Victor Orbán hat das Wahlergebnis mit den Worten kommentiert „Alle Zweifel, alle Sorgen sind zerstreut“. Das dürfte kaum für die Opposition gelten. Welche Schlüsse ziehen die progressiven Parteien aus den Wahlen?

Orbán hat Ungarn bei seiner Siegesrede am Wahlabend als die am meisten geeinte Nation Europas bezeichnet. Tatsächlich ist die Gesellschaft aber tief gespalten und dies hat sich durch den Wahlkampf verschärft. Keiner der Spitzenkandidaten des links-liberalen Wahlbündnisses „Regierungswechsel“ hat dem Regierungschef zum Wahlsieg gratuliert. In ihren Augen war dies ein unfairer Wahlkampf. Das Wahlsystem war von Orbáns Partei FIDESZ zu eigenen Gunsten verändert worden, die Wahlkampfbudgets waren stark ungleich verteilt und die Opposition hatte kaum Zugang zu den Medien. Um überhaupt eine Chance zu haben, mussten die progressiven Kräfte eine Wahlallianz schließen.

Keiner der Spitzenkandidaten des links-liberalen Wahlbündnisses „Regierungswechsel“ hat dem Regierungschef zum Wahlsieg gratuliert.

Dies war ein mühsamer Prozess, der erst knapp drei Monate vor der Wahl abgeschlossen wurde. Er ging zu Lasten eines überzeugenden Angebots an die Wähler und einer ausgefeilten Wahlkampfstrategie. Dazu tauchte im Wahlkampf überraschend eine Reihe von Skandalen auf, die ihre Wurzeln in der Regierungszeit der sozialistischen MSZP vor 2010 hatten. Dies hat  die Glaubwürdigkeit der ungarischen Sozialisten, der stärksten Kraft im Regierungswechsel-Bündnis, stark in Frage gestellt. Dennoch konnte das Bündnis bei den Wahlen um sechs Prozent zulegen. Allerdings blieb es doch weit hinter den eigenen Zielen zurück. Die Aufarbeitung des Wahlergebnisses wird die ungarische Linke mit Sicherheit noch einige Zeit beschäftigen. Dabei muss sie sich zugleich bereits auf die kommenden Europawahlen konzentrieren.

Die Schere zwischen arm und reich ist in den letzten Jahren auch in Ungarn dramatisch auseinander gegangen. Warum hat es die Opposition nicht geschafft, Orbán wirklich gefährlich zu werden?

Nur Dank des neuen Wahlsystems konnte Orbán seine Zweidrittelmehrheit verteidigen. Tatsächlich hat sein Parteibündnis knapp 660.000 Stimmen verloren. Die Oppositionsparteien haben zusammengenommen mehr Stimmen erhalten. Dennoch ist Orbans Bündnis aus FIDESZ und KDNP die populärste Partei und konnte 96 von 106 Wahlkreise direkt gewinnen. Viktor Orbán gibt sich gerne als Freiheitskämpfer gegen innere und äußere Feinde des Landes. Diese nationalistische Rhetorik, die große Ideen für die großen Probleme des Landes anbietet, kommt bei seinen Stammwählern gut an.

Offenbar konnte er auch viele Unentschlossene mit seinem Kampf gegen die Wohnnebenkosten für sich einnehmen. Er verordnete mehrfach eine Reduzierung der Nebenkosten wie Strom, Gas oder Wasser zu Lasten der zumeist multinationalen Versorgungsunternehmen. Die Ersparnisse müssen auf den Rechnungen in einem in FIDESZ-Orange hervorgehobenen Kasten ausgewiesen werden. Das war quasi kostenlose monatliche Wahlwerbung in jeden Haushalt. Dagegen konnte die linke Opposition mit ihren Vorschlägen zu einer sozial ausgewogeneren und mehr auf Nachhaltigkeit setzende Politik nicht wirklich punkten.

Zugleich hat Orbán einen deutlichen Anti-EU-Kurs gefahren. Dem europäischen Parlament warf er „Sowjetmethoden“ und eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten vor. Was bedeutet seine Wiederwahl für Ungarns zukünftige Rolle in der EU?

Die sehr wahrscheinlich wieder erreichte Zweidrittelmehrheit versteht die Regierungsmannschaft als klare Zustimmung zum offensiven national-populistischen Regierungsstil Orbans. Im Europawahlkampf wird er sich zwar, zur Abgrenzung von Jobbik, die für einen EU-Austritt wirbt, als Pro-Europäer präsentieren. Aber er wird auch klar machen, dass er eine andere Europäische Union will. Eine EU, die sich weniger in - aus seiner Sicht - nationale Belange einmischt.

Mittelfristig ist damit zu rechnen, dass er auch zunehmend auf der europäischen Bühne versuchen wird, seinen national-konservativen Kurs, der auf populistische Maßnahmen, Betonung gemeinsamer christlicher Wurzeln und scharfe Kritik an linker und links-liberaler Politikentwürfe setzt, salonfähig zu machen. Auch bisher haben seine Kollegen aus der Europäischen Volkspartei kaum öffentliche Kritik an seiner Politik geübt. Es wird sich zeigen, ob dies so bleibt, wenn Orbán gestärkt durch sein Wahlergebnis noch forscher und offensiver in der europäischen Öffentlichkeit auftritt.

Könnte sich diese Forschheit auch auf Ungarn selbst beziehen? Mit einer Zweidrittelmehrheit könnte er die Verfassung nach Belieben ändern. 

Sein Bündnis verfügt nach dem jetzigen Stand über 133 von 199 Mandate. Allerdings werden noch die Auslandsstimmen ausgezählt und es laufen Nachzählungen. In einem Wahlkreis liegen die beiden Kandidaten zwischen rechts und links nur 22 Stimmen auseinander. Es könnte also noch sein, dass die Zweidrittelmehrheit doch nicht verteidigt werden kann und ein Sitz fehlt. 

Allerdings wurde ja bereits in der letzten Legislaturperiode eine neue Verfassung verabschiedet und diese dann noch fünf Mal geändert. Für die Regierung wichtige Gesetze erhielten Verfassungsrang und können zukünftig nur mit einer Zweidrittelmehrheit geändert werden. All dies geschah ohne eine ernsthafte Einbeziehung der Opposition oder eine breite gesellschaftliche Diskussion. Der Rahmen für die Entwicklung Ungarns ist also bereits gesteckt. Auch ohne verfassungsändernde Mehrheit könnte Viktor Orbán komfortabel regieren. Aber sollte er wieder über eine Zweidrittelmehrheit verfügen, wird er diese auch einsetzen, wenn es seinen Zielen dient.

 

Die rechtsradikale Jobbik-Partei, die antisemitische und romafeindliche Positionen vertritt, ist mit gut 21 Prozent beinahe so stark wie das Bündnis um die ungarischen Sozialisten. Wieviel Einfluss wird Jobbik in Zukunft nehmen können?

Die rechtsextreme Jobbik hat sich mit ihrem Ergebnis von über 20 Prozent nun fest im ungarischen Parteiensystem etabliert. Sie erzielte landesweit gute Ergebnisse und nicht nur in Ostungarn oder in ländlichen Regionen, wie noch bei der letzten Wahl. In 41 der insgesamt 106 Wahlkreise landete ihr Direktkandidat auf dem zweiten Platz. Dennoch waren die Parteivorderen am Wahlabend sichtlich enttäuscht, sie hatten mehr erwartet.

Die Jobbik-Wähler kommen aus allen Schichten der Bevölkerung, besonders junge Menschen aller Bildungsniveaus fühlen sich von dem nationalistischen und rechtsextremistischen Gedankengut stark angesprochen. Viele Jobbik-Wähler haben früher die sozialistische Partei gewählt. Doch sie sind zumeist enttäuscht vom herrschenden System, von den etablierten Parteien, der Korruption und der unzureichenden Regierungsleistung.

Die Strategie der progressiven Kräfte eines „Cordon sanitaire“ gegenüber den Rechtsextremen wird zukünftig nicht mehr möglich sein.

Hinzu kam, dass sich Jobbik  für den Wahlkampf ein moderateres Auftreten verordnet hatte. Die Plakate zeigten glückliche ungarische Großfamilien während der Parteivorsitzende Jobbik als neue Volkspartei anpries. In der letzten Legislaturperiode hat Viktor Orban wiederholt Initiativen der Rechtsaußen-Partei aufgegriffen, um deren Wähler an FIDESZ zu binden. Diese Strategie ist nicht aufgegangen. Im Gegenteil: Sie hat Jobbik nun hoffähig gemacht. Aber auch die Strategie der progressiven Kräfte eines „Cordon sanitaire“ gegenüber den Rechtsextremen wird zukünftig nicht mehr möglich sein.