Der Bahnhof von Budapest steht gerade im Mittelpunkt der Flüchtlingskrise. Wie ist die Situation vor Ort?
Der Budapester Ostbahnhof ist momentan der Brennpunkt der europäischen Flüchtlingskrise. Die Unterführungen zwischen Bahnhof und U-Bahn haben sich in ein Flüchtlingslager verwandelt. Überall liegen und sitzen Flüchtlingsgruppen, dazwischen spielen Kinder. Schätzungen gehen von inzwischen 3.000 Menschen aus, die dort auf eine Weiterreise in Richtung Westen hoffen. Täglich kommen neue Flüchtlinge dazu. Auf dem Vorplatz des Ostbahnhofes steht eine ganze Armada an Übertragungswagen; einige Fernsehteams lassen ihre Generatoren laufen und bieten Flüchtlingen die Möglichkeit, ihre Handys aufzuladen. Die Polizei hat sich inzwischen zurückgezogen und ist nur mit einzelnen kleinen Trupps präsent. Es mag merkwürdig klingen, aber trotz der Fülle an Menschen und der angespannten Situation fällt auf, wie rücksichtsvoll der Umgang untereinander dort ist. Dennoch sind insbesondere die hygienischen Verhältnisse unzureichend. Ärzte, die vor Ort helfen, warnen eindringlich vor einer Seuchengefahr.
Es scheint, als würden sich die ungarischen Behörden in keiner Weise um die Flüchtlinge kümmern, allein ehrenamtliche Helfer versuchen, das Nötigste für die Menschen zu tun. Stimmt dieser Eindruck?
Bestimmte Bereiche wurden von den Behörden als Transit Zone ausgewiesen, in denen sich die Flüchtlinge aufhalten dürfen. Die Versorgung wird aber in erster Linie von zivilgesellschaftlichen Gruppen, die sich spontan gebildet haben und sich vor allem via Facebook-Gruppen organisieren, geleistet. Eine dieser Organisationen, Migration Aid, hat Räumlichkeiten in der Transit Zone erhalten und organisiert von dort aus das de facto größte Flüchtlingscamp in Ungarn. Hilfsangebote großer Hilfsorganisationen, wie des UN-Flüchtlingshilfswerks, wurden von den ungarischen Behörden abgelehnt. Dafür kommen aber viele Privatpersonen zum Bahnhof und verteilen selbständig Wasser, Lebensmittel, Decken oder Spielsachen für die Kinder. Abends improvisieren Freiwillige für die Kinder ein Freiluftkino mit Tom&Jerry-Filmen, um für etwas Ablenkung zu sorgen.
In meinen Augen ist es geradezu fahrlässig, dass von offizieller Seite kaum Informationen erfolgen. Mal ist die Polizei verschwunden, dann wird mit einem Großaufgebot der Bahnhof geräumt, dann zieht sie sich wieder zurück, dafür fahren nun aus Sicherheitsgründen keine Züge mehr nach Westeuropa. Viele Flüchtlinge haben daher versucht, mit dem Zug in Richtung österreichischer Grenze zu gelangen, wurden aber in Bicske gestoppt, um dort in ein Aufnahmelager für Flüchtlinge gebracht zu werden. Die Flüchtlinge haben daher jegliches Vertrauen in die ungarischen Behörden verloren und wollen nur noch nach Deutschland. Es besteht die Befürchtung, dass die Angebote von Schlepperorganisationen wieder vermehrt nachgefragt werden.
Ungarn baut gerade einen Grenzzaun, um die Flüchtlinge, die aus Serbien nach Ungarn kommen, aufzuhalten. Wie wird dies die Situation verändern?
Der Zaun steht bereits, auch wenn an einigen Stellen wohl als Provisorium mit drei Rollen NATO-Stacheldraht. Flüchtlinge auf der Westbalkan-Route werden sich nicht von dem Zaun aufhalten lassen. Daher spricht inzwischen die ungarische Regierung auch davon, dass der Zaun nur die Flüchtlingsströme kanalisieren und eine Registrierung der Flüchtlinge erleichtern soll. Nach Regierungsangaben sind dieses Jahr bereits 150.000 Menschen illegal nach Ungarn eingewandert. Letztes Jahr wurden 43.000 Asylsuchende gezählt, wobei nur 535 davon in Ungarn geblieben sind.
Der Zaun hat eher einen symbolischen Wert. Er soll den Flüchtlingen klar signalisieren, dass ihre Einreise nicht gewünscht wird. Diese Woche wurde ein neues Gesetz ins Parlament eingebracht, welches Haftstrafen von bis zu drei Jahren für den illegalen Grenzübertritt vorsieht. Gleichzeitig wird Serbien als sicheres Drittland deklariert, so dass die Aussichten auf Anerkennung von Asyl in Ungarn gegen Null streben.
Der Bau des Grenzzaunes ist aber auch stark innenpolitisch motiviert. Gegen Ende des vergangenen Jahres verlor die regierende FIDESZ-Partei einige Nachwahlen und sank zunehmend in der Wählergunst. Mit einer „nationalen Konsultation“ zum Thema illegale Migration und einer damit verbundenen Plakataktion wurde die Aufmerksamkeit auf das Thema gelenkt, welches in Ungarn vorher keine bedeutende Rolle spielte – auch wenn die Angst vor Überfremdung generell sehr hoch ist. Der Grenzzaun, das eingebrachte Gesetz gegen illegale Einwanderung und auch die verbalen Auseinandersetzungen in Brüssel sollen zeigen, dass die ungarische Regierung sich gegen alle Widerstände für die Interessen des Landes einsetzt, da man sonst von Flüchtlingen überrannt und von der EU im Stich gelassen werde. Die chaotische Situation an den Bahnhöfen ist daher für die ungarische Regierung politisch von Nutzen.
Die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung Aydan Özoguz fordert im IPG-Interview von den osteuropäischen Ländern, ebenfalls Flüchtlinge aus Syrien aufzunehmen. Aber kann man Flüchtlinge gegen seinen Willen aufnehmen?
Viktor Orbán sieht Europa von einer modernen Völkerwanderung bedroht, der Einhalt geboten werden müsse, auch um die christlichen Wurzeln Europas zu bewahren. Die Quotendiskussion lehnt Ungarn mit dem Argument ab, dass zuerst die Grenzen gesichert werden müssen, bevor die weiteren Schritte diskutiert werden. Tatsächlich verfolgt die ungarische Regierung eine populistische Null-Flüchtlinge-Politik, da man „Ungarn als Ungarn erhalten“ möchte. Die Lebensverhältnisse für Asylsuchende sind daher sehr rudimentär; einige Experten halten schon seit längerem die Asylmindeststandards für verletzt. So befand das Verwaltungsgericht Stuttgart, dass aufgrund systemischer Mängel und den Regelungen zur Asylhaft Asylsuchende in Ungarn mit einer unmenschlichen oder erniedrigen Behandlung zu rechnen haben, und daher keine Rückführungen nach Ungarn durchgeführt werden sollten. Dazu kommt, dass nach Angaben von Pro Asyl gerade einmal neun Prozent aller Asylanträge in Ungarn im Jahr 2014 positiv beschieden wurden. Das ist der niedrigste Wert in der Europäischen Union. Der EU-Durchschnitt lag 2014 bei 45 Prozent.
Was sind die dringendsten Aufgaben, die die ungarische Regierung und die EU angehen müssen, um die Situation zu entschärfen?
Durch Panikreaktionen oder dem Ausbruch von Krankheiten könnte es an den Budapester Bahnhöfen schnell zu einer noch größeren Tragödie mitten in der Europäischen Union kommen. Hier gilt es jetzt sehr schnell, eine Lösung zu finden und für menschenwürdige Lebensverhältnisse zu sorgen. Mittelfristig benötigen wir eine europäische Flüchtlings- und Einwanderungspolitik, die Mindeststandards für den Umgang mit Flüchtlingen festsetzt, aber auch die Länder an der Schengen-Außengrenze nicht mit den Problemen alleine lässt. Die Vereinbarung einer Verteilungsquote könnte dabei ein Element sein, ist aber alleine sicherlich nicht ausreichend. Wichtig wäre es auch, Möglichkeiten für legale Einwanderung direkt aus den Herkunftsländern bzw. deren Nachbarländern zu schaffen, damit der gefährliche und oftmals tödlich endende Weg mit Hilfe von Schlepperorganisationen erst gar nicht angetreten werden muss.
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