Im Wall Street Journal verkündete der China-Experte David Shambaugh, seines Zeichens Professor an der George Washington Universität, vor Kurzem den unmittelbar bevorstehenden Untergang der Kommunistischen Partei Chinas (KP). Als Beleg listet er fünf Indikatoren auf.

Erstens stellt Shambaugh fest, dass reiche Chinesen das Land verlassen. Das ist allerdings nur die halbe Wahrheit. Zwar sind sehr viele wohlhabende Chinesen in Länder wie Kanada ausgewandert, doch die meisten von ihnen machen nach wie vor Geschäfte in China. Das heißt, sie bewerten die Zukunft des Landes positiv. Darüber hinaus steigt in den letzten Jahren die Zahl der Studenten, die nach einem Auslandsstudium nach China zurückkehren, weil sie Vertrauen in die chinesische Zukunft haben.

Der zweite Indikator ist laut Shambaugh die wachsende politische Unterdrückung und die unsichere Position der KP. In dieser Hinsicht hat sich aber im Vergleich zur Regierungszeit Hu Jintaos nicht viel geändert. Was sollte an der jetzigen Situation so besonders sein, dass es den Untergang der Partei einläutete? Man könnte ja sogar argumentieren, der Untergang der KP sei besiegelt, egal, was die Partei tut: Wenn sie sich öffnet, erhebt sich die Zivilgesellschaft und stürzt das Regime; wenn sie ihre repressive Politik fortsetzt, erzeugt sie Unsicherheit und provoziert so ihren Zusammenbruch.

Drittens erklärt Shambaugh, chinesische Politiker wirkten hölzern und gelangweilt. Doch das war schon immer so, daher ist auch an dieser Beobachtung nichts Neues. Gewiss stützt sie nicht Shambaughs Argument vom „Zusammenbruch Chinas“.

Viertens verweist Shambaugh auf die massive Korruption in China. Da hat er natürlich Recht. Aber er vergisst zu erwähnen, dass die Anti-Korruptions-Kampagne bisher sehr erfolgreich verläuft, was vor allem daran liegt, dass sie in der Öffentlichkeit breite Unterstützung findet. Korrupte Beamte wissen das und kommen deshalb nicht dagegen an.

Shambaughs letztes Argument ist die wirtschaftliche Abschwächung. Das ist der einzige neue Punkt in seiner Argumentation. Shambaugh scheint zu glauben, eine Konjunkturabschwächung werde im Volk Unmut auslösen, der wiederum den Sturz des Regimes nach sich zieht. Das war auch der Antrieb des Arabischen Frühlings. Doch dieses Argument ist gleich in mehrfacher Hinsicht problematisch.

Erstens ist eine wirtschaftliche Abschwächung noch kein wirtschaftlicher Zusammenbruch. Es stimmt, dass, verglichen mit dem sensationellen Wirtschaftswachstum früherer Jahre, eine Wachstumsrate von 6 Prozent eine Abschwächung darstellt. Aber welche andere große Volkswirtschaft kann dauerhaft in diesem Tempo wachsen?

Wenn die US-Wirtschaft die globale Finanzkrise 2008 überlebt hat, besteht kein Grund zu der Annahme, dass die chinesische Wirtschaft eine ähnliche Krise nicht überstehen könnte.

Zweitens stellt sich die Frage, ob eine Konjunkturflaute oder gar ein massiver Wirtschaftseinbruch die chinesische Gesellschaft in Aufruhr versetzen würde. Die Antwort hängt davon ab, wie sich die Folgen dieses Einbruchs in der Gesellschaft verteilen würden. Die meisten normalen Chinesen stören sich an einem hohen Maß an Ungleichheit, zumal, wenn diese Ungleichheit durch Korruption entsteht. Zwar würde eine schwere Krise mit Arbeitsplatz- und Einkommensverlusten einhergehen, doch wenn die US-Wirtschaft die globale Finanzkrise 2008 überlebt hat, besteht kein Grund zu der Annahme, dass die chinesische Wirtschaft eine ähnliche Krise nicht überstehen könnte.

Und selbst wenn eine schwere Wirtschaftskrise China heimsuchte und größere soziale Probleme im Gefolge hätte, stellt sich drittens die Frage, warum dem automatisch ein Aufstand gegen das Regime folgen sollte. Anders ausgedrückt: Diese Behauptung setzt voraus, dass die Legitimität der chinesischen Regierung ausschließlich von ihrem wirtschaftlichen Erfolg abhängt.

Diese Annahme, die von vielen Experten vertreten wird, ist nur leider nicht mehr zutreffend. Für die meisten Chinesinnen und Chinesen ist das Wachstum sicherlich wichtig, doch Bildung, Umwelt, Korruption und eine gerechte Justiz zählen für sie mindestens genauso viel. Solange die chinesische Regierung diesbezügliche Probleme ernsthaft angeht, erfreut sich die KP auch weiterhin einer breiten Unterstützung. Das erklärt, warum die Regierung Xi in diesen Bereichen ehrgeizige Reformen auf den Weg gebracht hat.

Und schließlich: Selbst wenn es zu politischen Unruhen käme, würde dann auch das Regime stürzen? Das hängt vom Kräfteverhältnis ab. Gibt es in China eine starke politische Opposition? Genießt sie die Unterstützung der einfachen Chinesen? Gibt es in der Staatsführung einen Politiker, der die Rolle eines Gorbatschow übernehmen könnte? Keiner dieser Faktoren trifft in China zu.

Eine Konjunkturabkühlung bringt China sogar mehrere Vorteile. Bei einem niedrigeren, aber stabilen Wirtschaftswachstum verringert sich die Umweltverschmutzung, die Fälle von Landraub und Korruption nehmen ab, der Energieverbrauch und die sozioökonomischen Erwartungen sinken. All das baut soziale Spannungen ab und macht einen Zusammenbruch des Regimes unwahrscheinlich.

In Shambaughs Argumentation schwingt die Behauptung mit, China und die Kommunistische Partei würden zusammenbrechen, wenn sie keine freiheitliche Demokratie nach westlichem Vorbild etablierten. Er versäumt es jedoch, die einfache Frage zu beantworten: Wollen denn die meisten normalen Chinesinnen und Chinesen eine freiheitliche Demokratie nach westlichem Vorbild?

Wie Orville Schell und John Delury darlegen, gilt das Streben der Chinesen in den letzten hundert Jahren vor allem Wohlstand und Macht. Mit der wachsenden Geltung und dem steigenden Einfluss Chinas kann man diese beide Punkten heute noch durch internationale Anerkennung ergänzen.

Wünschen sich die Chinesen auch Freiheit, Demokratie, Menschenrechte und so weiter? Natürlich tun sie das. Aber selbst bei den liberalsten Chinesen tritt der Wunsch nach Freiheit und Demokratie zurück, solange die chinesische Regierung erfolgreich gegen Korruption, Umweltverschmutzung und Ungleichheit vorgeht. Demokratie gilt als Mittel, nicht als Zweck.

Selbst bei den liberalsten Chinesen tritt der Wunsch nach Demokratie zurück, solange die Regierung erfolgreich gegen Korruption, Umweltverschmutzung und Ungleichheit vorgeht.

Vor diesem Hintergrund lässt sich nachvollziehen, warum Xi Jinping mit seiner kühnen Reformagenda, die von einer Fußballreform bis zu einer Überholung staatlicher Unternehmen reicht, so beliebt ist. Seinen Reformkurs verfolgt Xi auch und sogar im politischen Bereich: Schon bald werden auf verschiedenen staatlichen Ebenen konsultative demokratische Mechanismen eingeführt. Man kann ohne Übertreibung behaupten, dass Xi der kreativste Staatschef der letzten drei Jahrzehnte ist. Der Zuspruch für die Kommunistische Partei ist heute womöglich größer als im vergangenen Jahrzehnt. Wer das ausblendet, missversteht die chinesische Politik von heute.

Warum also geht diese Realität an vielen westlichen Beobachtern vorbei? Was sagen Shambaughs Artikel und ähnliche Äußerungen über die Mentalität einiger westlicher Experten und Analysten aus?

Der Aufstieg eines starken und autoritären Chinas, das dem Maßstab des vom Westen propagierten „freiheitlichen Demokratiemodells“ nicht entspricht, wird von diesem als Bedrohung empfunden. Die Mär von der „chinesischen Gefahr“ ist nachvollziehbar, da Menschen dazu neigen, Dinge zu fürchten, die sie nicht verstehen oder die anders sind. Und China ist heute das große „Andere“. Ein starkes China löst bei vielen westlichen Beobachtern eine kognitive Dissonanz aus, weil ihren Theorien zufolge ein autoritäres China schwach sein müsste. Das erklärt, dass westliche Experten die politische Realität in China so selektiv wahrnehmen.

Aber selbst eine fehlerhafte Argumentation hat noch ihr Gutes. Sie ruft uns in Erinnerung, dass das politische System in China trotz aller oberflächlichen Stabilität und Reformbereitschaft durchaus instabil sein kann. Es muss offener, inklusiver und demokratischer werden, und das wird auch geschehen. Wie sich Xis Reformaktivitäten auswirken, wird sich noch zeigen. Doch im Moment deutet alles darauf hin, dass sich in China ein stärkeres und effektiveres Regierungssystem entwickelt. Statt eines schnellen Zusammenbruchs werden wir noch eine Zeitlang ein mächtiges, selbstbewusstes, zuversichtliches und autoritäres China erleben.