Die gewählte libysche Regierung ist nach Tobruk geflohen. Das Exilparlament sucht derzeit Unterschlupf auf einer griechischen Autofähre. Wie konnte es dazu kommen?
Die Unterbringung auf der griechischen Fähre ist eine hübsche Geschichte aber tatsächlich arbeitet das libysche Repräsentantenhaus in einem Hotel in der Stadt und hält dort auch seine Sitzungen ab. Allerdings sind auf der Fähre einige Journalisten untergebracht. Es ist wichtig, in der Berichterstattung nüchtern zu bleiben.
Es ist richtig, dass die gewählte Regierung im Oktober aus verschiedenen Gründen beschlossen hat, nach Tobruk auszuweichen. Die Ursache war Gewalt – übrigens dieselbe Gewalt zwischen Milizen, die auch die US-Botschaft gezwungen hat, sich zeitweise aus Tripolis zurückzuziehen. Wir saßen buchstäblich unter der Flugbahn von Raketen verschiedener Milizen. Zwar waren wir nicht das Ziel, wurden aber schnell Objekt vieler der Attacken. Die Sicherheitslage war heikel und Tobruk war als Ort im Voraus ausgewählt worden, um sicherzustellen, dass die gewählte Regierung über einen ruhigen Standort mit Luftanbindung und ausreichender Infrastruktur verfügt.
Wenn Sie mich fragen, wie es dazu gekommen ist, muss ich die Frage umdrehen: Es geht darum, was nie wirklich eingetroffen ist. Man spricht oft von einem „failed state“. Ich aber spreche über das Versagen, überhaupt erst einmal einen Staat zu entwickeln. Ich glaube, niemandem war die Tiefe der Dysfunktionalität und der Inkohärenz des Systems Gaddafi wirklich bewusst. Als ich in Libyen ankam, war ich über den Mangel an Infrastruktur schockiert. Das hätte man von einem ölproduzierenden Land nicht erwartet.
Man spricht oft von einem „failed state“. Ich aber spreche über das Versagen, überhaupt erst einmal einen Staat zu entwickeln.
Manche haben angenommen, Gaddafi würde verschwinden und Libyen würde sich wie von Zauberhand in Dubai verwandeln. Andere haben Berechnungen über das Verhältnis der Öl-Einnahmen zur Bevölkerungszahl im Land aufgestellt. Ich habe das immer wieder gehört: „Was soll denn an Libyen so schwierig sein? Sechs Millionen Einwohner und 1,2 Millionen Barrel Öl…“ Doch das ist eine absurde Rechnung. Die libysche Gesellschaft hat nie einen unabhängigen, institutionellen Apparat entwickelt, der fähig gewesen wäre, unabhängig von einem Diktator zu funktionieren, der sich wie ein misshandelnder Vater aufgeführt hat.
Gibt es einen spezifischen Punkt nach dem Sturz Gaddafis, an dem die Dinge anfingen aus dem Ruder zu laufen?
Als ich im Juni 2013 nach Libyen kam, arbeiteten wir zunächst unter der Prämisse, dass wir Resultate sehen würden, wenn wir die Regierung stärkten. Wir kooperierten mit einigen europäischen Ländern, sahen aber nach kurzer Zeit, dass wir nicht vorwärts kamen. Das lag daran, dass die libysche Regierung keinen einvernehmlichen Standpunkt darüber hatte, was sie genau tun wollte. Es gab einen unterschwelligen Machtkampf zwischen zwei Gruppen: Auf der einen Seite diejenigen, die ich manchmal die „Status-quo-Säkularen“ nenne und auf der anderen Seite Gruppen, die die Revolution für eine gute Gelegenheit hielten, einen islamorientierten Staat zu errichten. Also einen Staat, für den die Scharia die Grundlage abgeben sollte – übrigens eine Sichtweise, die von einer Mehrheit in Libyen geteilt wird. Das Problem ist, dass die gegenwärtigen Verhandlungen über diese Prinzipien in einem Sicherheitsvakuum stattfinden. Die bewaffneten Milizen werden von niemandem kontrolliert.
Und doch müssen wir uns darüber klar sein, was wir derzeit in Libyen sehen und was wir eben nicht sehen. Sicher, es besteht ein Element von ideologischer Auseinandersetzung im Land, aber ein großer Bereich hat mit Ideologie nichts zu tun. Stellen Sie sich einfach vor, ein Mafiaboss stirbt und hinterlässt kein Testament. Die Leute werden sich über den Nachlass streiten.
Die Rolle der Regierung in einem funktionierenden Staat besteht darin, den Bürgern gleichen Zugang zum nationalen Einkommen zu ermöglichen. Die Regierung tut das, indem sie Sicherheit, eine Regelungsstruktur und Rechtssicherheit gewährleistet. Aber in Libyen gibt es nichts davon. Deswegen kämpfen die Menschen um Zugang: Zugang zu Flughäfen, Zugang zu Ministerien, Zugang zu allem, was die Kontrolle über Wohlstand, Schmuggelrouten, Öl erlaubt. Deswegen ist es so problematisch. Das ist nicht einfach eine Gleichung zwischen den Islamisten auf der einen Seite und nationalen Alliierten auf der anderen Seite.
Gibt es nun einen speziellen Punkt nach dem Sturz Gaddafis, an dem alles aus der Hand glitt? Nun, die Dinge waren auch vorher nie in Ordnung gewesen. Nach dem Sturz Gaddafis waren die Mitglieder des Transitional National Councils (TNC) der Meinung, dass sie alles unter Kontrolle hatten. Sie waren davon überzeugt, dass es ihnen gelingen würde, das Land zu strukturieren und zu entwickeln. Aber heutzutage glaube ich, dass sie ihr Land zumindest teilweise selbst nicht gut genug kannten. Viele von ihnen hatten jahrzehntelang außer Landes gelebt. Sie kamen mit einem Konstrukt im Kopf an und sagten der internationalen Gemeinschaft, sie wollten keine Truppen im Land. Aber tatsächlich haben sie aufgrund ihrer internen Bruchlinien im Versuch Strukturen zu errichten keine einzige interne Frist eingehalten.
Was hätte die internationale Gemeinschaft anders angehen sollen?
Manche argumentieren heute, die UN-Präsenz sei zu klein und zu bescheiden gewesen. Aber die Libyer selbst wollten keine stärkere äußere Einmischung. Meiner persönlichen Meinung nach hat die internationale Gemeinschaft im Juli 2012 einen der größten Fehler begangen, als Libyen gerade einen neuen General National Council (GNC) gewählt hatte. Erst waren alle hocherfreut, denn der GNC war angeblich nur aus nicht-ideologischen Technokraten zusammengesetzt. In Wirklichkeit dauerte es nicht lange, bis die Spannungslinien ans Tageslicht kamen.
Der größte einzelne Fehler war hier vielleicht das politische Isolationsgesetz, das dem GNC aufgezwungen wurde. Das Gesetz kriminalisierte Beamte, die für Gaddafi gearbeitet hatten. Im Grunde genommen wurde der GNC von einer Miliz gezwungen, in einer bestimmten Weise abzustimmen und die internationale Gemeinschaft tat nichts dagegen. Wir erklärten nur, dass die Libyer dieses Problem selbst lösen sollten. Vielleicht ist es naiv, aber das war ein riesiger Fehler. Denn es hat ein Muster für eine nicht repräsentative Demokratie eingeführt. Als dieser Trend begann, ging es sehr schnell abwärts.
Wie sehen die Perspektiven für das Bilden einer Einheitsregierung aus? Oder wie kann politischer Konsens sonst gefördert werden?
Werden wir jetzt versuchen, eine Regierung der Nationalen Einheit zu erzwingen? Nein. Internationale Anerkennung ist wichtig. Aber letztlich hängt in jeder Demokratie die Legitimität der Regierung davon ab, ob sie dazu fähig ist, einen zentralen Konsens in ihrer Wählerschaft zu etablieren. Wir haben dem legitim gewählten Repräsentantenhaus unsere Unterstützung zugesichert. Zugleich haben wir klar gemacht, dass wir nicht jede Handlung, die es unternimmt unterstützen.
Für viele Staaten ist das Konzept des Nationalstaates in schwere Not geraten. Wir müssen betonen, dass fundamentale Freiheitsrechte für uns am besten im Rahmen des Nationalstaates geschützt werden.
Wir befinden uns momentan im Prozess, eine gemeinsame Sprache zu finden. Wie haben dafür zehn Prinzipien ausgearbeitet, die derzeit in ganz Libyen kursieren. Mit diesen Prinzipien fragen wir: Können sich die Libyer über diese Prinzipen als Dialogbasis verständigen und sich dann den wichtigeren Bereichen stellen? Diese Prinzipien sind ein lebendiges Dokument, das die Parteien weiter entwickeln können. Wir hoffen, dass es dabei helfen wird, neue Brücken zu schlagen. Der Prozess der Verfassungsentwicklung läuft und ist ein kritischer Bestandteil der Transition.
Viele Beobachter sind davon überzeugt, dass sich in Libyen derzeit eine neue Front in einem arabischen Stellvertreterkrieg entwickelt. Wie sehen Sie das?
Wir haben unsere Auffassung deutlich gemacht, dass Einmischung von außen die Situation nur verkomplizieren würde.
Außer natürlich die Interventionen gehen von westlichen Kräften aus?
Sie spielen auf Bombardierungen gegen einen Diktator an? Nun, damals lagen spezielle Umstände vor. Sicher, man kann die legitime Frage stellen, ob externe Kräfte jemals irgendwo eingreifen sollten. Doch das ist eine fragwürdige Position.
In der aktuellen Lage in Libyen droht äußeres Eingreifen die Lage zu verschlimmern und zu beschleunigen, was im Grunde genommen schon passiert. Und das kann genau zu dem führen, was wir nicht wollen. Die Konsequenz wäre eine Destabilisierung der Region, die ISIS, ISIL bzw. Daesh und anderen die Tür öffnet.
Mehrere Staaten in der Region haben klar gemacht, dass das für sie eine existentielle Frage ist. Ich denke, dass es wichtig ist, zu unterstreichen, wofür wir sind und dabei auch unsere Verbündeten zu ermutigen. Wir müssen klar machen, dass unsere Unterstützung für Demokratie keine Unterstützung für Chaos und Anarchie oder die Machtübernahme irredentistischer islamistischer Bewegungen impliziert. Für viele dieser Staaten ist das Konzept des Nationalstaates in schwere Not geraten. Wir müssen betonen, dass fundamentale Freiheitsrechte für uns am besten im Rahmen des Nationalstaates geschützt werden.
Die Fragen stellte Michael Bröning





1 Leserbriefe