Die Fragen stellte Nikolaos Gavalakis.
Präsident Trumps Rede vor der UN-Generalversammlung deutet auf einen weiteren Rückzug der USA aus dem Multilateralismus hin. Was bedeutet das für die internationale Ordnung?
Ich glaube nicht, dass es nur ein Rückzug ist – es ist ein Angriff auf den Multilateralismus. Viele Annahmen, auf denen die Welt lange beruhte, werden gerade infrage gestellt. Nehmen wir den Klimawandel: Es hat schon immer Leugner gegeben, aber wenn der US-Präsident ihn als Betrug bezeichnet, ist das ernst. Die USA sind die größte Volkswirtschaft der Welt, und innenpolitisch haben sie einen Großteil ihrer früheren Klimapolitik bereits zurückgedreht und setzen wieder stärker auf fossile Energien. Ob man dem nun zustimmt oder nicht – die Richtung ist klar.
Beim Handel hat Trump das WTO-System attackiert. Er verändert die Spielregeln im Umgang mit Amerikas Verbündeten durch seine Zollpolitik. Wir stehen an einem kritischen Punkt in der Entwicklung des Multilateralismus – sowohl seit 1945 als auch nach 1991.
Wenn die USA sich aus multilateralen Institutionen oder aus dem Multilateralismus insgesamt zurückziehen, welche Mächte sind am ehesten in der Lage, dieses Vakuum zu füllen?
Ich glaube nicht, dass es wirklich möglich ist, dass eine einzige Macht diesen Raum ausfüllt. China redet zwar viel über Multilateralismus, über Weltordnung und Globalisierung. Aber Pekings Ansatz ist problematisch. China hat den Handel politisch instrumentalisiert, kontrolliert etwa 40 Prozent der weltweiten Produktion und hat sein Monopol auf seltene Erden als Druckmittel eingesetzt. Das macht es schwer, sich als glaubwürdiger Garant der Weltordnung darzustellen. Und wenn China weiterhin in so großem Maßstab exportiert, aber sehr wenig importiert, dann ist ein solches Ungleichgewicht einfach keine tragfähige Grundlage für ein neues System.
Was wir tatsächlich brauchen, ist, dass sowohl die Vereinigten Staaten als auch China ihr Vorgehen anpassen. Selbst innerhalb der Trump-Regierung haben einige Beamte erkannt, dass das, was wir beim Handel und bei der WTO sehen, nur der Anfang einer größeren Neuverhandlung ist. Irgendwann werden die führenden Volkswirtschaften zusammenkommen müssen und sich auf neue Regeln einigen – entweder durch eine große Verhandlungsrunde wie damals bei der WTO oder in einer kleineren Gruppe von großen Volkswirtschaften, deren Rahmen andere später übernehmen.
In Fragen der Sicherheit hat die UN nie wirklich als Sicherheitsgarant funktioniert.
Der Multilateralismus hat seit 1945 vor allem im wirtschaftlichen Bereich funktioniert. Im politischen oder sicherheitspolitischen Bereich hat er jedoch nie wirklich effektiv gewirkt. Trotzdem haben manche Organisationen – etwa die Weltgesundheitsorganisation, die Internationale Arbeitsorganisation, die Internationale Fernmeldeunion und andere, einige von ihnen sogar älter als die UN – sich als widerstandsfähig erwiesen und werden fortbestehen. Was die Wirtschaft angeht, braucht es jedoch einen neuen Rahmen. In Fragen der Sicherheit hat die UN nie wirklich als Sicherheitsgarant funktioniert – und wird es wahrscheinlich auch nie tun.
Viele im Westen sprechen davon, die sogenannte „regelbasierte Ordnung“ zu verteidigen. Wenn wir auf die Kriege in der Ukraine und in Gaza blicken: Gehört sie nicht der Vergangenheit an?
Heuchelei war schon immer Teil der internationalen Politik. Im besten Fall ist die regelbasierte Ordnung ein Wunschziel. In Wirklichkeit wird sie jedoch öfter verletzt als respektiert. Wenn man auf die Welt nach 1945 schaut, dann hat die sogenannte liberale internationale Ordnung eigentlich nie gegolten, insbesondere wenn es darum ging, wie westliche Länder mit der nichtwestlichen Welt umgegangen sind – die Putsche, die Interventionen, all das. Im Kalten Krieg ließ sich fast alles im Namen des größeren strategischen Spiels rechtfertigen.
Nach 1991 gab es das Gefühl, dass die USA und der Westen endlich globale Regeln setzen und auch durchsetzen könnten. Aber dieser Moment dauerte kaum ein Jahrzehnt. Für eine kurze Zeit konnte man sich vorstellen, die supranationalen Strukturen aufzubauen, die für eine solche Ordnung nötig wären. Doch als Russland nicht mehr mitspielte und begann, aufzubegehren, und als China mächtiger wurde, wurde dieses Gefüge schnell unhaltbar.
Auch die US-Politik im Nahen Osten passte nie wirklich zu der Idee einer regelbasierten Ordnung. Sie hat die Kluft zwischen der Rhetorik des Westens und seinem tatsächlichen Handeln besonders offengelegt. Was uns bleibt, sind keine Regeln, sondern ein nackter Machtkampf. Einfach die Phrase „regelbasierte Ordnung“ zu wiederholen, bringt uns heute nicht mehr weiter.
Ein Ende des Krieges in der Ukraine ist nicht in Sicht. Welche Ratschläge würden Sie den Europäern geben, wie sie weiter vorgehen sollten?
Europa steckt heute in einer tiefen Krise. Russland ist eine starke Militärmacht und hat seinen Nachbarn angegriffen. Gleichzeitig sendet die US-Regierung zwiespältige Signale, ob sie tatsächlich Kurs halten wird. In Amerika fragen viele, warum das Land Kriege in weit entfernten Regionen führen sollte. Die Unterstützung der USA für die Ukraine ist also höchst unsicher. Die Biden-Regierung sagte früher: „Wir werden die Ukraine verteidigen, koste es, was es wolle.“ Trump sagt das nicht. Tatsächlich hält er es für eine gute Idee, Territorium gegen Frieden zu tauschen. Nun ändern sich einige seiner Positionen immer wieder, aber er hat bereits genug Unsicherheit geschaffen, um Europa zu zwingen, viel mehr aus eigener Kraft zu tun.
Ob Europa sich kurzfristig zusammenraufen kann, ist zweifelhaft.
Ob Europa sich kurzfristig zusammenraufen kann, ist zweifelhaft. Aber langfristig ist es Zeit, dass Europa echte Abschreckung gegenüber der russischen Herausforderung bereitstellt. Europas Wirtschaftskraft liegt bei fast 20 Billionen Dollar, Russlands bei rund zwei Billionen. Die Vorstellung, Europa könne nicht die nötigen Verteidigungsfähigkeiten aufbauen, um mit Russland fertigzuwerden, ist schlicht lächerlich. Die Ressourcen und die Kapazitäten sind vorhanden. Die Probleme betreffen Personal, Rüstungsproduktion und den politischen Willen. Aber die Geschichte zeigt, dass schwierige Umstände Länder zwingen können, Dinge zu tun, von denen sie dachten, sie seien unmöglich.
Sie haben die Unsicherheiten unter Trump angesprochen. Seine Haltung gegenüber Indien hat sich auch geändert – von einer engen persönlichen Beziehung zu Premierminister Modi hin zu hohen Zöllen und öffentlicher Kritik. Wie sehen Sie diesen Wandel?
Indien fährt eine neue Strategie: nicht öffentlich mit ihm streiten, aber in der Sache hart bleiben. Ich glaube nicht, dass die Beziehung nur wegen Trumps eigenwilligen Verhaltens zusammengebrochen ist. Am Ende ist Trump nicht die Vereinigten Staaten. Als Präsident hat er enorme Macht, ja, aber das größere Engagement der USA mit Indien – beim Aufbau eines regionalen Machtgleichgewichts im Indopazifik – wird nicht einfach verschwinden, nur weil Trump austeilt und Indien in seinem Kampf mit Russland zum Kollateralschaden macht.
Mein Eindruck ist, dass die Geschichte der beiden Länder damit nicht zu Ende ist. Er hat sich in letzter Zeit schon ein bisschen beruhigt. Die indisch-amerikanische Beziehung kann das überstehen, weil beide Seiten ein grundlegendes Interesse an einem stabilen Asien teilen – und dieses Interesse verschwindet nicht. Im Gegensatz dazu werden die Beziehungen zwischen den USA und China schwierig bleiben, selbst wenn Trump glaubt, er könne mit Xi Jinping einen Deal machen – so wie er einst dachte, er könne mit Putin einen Deal machen. Diese Versuche sind nicht sehr weit gekommen. Indien ist derweil groß genug, die Zähne zusammenzubeißen und durchzuhalten. Es kann mit Trump umgehen, ohne in Panik zu geraten.
Indien pflegt enge Beziehungen zu Russland, was in Europa viele als hoch problematisch ansehen. Die herzliche Umarmung von Modi mit Putin bei der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit, stieß auf scharfe Kritik. Wie sehen Sie das?
Zunächst einmal sollten wir nicht vergessen, dass Deutschland auch nach der Invasion auf der Krim eine solide Beziehung zu Russland aufrechterhalten hat. Zwischen 2014 und 2022 hat Deutschland seine Wirtschaftsbeziehungen mit Russland nicht eingestellt. Ich verstehe zwar den Ärger in Europa, aber Indiens Beziehung zu Moskau wird auch überschätzt.
Historisch reichen die Verbindungen weit zurück. Für die indische Nationalbewegung, die in der Zwischenkriegszeit heranwuchs, war die Sowjetunion ein Befreier – antikolonial, antiimperialistisch. Dieses Gefühl steckt noch in unserer DNA. In Indien haben wir Russlands imperiales Verhalten in Europa nie direkt erlebt. Während des Kalten Krieges rückten Indien und die Sowjetunion enger zusammen, während die USA und Europa sich mit Pakistan verbündeten. Dieses Erbe wirkt bis heute nach.
Gleichzeitig nimmt Russlands Gewicht für Indiens Sicherheit bereits ab. Russlands BIP liegt bei etwa zwei Billionen Dollar, Indiens bei rund vier Billionen, und Indien wächst viel schneller. Die Lücke wird also nur größer werden. Indien diversifiziert sich bei den Rüstungsanschaffungen, indem es mehr aus Frankreich, Israel und den USA kauft. Der Ukrainekrieg und die Ölkäufe haben die Beziehung zwar ins Rampenlicht gerückt, aber strukturell ist sie ziemlich begrenzt – es geht vor allem um Öl und Verteidigung. Darüber hinaus gibt es wenig Handel und wenig direkte Kontakte zwischen den Menschen. Es ist keine florierende Beziehung.
Bei uns wurde Russland immer als progressive Kraft wahrgenommen.
Aber wenn Europa Indien sagt, ihr dürft nicht mit Putin Handel treiben, während Trump gleichzeitig offen darüber spricht, mit Russland Deals zu machen, und US-Ölfirmen dort Zugang wollen – dann sieht das nach doppelten Standards aus.
Zugleich stimme ich zu, dass Indien die europäischen Sorgen über Russlands Aggression besser verstehen muss. Es gibt eine Tendenz, das nicht zu sehen, weil wir keine historische Erinnerung an Russland als imperiale Macht in Europa haben. Bei uns wurde Russland immer als progressive Kraft wahrgenommen. In Afrika und anderswo ist das ähnlich. Genau da müssen wir einander besser verstehen: unsere Geschichte und unsere jeweiligen Hintergründe.
In letzter Zeit ist vermehrt von einer möglichen Annäherung zwischen Indien und China die Rede. Wie beurteilen Sie die Lage?
Indien steckt in Bezug auf China in einem ernsthaften Dilemma. Einerseits ist China ein riesiger Nachbar, und wir teilen eine 3 800 Kilometer lange, umstrittene Grenze. Wir brauchen aber friedliche Koexistenz. Andererseits müssen wir auch Chinas territoriale Anspruchshaltung ausbalancieren. Wir müssen beides tun: eine vernünftige Beziehung aufbauen und zugleich sicherstellen, dass unsere Sicherheitsinteressen geschützt sind.
Dasselbe Dilemma gibt es wirtschaftlich. China ist die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt, und wir müssen mit dem Land Handel treiben. Jahrzehntelang glaubte Indien, dass engerer Handel politische Spannungen abmildern würde. Heute ist die wirtschaftliche Beziehung selbst zum Problem geworden. Wir verzeichnen ein Handelsdefizit von 100 Milliarden Dollar, und ein großer Teil unserer Industrie wurde durch chinesische Dumpingpreise untergraben. Gleichzeitig können wir China nicht einfach abschneiden, weil viele unserer eigenen Exporte weiterhin von Importen aus China abhängen.
Deshalb müssen wir eine neue Art von Beziehung gestalten, die sowohl das wirtschaftliche Ungleichgewicht als auch die Territorialfragen adressiert. Was Premierminister Modi beim Treffen mit Xi Jinping im Rahmen der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit getan hat, war kein Durchbruch, sondern die Wiederaufnahme des Dialogs. Nach der Grenzkrise von Ladakh 2020 lag erstmal alles auf Eis. Jetzt versucht man, die Beziehung wieder aufzutauen. Das ist ein dringend nötiger Schritt, aber ich würde in absehbarer Zeit keine strategischen Durchbrüche erwarten.
Sehen Sie China nicht als Bedrohung? Schließlich soll die gesamte „Hinwendung nach Asien“ der USA Peking eindämmen.
Natürlich ist es eine Bedrohung – und zwar für uns eine viel größere als für Europa. Für euch ist China ein Markt, eine Chance. Für uns ist es ein Nachbar, mit dem wir territoriale Streitfragen, wirtschaftliche Reibungen sowie Spannungen wegen Chinas Beziehungen zu Pakistan und Bangladesch haben. Man kann China jedoch nicht wirklich „eindämmen“. Man muss beides: ein Gegengewicht bilden und gleichzeitig miteinander verhandeln. Genau das ist die Herausforderung für Indien: die Streitpunkte zu managen und zugleich einen Weg zu finden, mit einem sehr mächtigen Nachbarn zu koexistieren.