Wenn internationale Beobachter amerikanische Politik verfolgen, konzentrieren sie sich üblicherweise auf das Weiße Haus und den Kongress. Doch in den Vereinigten Staaten selbst gilt als ausgemacht, dass die wirklich wichtigen politischen Entscheidungen ganz woanders getroffen werden: Denn nicht militärische Interventionen oder nationale Gesetzesinitiativen bestimmen das politische Vermächtnis eines amerikanischen Präsidenten, sondern die Zusammensetzung des Supreme Courts – des höchsten Gerichts des Landes. Verdeutlicht wird das nicht zuletzt durch die konservative Tiefenströmung im US-Rechtswesen, die das Gesicht der Vereinigten Staaten derzeit nachhaltig verändert. Dieser oft übersehene Trend dürfte dabei eine Langzeitwirkung entfalten, die jede einzelne von Präsident Barack Obama durchgesetzte politische Maßnahme in den Schatten stellt.
„Das heutige Verfassungsgericht ist extrem konservativ. Aber auf eine andere Art und Weise als der von William Rehnquist angeführte Supreme Court von 1986 bis 2005“, meint Kent Greenfield, Rechtsprofessor an der Boston College Law School in Massachusetts. „Das heutige Gericht macht einen viel aggressiveren Gebrauch vom ersten Zusatzartikel der Verfassung, etwa um Gesetze zur Finanzierung von Wahlkampagnen für nichtig zu erklären, Gewerkschaften zu schwächen oder eine Vorstellung von Religionsfreiheit zu verteidigen, der vorherige Gerichte skeptisch gegenüber gestanden hätten.“ Der erste Zusatzartikel befasst sich mit dem Schutz der Religionsfreiheit sowie der Versammlungs-, Rede- und Pressefreiheit.
Ernannt von Reagan, Bush und Bush
Angeführt vom Obersten Richter John Roberts, den drei ultrakonservativen Richtern Clarence Thomas, Antonin Scalia und Samuel Alita und mithilfe der „Swing Votes“ von Richter Anthony Kennedy – allesamt von republikanischen Präsidenten Ronald Reagan, George H.W. Bush und George W. Bush ernannt – hat das Gericht allein in den ersten Monaten dieses Jahres mehrere aufsehenerregende Grundsatzentscheidungen getroffen. So entschieden die Richter im Mai, dass öffentliche Sitzungen der Verwaltung durchaus mit einem christlichen Gebet beginnen dürfen - trotz der verfassungsrechtlichen Trennung von Kirche und Staat.
„Das Gericht macht aggressiven Gebrauch vom ersten Zusatzartikel, um Gesetze zur Finanzierung von Wahlkampagnen für nichtig zu erklären, Gewerkschaften zu schwächen oder eine Vorstellung von Religionsfreiheit zu verteidigen, der vorherige Gerichte skeptisch gegenüber gestanden hätten.“
Nur wenige Wochen zuvor hatte das Gericht beschieden, dass die US-Wähler sehr wohl das Recht haben, die an staatlichen Universitäten angewendete „affirmative action“ abzuschaffen. Bei diesem Ansatz geht es darum, die ethnische Herkunft der Studierenden bei Zulassungsentscheidungen an den Hochschulen zu berücksichtigen. Damit soll eigentlich die Vielfalt unter den Studierenden erhöht und die Folgen der jahrhundertelangen Diskriminierung von Minderheiten ausgeglichen werden. Nur wenige Tage zuvor hatte das Oberste Gericht eine Reihe von Regeln zur Einhegung der politischen Kampagnenfinanzierung für ungültig erklärt – nicht die erste Entscheidung dieser Art. Auf diese Weise hat das Gericht einer noch stärkeren legalen Einflussnahme der Superreichen auf politische Entscheidungen Tür und Tor geöffnet.
Doch damit nicht genug: Erst im vergangenen Jahr hatte eine Mehrheit der Richter das Herzstück des Voting Rights Act gekippt. Das Gesetz aus dem Jahr 1965 hatte Diskriminierung an der Wahlurne untersagt und galt als Meilenstein der Bürgerrechts-Gesetzgebung. Und schließlich erlaubten die Verfassungsrichter im Jahr 2010 mit der Entscheidung im Fall „Citizens United v. Federal Election Commission“ den Aufbau unabhängiger politischer Gruppen, den so genannten SuperPACs. Bekanntlich können diese Organisationen nun in unbegrenzter Höhe Geldmittel einwerben und ausgeben, um Wahlen zu beeinflussen. Dabei werden sie auch Dank des Supreme Courts kaum öffentlich kontrolliert.
In Anbetracht dieser Entscheidungen lässt sich der Supreme Court in gewisser Hinsicht überhaupt nicht mehr mit dem Begriff „konservativ“ beschreiben.
In Anbetracht dieser Entscheidungen lässt sich der Supreme Court in gewisser Hinsicht überhaupt nicht mehr mit dem Begriff „konservativ“ beschreiben. „Historisch gesehen bedeutete der Begriff konservativ, dass Richter eine begrenztere Rolle einnehmen und zunächst den demokratischen Prozess abwarten“, meint etwa Stephen Wermiel, Professor für Verfassungspraxis an der American University in Washington DC. „Aber das aktuelle Verfassungsgericht sieht sich als eine Instanz, die in unserer Gesellschaft eine aktive Rolle spielt.“
Bekanntlich ist das Gericht in den vergangenen zwei Jahren vom dominierenden Rechtsdrall in zwei wichtigen Entscheidungen abgewichen – zumindest bei oberflächlicher Betrachtung. So bestätigten die Richter im Juni 2012 Präsident Obamas Gesundheitsreform. Und: In einem Urteil vom Juni 2013 verpflichteten sie die US-Bundesregierung, verheirateten gleichgeschlechtlichen Paaren dieselben Leistungen zuzugestehen wie verheirateten heterosexuellen Paaren. Doch diese Entscheidungen sollten nicht überinterpretiert werden. „Im Fall des Defense of Marriage Act war es nicht schwer, die ursprüngliche Position aufzugeben“, meint Rechtsprofessor Greenfield zum Bundesgesetz, mit dem die Homo-Ehe diskriminiert wurde. „Richter Kennedy zeigte sich gegenüber den Rechten von Schwulen offener als bei anderen Themen. Und zu dem Zeitpunkt, als die Entscheidung getroffen wurde, hatte sich die öffentliche Meinung im Land eindeutig gewandelt. Jedes andere Ergebnis wäre als reaktionär betrachtet worden.“ Zudem ist auch zu erwähnen, dass Richter Kennedy in seiner Urteilsbegründung nur unwesentlich von seinem grundsätzlichen Denken abwich. Vielmehr unterstrich er in durchaus konservativem Duktus die grundsätzlichen Rechte der Bundesstaaten.
Ganz ähnlich die vermeintlich liberale Entscheidung über den Zugang zu US-Krankenversicherungen. „Der Oberste Richter meinte, es wäre dem Gericht schlecht bekommen, die Entscheidung des Kongresses infrage zu stellen. Gerade bei einem Rechtsakt, dem derartig lange öffentliche Debatten und Beratungen vorausgegangen waren“, meint Professor Wermiel. Und: Auch in diesem Fall fällten die Richter ihr Urteil auf Grundlage der konservativen Überzeugung, dass die Bundesregierung nur über sehr begrenzte Befugnisse verfüge. Vor diesem Hintergrund könnte das Urteil Washington in Zukunft noch einige Schwierigkeiten bereiten.
Zentrale Entscheidungen stehen an
Rund einen Monat vor Ende der aktuellen Sitzungsperiode des Supreme Courts stehen weitere zentrale Entscheidungen an. Das Verfassungsgericht wird dabei weitere Gelegenheiten haben, seinem Markenzeichen des gerichtlichen Aktivismus zu entsprechen. „Die anstehende Entscheidung in der Rechtssache Hobby-Lobby könnte ein Game-Changer werden“, befürchtet Greenfield. „Ich gehe davon aus, dass das Höchste Gericht das Recht von Unternehmen anerkennen wird, religiöse Einsprüche gegen staatliche Regelungen zu erheben.“ Der Hintergrund: Laut Gesetz sind alle amerikanischen Unternehmen verpflichtet, im Rahmen der Gesundheitsleistungen für ihre Angestellten auch den Zugang zu Empfängnisverhütung zu gewährleisten. Die strenggläubigen Inhaber eines privaten Kunstgewerbehandels argumentieren nun, der gesetzlich festgeschriebene so genannte „Auftrag zur Empfängnisverhütung“ („contraceptive mandate“) verletze religiöse Überzeugungen. Und zwar nicht die der Eigentümer, sondern die der Firma. „Wenn ein Unternehmen religiöse Überzeugungen haben kann, müssen wir dann künftig bei geltenden Gesetzen Ausnahmen erlassen, um diese Überzeugungen zu respektieren?“, fragt Wermiel.
Man möchte meinen, dass sich die Dinge angesichts dieser aktuellen Entscheidungen eigentlich nur zugunsten einer liberaleren Rechtsprechung entwickeln können. In Wirklichkeit aber könnte das Gericht in den kommenden Jahren sogar noch konservativer werden.
Damit nicht genug. Auch die Rechtssache „Harris v. Quinn“ sollte genau verfolgt werden: Hier wird der Supreme Court in den kommenden Wochen entscheiden, ob alle Mitarbeiter der häuslichen Krankenpflege eines Bundesstaates zu gewerkschaftlicher Organisation und Mitgliedsbeiträgen verpflichtet werden können, wenn eine Mehrheit von ihnen dafür stimmt. Es ist ein Urteil mit Sprengkraft: „Es ist zu befürchten, dass das Verfassungsgericht eine Verletzung des ersten Zusatzartikels feststellt“, meint Greenfield. „Sollten die Richter diese Zwangsmitgliedschaft ablehnen, wird das Urteil die Gewerkschaften des amerikanischen öffentlichen Dienstes zerstören.“
Man möchte meinen, dass sich die Dinge angesichts dieser aktuellen Entscheidungen eigentlich nur zugunsten einer liberaleren Rechtsprechung entwickeln können. In Wirklichkeit aber könnte das Gericht in den kommenden Jahren sogar noch konservativer werden. Aller Voraussicht nach wird Richterin Ruth Bader Ginsburg demnächst in den Ruhestand gehen. Sie gilt als liberalste aller Supreme Court Richter und ist mittlerweile mit 81 Jahren in einem fortgeschrittenen Alter. Zudem leidet sie nach 20 Jahren im höchsten richterlichen Amt unter einer zunehmend fragilen Gesundheit. Das Problem bei der Neubesetzung: Der US-Senat. Er muss jede richterliche Ernennungen zum Verfassungsgericht bestätigen.
Da die Demokraten ihre Senatsmehrheit in den kommenden Zwischenwahlen zu verlieren drohen, dürfte ein Ginsburg-Nachfolger aller Voraussicht nach weniger liberale Auffassungen vertreten – selbst wenn er oder sie von einem demokratischen Präsidenten ernannt wird. Der wirkliche Wendepunkt aber dürfte stattfinden, wenn Richter Anthony Kennedy die Richterbank verlässt. Kennedy ist derzeit 77 Jahre alt und hat auch nach mittlerweile 26 Jahren im Supreme Court nicht vor, seinen Job in näherer Zukunft aufzugeben. Es ist also durchaus möglich, dass die Vereinigten Staaten bei seinem Rücktritt von einem republikanischen Präsidenten und einem republikanisch dominierten Kongress regiert werden. Dann könnte nichts das Weiße Haus davon abhalten, einen Richter zu ernennen, der sogar noch konservativer ist als Kennedy. Das würde dann nicht nur das Verfassungsgericht, sondern auch die Vereinigten Staaten insgesamt noch stärker nach rechts rücken.





2 Leserbriefe
Warum wird es eigentlich als problematisch dargestellt, dass das Gericht nach "rechts" gerückt ist. Ist den nur die "linke" Position demokratisch. Das ist nun mal das amerikanische Verfassungsmodel. Man kann anderer Meinung sein, aber warum in diesem vorwurfsvollem Jammerton?