Nicht nur seit der Vollstreckung der Todesstrafe an 47 Menschen Anfang 2016 in Saudi-Arabien steht das Königreich unter Dauerbeschuss der Medien. Auch von offizieller Seite wurde das Land in letzter Zeit scharf kritisiert und verurteilt. Der Bundesnachrichtendienst (BND) schrieb zum Beispiel in einer im Dezember 2015 erstellten Analyse Saudi-Arabien eine „destabilisierende“ Rolle in der arabischen Welt zu, getrieben durch eine „impulsive Interventionspolitik“. Vize-Kanzler Sigmar Gabriel betonte Anfang Dezember, man sollte dem Königreich klarmachen, „dass die Zeit des Wegschauens vorbei ist“. Selbst das außenpolitische Leitmedium der USA, die Fachzeitschrift „Foreign Affairs“, forderte Anfang Januar, es sei höchste Zeit, in den Beziehungen zu Riad die Samthandschuhe auszuziehen.

Bei allem Verständnis für die Kritik an Saudi-Arabien, etwa an seiner Menschenrechtspolitik, ist die gegenwärtige Berichterstattung über das Land und seine Politik nicht stichhaltig. Wie so oft missdeutet sie die Position des Königreichs innen- und außenpolitisch. Ein Versuch, die aktuelle Situation aus der Sicht Riads zu bewerten, scheint daher angezeigt.

Seit dem amerikanischen Einmarsch in den Irak im Jahr 2003 sieht man aus Riad zu, wie die staatlichen und gesellschaftlichen Strukturen im Nahen Osten schrittweise zerfallen und die Gefahr für Stabilität und Sicherheit des Königreichs zunimmt. Heute fühlt sich Saudi-Arabien von Instabilität umgeben.

Heute fühlt sich Saudi-Arabien von Instabilität umgeben.

Staaten wie Syrien, Libyen und Jemen droht der totale Staatszerfall. Nichtstaatliche Akteure wie die Hisbollah oder die Huthi-Rebellen, die sich nicht an allgemeine völkerrechtliche Regeln halten, weiten ihre Einflusssphären aus, unterstützt durch den Iran. Länder wie Ägypten, Libanon oder Tunesien könnten ihnen folgen, sollte es nicht zu einem – an ein Wunder grenzenden – Wandlungsprozess kommen, durch den die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Probleme, mit denen diese Länder zu kämpfen haben, gelöst werden.

Nichts raubt den Herrschern der Golfmonarchien, vor allem Saudi-Arabien, mehr den Schlaf als die Vorstellung einer Region, die im Chaos versinkt. Denn mit Chaos steigen die Unberechenbarkeit und die Gefahr, die Kontrolle auch über das eigene Land zu verlieren.

Um eine weitere Destabilisierung zu verhindern, kämpft Saudi-Arabien seit geraumer Zeit gegen den Strom. Bereits im Jahr 2003 warnte man die USA vor einem Einmarsch in den Irak, da man sich nicht sicher war, ob die USA in der Lage sein würden, für eine stabile regionale Nachkriegsordnung zu sorgen. Mehr als zehn Jahre später kann man nur zu dem Schluss kommen, dass die Saudis Recht hatten.

In Bezug auf Syrien hat das Königreich zuerst versucht, die Regierung Assad zu überzeugen, auf die friedlichen Proteste des Landes einzugehen, um eine Eskalation zu vermeiden. Allerdings wurden die Ratschläge ignoriert. Heute ist Riad überzeugt, dass es eine Lösung der Syrien-Krise nur ohne Baschar al-Assad geben kann, der für die große Mehrzahl der Toten in seinem Land verantwortlich ist. Doch die internationale Gemeinschaft verhandelt über Übergangsalternativen mit Assad, sodass der Präsident noch bis 2017 im Amt bleiben könnte. Dies wäre ein fataler Fehler aus saudischer Sicht. Mit Assad würden das Elend in Syrien und dessen Folgen, wie der Flüchtlingsstrom Richtung Europa, nur verlängert.

Saudi-Arabien sieht zwei weitere Gefahren. Zum einen erhalten in der derzeitigen Phase extremistische Terrorgruppen weiter Zulauf. Diese Gruppen verbreiten nicht nur Terror, sie fordern auch die staatlichen Strukturen in der Region heraus. Für Gruppen wie den „Islamischen Staat“ (IS) ist das Königreich Saudi-Arabien das ultimative Ziel, um die Herrschaft über die heiligen Städte Mekka und Medina zu erringen und so das islamische Kalifat endgültig ins Leben zu rufen. Im Jahr 2015 hat allein der IS vier größere Anschläge in Saudi-Arabien verübt, bei denen mehr als 50 Menschen ums Leben kamen. Anders als in den Medien oft dargestellt, ist die Unterstützung dschihadistischer Terrorgruppen keine Staatspolitik des Königreichs. Auch kämpfen weitaus mehr Europäer für den IS als Saudis. In Saudi-Arabien gilt eine Beteiligung an den Auseinandersetzungen in Syrien und Irak als Straftat. In den Führungsstrukturen des IS befinden sich keine Saudis.

Saudi-Arabien hat aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt, der Terrorismus wird nunmehr rigoros bekämpft.

Saudi-Arabien hat aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt, der Terrorismus wird nunmehr rigoros bekämpft. Mehrere Terroranschläge, darunter auch in Europa, sind bereits durch Hinweise des saudischen Geheimdienstes vereitelt worden. Gegenteilige Darstellungen, etwa die fortgesetzte Finanzierung von Terrorgruppen durch Saudi-Arabien, entsprechen nicht der Wahrheit.

Die zweite Gefahr ist die kontinuierliche Ausweitung des iranischen Einflusses im Nahen Osten. Aus der Sicht Riads forciert Teheran den Zerfall der Region durch Unterstützung von Milizen wie der Hisbollah im Libanon und in Syrien, der Huthi-Rebellen im Jemen oder diverser schiitischer Gruppierungen im Irak. Deren einziges Ziel ist es, die Integration der sunnitischen Bevölkerung zu verhindern, um so eine stabile Regierung in Bagdad herbeizuführen. Das Atomabkommen mit dem Iran hat man in Riad zwar vorsichtig begrüßt, man ist aber überzeugt, dass der Iran den Abschluss des Abkommens nur dazu nutzen wird, um seinem Ziel eines militärischen Atomprogramms näherzukommen. Unterdessen wird Teheran das Geld, das durch die Aufhebung der Sanktionen wieder verfügbar wird, einsetzen, um die oben genannten Gruppen weiter zu unterstützen.

Saudi-Arabien ist bereit, die Beziehungen zum Iran wieder zu normalisieren. Ein solcher Schritt kann aber nur erfolgen, wenn der Iran bereit ist, seine Politik der Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Golfmonarchien zu beenden und endlich die Interessen der arabischen Golfstaaten anzuerkennen. Bis dahin sei dem Westen geraten, seine Annäherung an Teheran, wenn überhaupt, nur langsam und mit großer Zurückhaltung zu betreiben.

Ein Wort zur Innenpolitik: Saudi-Arabien befindet sich momentan in einem komplexen Transformationsprozess, der dem Land tiefgreifende Veränderungen bescheren wird. Der gegenwärtige Übergang der Thronfolge auf die nächste Generation der al-Saud ist für das Königreich eine neue Erfahrung. Ziel ist, das Land langfristig stabil aufzustellen. Auch werden, was die Wirtschaft betrifft, Reformmaßnahmen durchgeführt, die das Königreich grundlegend verändern werden. Ein diesbezüglicher „Nationaler Transformationsplan“ soll Ende Januar 2016 veröffentlicht werden. Es gibt viele Anzeichen, dass Saudi-Arabien ein Land im Aufbruch ist und nicht nur das autokratische Monster, wie oft dargestellt. Die Stabilität Saudi-Arabiens liegt im allgemeinen Interesse, auch und insbesondere von Deutschland und Europa.

Die Stabilität Saudi-Arabiens liegt im allgemeinen Interesse, auch und insbesondere von Deutschland und Europa.

Das Königreich verfolgt viele der Ziele, die sich auch Europa für den Nahen Osten wünscht, darunter die Wiederherstellung der regionalen Stabilität sowie ein Ende des extremistischen Terrorismus. Um diese Ziele zu erreichen, ist eine Dämonisierung Saudi-Arabiens wenig hilfreich. Saudi-Arabien ist sicherlich ein oft schwieriger Partner, und manche Aspekte der saudischen Politik sollten weiter kritisch hervorgehoben werden. Der Dialog mit dem Königreich bleibt aber unverzichtbar.