In dieser Woche reist die EU Außenbeauftragte Mogherini nach Kuba. In welche Richtung wird sich die Kuba-Politik der EU künftig entwickeln?

Zunächst: Die Reise hat einen hohen Symbolwert. Es ist das erste Mal, dass eine europäische Außenministerin auf die Insel reist. Mogherinis Reise soll dem besonderen Interesse der EU am Abschluss eines neuen Kooperationsabkommens zwischen Kuba und der Union politisch Nachdruck verleihen. Die Verhandlungen werden von Spitzenbeamten geführt. Das neue Abkommen soll die sogenannte Gemeinsame Position aus dem Jahr 1996 ablösen, die eine Intensivierung der Zusammenarbeit von Fortschritten bei Demokratisierung und Menschenrechten abhängig machte, und die von Kuba stets als Einmischung in die inneren Angelegenheiten betrachtet wurde. Diese Konstellation hatte in den letzten Jahren Fidel Castros bis 2006 zu so etwas wie einer Eiszeit in Tropen geführt. Diese Position ist von den neuen Entwicklungen auf der Insel und nicht zuletzt auch durch die neue Dynamik im Verhältnis Kubas zu den USA überholt worden. Das neue Kooperationsabkommen soll sich dabei nicht nur auf Handel und entwicklungspolitische Zusammenarbeit beziehen, sondern auch auf den politischen Dialog. Das ist sicherlich der umstrittenste Punkt, da es hierbei auch um den Umgang mit der Zivilgesellschaft und die Auslegung von Menschenrechten geht. Wichtig ist aber auch festzuhalten, dass die Europäische Union in Kuba eben kein Neuland betritt. Das ist ein Unterschied zu den USA. Anders als Washington haben die EU und viele ihrer Mitgliedsstaaten seit Jahren diplomatische Vertretungen in Havanna. Daher geht die neue Entwicklung der Beziehungen von einem ganz anderen Niveau aus.

Ist Kuba in Zeiten der Umbrüche in Washington derzeit überhaupt prioritär an einer Intensivierung der Beziehungen zu Europa interessiert? Und: ist das Land darauf vorbereitet?

Das Land ist sehr an einer Zusammenarbeit mit der Europäischen Union interessiert. Europa ist der zweitwichtigste Handelspartner des Landes, der zweitgrößte Importeur kubanischer Waren und der wichtigste Investor. Die Beziehungen sind also tatsächlich bereits intensiv.

Aus kubanischer Sicht jedoch sollen sie noch weiter ausgebaut werden – auch und gerade um die kubanische Strategie der Diversifizierung der Außenpolitik weiter zu fördern. Seit zehn Jahren bemüht sich das Land, einseitige Abhängigkeiten hinter sich zu lassen. Dieser Ansatz beruht nicht zuletzt auf den Erfahrungen der einseitigen Abhängigkeit von der UdSSR bis Anfang der 90er Jahre und der anschließenden Abhängigkeit von Venezuela. Aus dem Scheitern dieser beiden Staaten hat die Regierung in Havanna die Konsequenz gezogen und Beziehungen zu anderen lateinamerikanischen Staaten wie Brasilien und Argentinien aber eben auch zur Europäischen Union  und nach Asien zu China und Vietnam intensiviert.

Seit zehn Jahren bemüht sich das Land, einseitige Abhängigkeiten hinter sich zu lassen.

Dabei gilt: Natürlich ist der politische Wandel in den Beziehungen zu den USA wichtig. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund der traditionellen engen historischen Beziehungen und der Bedeutung der kubanischen Diaspora in den USA. Aber hier ist zu beachten, dass das US-Embargo nur vom Kongress aufgehoben werden kann. Was Präsident Obama nun mit präsidentiellen Erlassen praktiziert, ist eine Politik der kleinen Schritte. Eine Politik, die den menschlichen Austausch fördert und auf Wandel durch Annäherung setzt, wenn man einen Vergleich mit Willy Brandt ziehen will. Das wird durchaus Wirkung erzielen, etwa dadurch, dass die Diaspora sich jetzt stärker in Kuba engagieren kann. Und natürlich ist es symbolisch von Bedeutung. Denn  es ist ein Eingeständnis, dass die US-Politik gescheitert ist, die Insel  mit dem Embargo politisch in die Knie zwingen zu wollen. Aber der Politikwandel in Washington sollte auch nicht überschätzt werden.

Wandel – zumindest ökonomischer Natur – wird seit Jahren auch in Kuba propagiert. Was sind die ökonomischen und sozialen Folgen der Reformpolitik Raul Castros?

Seit acht Jahren betreibt Raul Castro eine Reformpolitik, die in Kuba übrigens als „Aktualisierung des sozialistischen Modells“ verkauft wird. Es ist sicher eine kubanische Besonderheit, dass die Wirtschaftskrise des Landes vor allem unter Fidel Castro stets als von außen induziert wahrgenommen worden ist. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion schlitterte Kuba in eine existentielle Krise, die tatsächlich nicht zuletzt vom Wegbrechen der Subventionen und des Comecon-Marktes geprägt wurde. Doch anders als sein Bruder hat Raul Castro die wirtschaftliche Agonie des Landes stets als strukturelles Problem begriffen - als  Folge der ineffizienten zentralen Planwirtschaft. Im Parlament hat er 2010 deutlich Stellung bezogen mit der Ansage: „Wenn wir uns nicht ändern, gehen wir unter“. Das ist ein wirklicher Paradigmenwechsel gewesen und Ausgangspunkt für die nun seit acht Jahren betriebenen Reformen.

Klar ist, dass das Land keine lupenreine Marktwirtschaft anstrebt, sondern eine gemischte Wirtschaft aufbauen will. In dieser hybriden Form sollen wichtige Schlüsselsektoren beim Staat bleiben. Eine wichtige Rolle ist sozialismuskonformen Ansätzen wie Genossenschaften zugedacht. Lediglich im Dienstleistungsgewerbe und in der Klein- und Mittelindustrie sind Elemente der privaten Marktwirtschaft vorgesehen.

Das Land will keine lupenreine Marktwirtschaft, sondern eine gemischte Wirtschaft. In dieser hybriden Form sollen wichtige Schlüsselsektoren beim Staat bleiben.

Diese Änderungen machen sich durchaus im Alltag der Kubaner bemerkbar. Es gibt heute einen Markt für Autos und Immobilien, Konsumgüter sind verfügbar, Handys, Kühlschränke, und private Dienstleistungen vom Gourmet-Restaurant über den Friseur bis zur Kinderkrippe bieten ihre Dienste an. Die Schwachstelle des bisherigen Reformkures ist: Auch nach acht Jahren Aktualisierung liegt die jährliche Wachstumsrate lediglich bei 2-3 Prozent . Das liegt sogar unter dem regionalen Durchschnitt und ist von den Wachstumsraten asiatischer Transformationsländere wie China oder Vietnam weit entfernt. Dort lag das Wachstum in den guten Jahren bei 8-12 Prozent. Das kubanische Wachstum der letzten Jahre ermöglicht keine Kapitalakkumulation, die einen selbsttragenden Aufschwung finanzieren kann  Damit aber bleibt der Handlunsspielraum des Staates begrenzt, und die Reformpolitik weitgehend abhängig von ausländischen Investitionen und den Rücküberweisungen der bis vor kurzem noch als Landesverräter bezeichneten Exilkubaner.

Diese Entwicklung ist die Folge einer politischen Grundsatz-Entscheidung: Die Reformpolitik ist bekanntlich stets unter der Maxime der Aktualisierung unter Führung der kommunistischen Partei durchgeführt worden. Dabei hatte das Motiv der Kontrolle stets Vorrang vor wirtschaftlicher Liberalisierung. Der Reformprozeß ist dadurch langsam und wenig dynamisch. Ein Wachstum, was für ein neues nachhaltiges Entwicklungsmodell des Landes notwendig wäre, wird so kaum zu erzielen sein.

Trotzdem hat die Reformpolitik durchaus soziale Konsequenzen. Wer sind die Gewinner, wer die Verlierer der bisherigen Entwicklung?

Das ist tatsächlich ein weitgehend unterbelichteter Aspekt. Ausländische, auch europäische Beobachter haben sich stets mehr für das Scheitern oder den Erfolg der wirtschaftlichen und politischen Transformation interessiert. Die sozialen Effekte sind dabei immer außen vor geblieben. Dabei ist inzwischen klar, dass wir in Kuba unter der Oberfläche politischer Stabilität den weitreichendsten sozialen Wandel seit der Revolution 1959 erleben. Denn auch die Aktualisierung à la Raul Castro produziert Gewinner und Verlierer.

Mit der Ineffizienz der Wirtschaft hat sich eine Entfremdung zwischen Regierung und Volk eingestellt. Die ökonomische Misere untergräbt den Faktor, der Kuba über Jahrzehnte zusammengehalten und politisch stark gemacht hat: Den postrevolutionären Pakt zwischen Elite und Volk, der politische Loyalität gegen nationale Unabhängigkeit, sozialen Schutz und die Abschaffung der Armut eintauschte.

Angesichts der Ineffizienz des Wirtschaftssystems können die sozialen Errungenschaften, einst der Stolz des kubanischen Sozialismus, schlicht nicht mehr bezahlt werden. Faktisch entscheidet heute auch auf Kuba wieder die individuelle Herkunft über den wirtschaftlichen oder den Bildungserfolg.

Die Schlüsselfrage ist hier: Hat jemand Zugang zu konvertiblen Währungen oder Beziehungen in die kubanische Politik oder ins Ausland? Rentner, weite Teile der Landbevölkerung, Allein-Erziehende und die große Gruppe der Afro-Kubaner sind die Verlierer dieser Entwicklung. Sie drohen, in die Armut abzurutschen. Die Gewinner hingegen sind die ohnehin Privilegierten, die über soziales oder politsches Kapital verfügen,die Ersparnisse haben und/oder Familienmitglieder im Ausland, die Remittenden überweisen. Diese Mehrheit der Habenden ist phänotypisch „weiß“, was sich aus der Geschichte der kubanischen Migration und der daraus resultierenden Zusammensetzung der Diaspora erklärt, die ganz überweigend „weiß“ ist.

Ein Prozess der ethnisch basierten wachsenden Ungleichheit untergräbt inzwischen den zentralen Mythos einer egalitären Gesellschaft.

Dieser Prozess der ethnisch basierten wachsenden Ungleichheit untergräbt inzwischen den zentralen Mythos einer egalitären Gesellschaft. Diese Effekte sind von der Politik nicht intendiert aber faktisch vorhanden. Nur schauen eben die meisten Beobachter auf die Wirtschaftszahlen und nicht auf die gesellschaftliche Entwicklung. Und bisher gibt es keine gezielte Politik der Regierung zum Schutz von besonders verwundbaren gesellschaftlichen Gruppen. So werden viele Afro-Kubaner langsam wieder zu Bürgern zweiter Klasse.

Was kann die EU tun, um eine sozialverträgliche Transformation unter Beachtung der kubanischen Souveränität zu fördern?

Die Europäische Union kann zahlreiche Beiträge zu einem sozialverträglichen Umbau der kubanischen Gesellschaft leisten. Warum? Weil Europa selbst zum Teil leidvolle Erfahrungen mit Transformationsprozessen etwa in Mittel- und Osteuropa gemacht hat. Auf Kuba gemünzt könnte man sagen: Wer zu spät kommt, den belohnt das Leben. Denn der hat die Möglichkeit, aus begangenen Fehlern zu lernen und sie nicht zu wiederholen. Konkret können auch europäische Firmen Erfahrungen in Sachen partizipativer Arbeitsbeziehungen nach Kuba mitbringen. Gewerkschaften in Kuba haben keine Erfahrung mit der Interessenvertretung von abhängig Beschäftigten. Sie waren seit der Revolution der Transmissionsriemen von Staat und Partei. Hier geht es darum, für Kuba passende Übergänge zu identifizieren. Interessant dabei dürften auch die unterschiedlichen Modelle europäischer Sozialstaaten sein. In dem Maße, in dem die paternalistische Vollversorgung der Bevölkerung durch den Staat auf Kuba zuende geht, können europäische Sozialstaatsmodelle zumindest potenziell zur Referenz werden. In Zeiten, in denen das alte sozialistische Narrativ erschöpft ist, steht die Regierung vor der Anforderung, einen neuen Sozialvertrag zu präsentieren. Hier könnte Kuba von Europa aber auch etwa von Brasilien unter Lula lernen –  stärker jedenfalls als vom amerikanischen Kapitalismus, der in diesen Bereichen selber Defizite aufweist.