Das Interview führte Claudia Detsch.
In den letzten zwei Wochen kam es in Kolumbien zu massiven Protesten gegen die Regierung. Die Polizei reagierte darauf sehr gewaltsam, mindestens 39 Menschen wurden mutmaßlich durch die Polizeigewalt getötet. Was war der Auslöser dieser Proteste?
Offiziell waren es 450 000 Menschen, die im gesamten Land – mitten in der dritten Pandemiewelle – protestierten. Ein Streikkomitee hatte zum Generalstreik aufgerufen. Dort sind Gewerkschaften, Studierende und Gremien vertreten. Der Protest richtete sich zunächst gegen eine geplante Steuerreform – die dritte übrigens, seit Präsident Iván Duque 2018 sein Amt angetreten hat. Diese Reform wurde sehr schlecht kommuniziert, zudem war sie völlig überambitioniert. Ziel war es, das Steueraufkommen auszuweiten. Progressive Elemente der Reform hätten zwar geholfen, die zuletzt stark gestiegene Armut zu bekämpfen – circa 42 Prozent der Bevölkerung gelten inzwischen als arm.
Allerdings waren kaum Umverteilungsmechanismen für das Vermögen des reichsten Prozents der Gesellschaft eingeplant. Die Hauptlast hätten Menschen getragen, die monatlich weniger als den gesetzlichen Mindestlohn verdienen. Das Gros der Bürgerinnen und Bürger sah nicht ein, wieso es inmitten der Pandemie die Kosten der Sozial- und Wirtschaftskrise stemmen sollte. Obwohl die Protestierenden einen Teilsieg errangen und die Reform gekippt wurde sowie der Finanzminister zurücktrat, gingen die Menschen auch am darauffolgenden ersten Mai und seitdem ununterbrochen auf die Straße.
Warum gehen die Proteste unvermindert weiter, wenn die Reform inzwischen vom Tisch ist?
Es geht um wesentlichere Dinge als die Steuerreform oder die ebenfalls umstrittene Gesundheitsreform. Das Land befindet sich seit 2016 in einem komplexen Friedensprozess, der auf eine epochale Neuausrichtung abzielt. Die soziale, politische und wirtschaftliche Ordnung werden neu definiert. Das wiederum führt zu Verteilungskämpfen, zu Gewinnern und Verlierern. Es fehlt in dem Prozess an Richtung und Führungsstärke. Die Regierung steht ihm kritisch, um nicht zu sagen ablehnend gegenüber. Sie hat ihn finanziell ausgeblutet und seine Umsetzung ins Stocken gebracht. Besonders die hohe Mordrate bereitet große Sorgen. An die 1 000 Vertreterinnen und Vertreter von Menschenrechtsgruppen, Community Leader und demobilisierte FARC-Kämpfer wurden bereits getötet.
Noch dazu hat die Pandemie die soziale Ungleichheit im Land wie mit einem Brennglas hervorgehoben und vielfach verschärft. Diese Ungleichheit heizt die bestehenden Konflikte weiter an. Deshalb haben die Protestierenden viele unterschiedliche Forderungen. Bedrückend ist, dass immer mehr Protestierende, gerade Jüngere, von einem Gefühl der Hoffnungslosigkeit sprechen, das sie überkommt, wenn sie an die Zukunft denken.
Es finden sich also viele sehr unterschiedliche Protestgruppen auf der Straße. Gibt es trotzdem einen gemeinsamen Nenner, der über die Ablehnung der Regierung hinausgeht?
Der Zuspruch zum Friedensabkommen ist seit der verlorenen Volksabstimmung 2016 deutlich gestiegen. Jetzt ist über die Hälfte der Bevölkerung für seine Umsetzung. Unabhängig von Einkommensgruppen oder der regionalen Herkunft sehnen sich die Menschen in Kolumbien nach Ruhe und besseren Lebenschancen. Sie wollen keinen Krieg mehr. Der Staat soll Menschenrechte besser schützen, besonders auch die Wirtschafts- und Sozialrechte und das demokratische Recht auf friedliche Demonstrationen akzeptieren. Die Protestierenden fordern zusätzlich eine Reform der Polizei beziehungsweise des Sicherheitssektors. Dieses Thema wurde in den Friedensverträgen mit der ehemaligen Guerilla FARC 2016 noch bewusst ausgeklammert.
Warum reagieren die kolumbianischen Sicherheitsbehörden so brutal?
Polizei und insbesondere Armee haben tatsächlich mit massiver Gewalt reagiert. Sie begründen das mit den Ausschreitungen einzelner Gruppen, mit der Unterwanderung der Proteste durch bewaffnete Akteure, mit Vandalismus und Sachbeschädigung, aber auch mit abstrusen Verschwörungstheorien. Der Direktor von Human Rights Watch vertritt die Ansicht, dass es bei den Protesten der letzten 14 Tage ein in Lateinamerika zuvor unbekanntes Maß an Polizeigewalt gegeben hat. Er habe auf dem Kontinent noch nie „Panzer gesehen, die Mehrfachgeschosse für Tränengasprojektile unter anderem mit hoher Geschwindigkeit horizontal auf Demonstrierenden gefeuert hätten. Eine höchst gefährliche Praxis“.
Die durch den Präsidenten angeordnete Militarisierung einiger Städte hat das Problem verschärft und die Verständigung zwischen Demonstrierenden, lokaler Regierung und der Armee zusätzlich erschwert. In Kolumbien untersteht die Polizei der Armee. Doch es lässt sich ein eindeutiger Unterschied feststellen, dort, wo die Armee selbst zum Einsatz kam. Einige Bürgermeister haben sich vehement gegen die vom Präsidenten vorangetriebene Militarisierung gestellt. Es braucht eine Reform des Sicherheitssektors. Allerdings ist fraglich, ob diese unter der aktuellen Regierung zielführend wäre. Kolumbien darf nicht mehr länger vom „Feind im Inneren“ ausgehen. Ziel sollte es sein, dass die Polizei die Menschenrechte, darunter auch das Recht auf friedliche Demonstrationen, aktiv schützt und so die Demokratie und ihre Institutionen stärkt.
In ganz Lateinamerika häufen sich in den letzten Jahren die Proteste gegen das neoliberale Wirtschaftsmodell. Richtig in Bewegung zu geraten scheint aber letztlich doch wenig – ist die Macht der Wirtschafts- und Finanzelite derart unantastbar?
Wie überall sonst auf der Welt ist die Wirtschafts- und Finanzelite ein eher heterogenes Gebilde. Zudem haben die Wirtschafts- und Finanzeliten in unterschiedlichen Teilen des Landes unterschiedliche Interessen. Zuweilen entsteht der Eindruck, nach der Unabhängigkeit habe sich eine eigene hausgemachte Kolonialpolitik zur wirtschaftlichen Ausbeutung einiger Regionen entwickelt. Ebenso hat die Bevölkerung unterschiedliche Forderungen. Wie man die Wirtschaft demokratisieren, für mehr und humanere Beschäftigung sorgen und so die wirtschaftlichen und sozialen Rechte der Bevölkerung stärken kann, ist eine der großen Herausforderungen der nächsten Jahre.
Hinzu kommt, dass das kolumbianische Wirtschaftssystem wie die meisten in Lateinamerika auf der Ausbeutung und dem Export von Rohstoffen beruht. Angesichts der planetaren Grenzen stößt dieses Modell zunehmend an seine Grenzen. Eine nachhaltige und inklusivere Industriepolitik mit einem Schwerpunkt auf dem Ausbau der Beschäftigung, Investitionen in die Wissenschaft und nachhaltige Entwicklung könnten helfen, um langsam ein neues Wirtschaftssystem zu etablieren.
Kolumbien wird traditionell auf Ebene des Nationalstaats rechtskonservativ regiert. Wie es so oft der Fall ist, macht auch hier ein zerstrittenes linkes Lager der Rechten das Leben leicht. Für die Wahlen im kommenden Jahr formiert sich nun ein linkes Bündnis. Mit Aussichten auf Erfolg?
Es kokettieren an die 20 Bewerber im Mitte-links-Spektrum mit dem Präsidentenamt – erstmals sogar zwei feministische Kandidatinnen. Alle suchen nach der Unterstützung breiter gesellschaftlicher Allianzen. Parteien spielen eine untergeordnete Rolle. Anders als in der Vergangenheit haben sich tatsächlich Bündnisse gebildet, die Mehrheiten in der Mitte bzw. links der Mitte mobilisieren wollen.
Der angesprochene „Historische Pakt“ (Pacto Historico) ist ein Zusammenschluss der sozialen Bewegung um Gustavo Petro (Herausforderer Iván Duques in der Stichwahl 2018). Er ist laut Umfragen der aussichtsreichste Kandidat und mobilisiert Wählerinnen und Wähler gemeinsam mit der linken Partei, dem demokratischen Pol (Polo Democratico) sowie Einzelpolitikern, die das bürgerliche Lager verlassen haben.
Das zweite Bündnis ist die „Koalition der Hoffnung“ (Coalicion de esperanza). Hier gilt Sergio Fajardo, der Drittplatzierte von 2018, als Favorit. Leider birgt diese Konstellation die Gefahr, dass sich das Szenario von 2018 wiederholt – dass Petro und Fajardo sich also gegenseitig Stimmen wegnehmen. Falls dann Gustavo Petro in die Stichwahl einzöge, könnte das Motto wieder „alle gegen Petro“ lauten. Dann könnte es sein, dass sich die Politiker des Mitte-links-Spektrums damit auseinandersetzen müssen, nach einer besonders erfolglosen rechtskonservativen Regierung die Chance verspielt zu haben, den für Kolumbien wichtigen demokratischen, politischen Wandel einzuleiten.