Masar-e Scharif gehört, neben Herat, zu den sicheren Städten in Afghanistan. Doch Mazars Bewohner hatten Ende September, als die Taliban die 170 Kilometer entfernte Stadt Kundus überrannten, schlaflose Nächte. „Das war ein Schock“ erinnert sich Barakatullah, ein Literaturwissenschaftler und gebürtiger Masari: „Das kann jederzeit auch uns passieren.“

Gänsehaut und Angst. Die Masaris erinnern sich nur zu gut, wie es sich anfühlt, von Taliban überrannt zu werden. 1998 war Masar als letzte Stadt in Afghanistan von den Taliban erobert worden. Massenweise schlachteten sie damals die Masaris ab. Die Leichen, vor allem die der schiitischen Hasara-Minderheit, wurden mehrere Tage auf den Straßen liegen gelassen, um die Einwohner einzuschüchtern.

Auch jetzt rücken die Taliban jeden Tag ein Stück mehr auf Masar-e Scharif zu. Die Präsenz der deutschen Bundeswehr, die hier ihr Hauptquartier in Afghanistan unterhält, scheint sie nicht abzuschrecken. Seit Monaten ist der Landweg zur Hauptstadt Kabul nicht mehr sicher, weil links und rechts der Kreuzung, von wo die Straße zum noch immer umkämpften Kundus abgeht,  afghanische Sicherheitskräfte ihre Operationen durchführen.

Auch von einer Fahrt auf der Straße ins ebenfalls noch als sicher empfundene Herat raten die Einheimischen ab. Schon wenige Kilometer außerhalb Masars lauern Taliban den Reisenden auf. Die Provinz Faryab, die weiter entfernt auf der Strecke nach Herat liegt, ist bereits seit Jahren eine Hochburg der Taliban.

Was bedeutet denn noch „Sicherheit“ in Afghanistan nach dem mehrheitlichen Abzug der internationalen Truppen im Dezember 2014?

Was bedeutet denn noch „Sicherheit“ in Afghanistan nach dem mehrheitlichen Abzug der internationalen Truppen im Dezember 2014? Ein Begriff, so undefinierbar wie die porösen afghanischen Grenzen. Kundus konnte zwar den Taliban wieder entrissen werden. Doch die sitzen geduldig in allen umliegenden Distrikten der Stadt. Ähnlich ist die Lage in Masar. Die Kontrolle über zahlreiche Distrikte im Land wechselt fast täglich, manchmal stündlich. Dörfer und Orte in Helmand, Ghazni, Faryab, Badakhschan, Badghis, Nangarhar, Uruzgan und anderen Provinzen werden pausenlos umkämpft und der afghanischen Armee geht allmählich die Puste aus.

Der deutsche Innenminister Thomas de Maizière, der zuvor Verteidigungsminister war und häufig nach Afghanistan gereist kam, war einmal recht beliebt bei den Afghanen. Er hörte aufmerksam zu und schien ihre Lage als Land mit junger, noch unfertiger Armee gut zu verstehen. Doch neulich hat er den Vogel abgeschossen, meinen junge Afghanen wie Barakatullah. De Maizières Behauptung, dass wegen der in dieses Land geflossenen Entwicklungshilfe man erwarten könne, dass „afghanische Jugendliche beim Aufbau ihres Landes mithelfen“, macht sie richtig sauer.

Wieso, fragen sie, wurden denn die meisten deutschen Entwicklungshelfer kürzlich aus Afghanistan abgezogen? Wieso schickte die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) ihre Mitarbeitenden, deren Projekte in Kabul, Faisabad und anderswo weiterlaufen, plötzlich ins sicher entfernte Dubai oder gar ganz nach Eschborn?

Warum fliegen Amerikaner vom Kabuler Flughafen in ihre Botschaft nur noch mit Helikoptern, statt ein Auto zu nehmen? Warum mauern sich die verbleibenden internationalen Organisationen in Afghanistan schon lange martialisch ein?

Barakatullah im angeblich sicheren Masar-e Scharif jedenfalls möchte nicht warten, bis die Taliban auch ihn verprügeln und die Zukunftschancen seiner acht Monate alten Tochter mit ihren Sandalen im afghanischen Staub zertreten. „Ich werde meine Frau und meine Tochter nehmen und Afghanistan verlassen“, sagt er, „entweder nach Europa oder in die USA.

Er ist einer jener jungen Afghanen, die von den Bildungschancen des letzten Jahrzehnts profitierten. Genau deshalb sieht er längst keine Perspektive mehr für sich. Wie die meisten Afghanen verfolgt er angewidert den ruinösen Zwist zwischen Präsident Ashraf Ghani und seinem sogenannten Geschäftsführer Abdullah Abdullah. Kabul ist eine einzige Enttäuschung für sie. Ghani nennen er und seine Freunde längst den „faulsten Präsidenten aller Zeiten“. Dem stets elegant gekleideten Abdullah verpassen sie wegen seiner uferlosen Unfähigkeit das  Adjektiv „sandscha“ – „weiblich“ – ein derbes Schimpfwort in der patriarchalischen Gesellschaft Afghanistans.

„Sie versprachen uns die nationale Einheitsregierung und Reformprogramme“, schimpft Barakatullah, „und das Einzige, was sie nicht machen, sind Einheit und Reform!“

Die internationalen Truppen sind gegangen, mit ihnen das Geld und die Jobs. Zurück blieben die Taliban und ihr unerschütterlicher Kampf für den Steinzeit-Islam.

Die internationalen Truppen sind gegangen, mit ihnen das Geld und die Jobs. Zurück blieben die Taliban und ihr unerschütterlicher Kampf für den Steinzeit-Islam. Ob Schildermaler oder Schreiner, alle, die im Post-9/11-Afghanistan florierten und gediehen, hatten irgendwie mit den internationalen Truppen zu tun. Afghanistans Wirtschaftswachstum geht gegen Null, und bei der Regierung zanken sich beide Lager darum, wer die schöneren Büroräume hat.  

Die immer brüchiger erscheinende Sicherheitslage und die massive Wirtschaftskrise ziehen der Bevölkerung nun den Boden unter den Füßen weg. Längst sind die Taliban zu den besseren Arbeitgebern avanciert. Wer für sie kämpft, bekommt sogar ein Gehalt. Zwischen 1000 und 1400 US-Dollar, sagen Menschen in Masar. Das ist das Fünffache des Gehalts eines Beamten. Deshalb, höhnen sie, würden Flüchtlinge, die nach Vorstellungen der deutschen Regierung bald zurückgeführt werden sollen, ganz bestimmt schnell wieder gute Jobs in ihrer alten Heimat finden: nämlich beim Jihad.