehen die gesellschaftlichen Bindekräfte, aufsteigend von der kommunalen bis zur nationalen Ebene. Ein wesentlicher Faktor dabei ist die Gestaltung des öffentlichen Raums, in dem sich die Menschen wechselseitig wahrnehmen, negativ oder positiv. Die SPD stellt immer noch eine große Anzahl an Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern, deren Wissen richtungsweisend ist, um die gesellschaftlichen Konflikte überhaupt begreifen und wirksam bearbeiten zu können. Von der kommunalen Ebene ausgehend, sollte die Partei in die Diskussion eingreifen und dem rechten Lager die Hoheit über die Debatte streitig machen. Denn auch in Deutschland gibt es gegenwärtig ein übergreifendes Bedürfnis nach Gemeinschaft und kollektiver Identität.