Wir sehen es alle vor uns, das Bild der beiden einsamen Diktatoren bei der Winterolympiade in Peking. Putin war der einzige internationale Staatsführer von Rang, der gekommen war, und er wurde entsprechend hofiert. Mit nach Hause nehmen durfte er dafür neue Handelsverträge und das Versprechen „grenzenloser Freundschaft“. Dennoch, China kann über den wenige Tage später beginnenden Krieg und das ihm innewohnende Chaospotential für das internationale System und die globale Wirtschaft nicht begeistert gewesen sein.

Das Reich der Mitte präsentiert sich als ein konstruktives Mitglied der internationalen Gemeinschaft: Neutral, dem Frieden verpflichtet und stets bereit, die territoriale Integrität und das Selbstbestimmungsrecht der Völker zu verteidigen, beteiligt sich China an UN-Friedensmissionen. Peking hat nicht nur das Pariser Klimaabkommen unterschrieben, die Volksrepublik hat sich auch in ihrer Verfassung dazu verpflichtet, eine ökologische Zivilisation zu schaffen. Ein aktuelles, von Präsident Xi Jinping angestoßenes Grundsatzdokument zur Entwicklungsstrategie bis zum 100. Geburtstag im Jahr 2049 legt fest, dass die Reform- und Öffnungspolitik fortgesetzt werden soll. China wird sich weiter für eine internationale Ordnung einsetzen und gibt an, dabei auch die Interessen der Entwicklungsländer berücksichtigen und auf Macht- und Hegemonialpolitik verzichten zu wollen.

Russland ist in derselben Zeit ganz anders auf die internationale Bühne zurückgekehrt. In den 30 Jahren des beispiellosen Aufstiegs Chinas zur größten Handelsmacht der Welt ist Russland nicht in der Lage gewesen, im globalen ökonomischen und gesellschaftlichen Wettbewerb zu bestehen. Es ist weitgehend im Stadium einer rohstoffabhängigen Rentenökonomie stecken geblieben. Auf dieser Grundlage hat Wladimir Putin Russland zurück in die internationale Politik geführt, traumatisiert vom – seines Erachtens – unrühmlichen Ende der Sowjetunion und frustriert von der Arroganz und Ignoranz eines expansiven Westens. Auf der Basis der Modernisierung der Armee erfolgte dies mit dem Anspruch, eine Weltmacht zu sein. Diese ließ, spätestens seit Putins Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007, keine Gelegenheit mehr aus, anti-westliche, anti-amerikanische und anti-demokratische Kräfte zu unterstützen. Russland profilierte sich als militärischer Gewaltakteur, bereit und in der Lage zu multiplen Arten von Intervention: Staatsterrorismus, hybride Kriegsführung, Cyber-Attacken, Fake-News-Kampagnen, Einsatz von Söldnertruppen, um nur einige zu nennen. Der Krieg in der Ukraine ist das vorerst größte Abenteuer, in das der Präsident sein Land gestürzt hat.

Bisher hat die russische Invasion der Ukraine etwas von einem militärischen Offenbarungseid für Wladimir Putin.

Bisher hat die russische Invasion der Ukraine allerdings etwas von einem militärischen Offenbarungseid für Wladimir Putin. Es gibt enorme Verluste an Menschen und Material, offensichtliche taktische militärische Fehler, Probleme mit der Moral der Truppe, der Logistik und der Aufklärungsarbeit der Dienste. Bei der Modernisierung der vergangenen Jahre scheint Korruption in großem Stil im Spiel gewesen sein. Die Folgen sind symbolträchtige Demütigungen wie der Verlust des Flaggschiffs der Schwarzmeerflotte oder der gescheiterte Versuch, zu Kriegsbeginn Kiew einzunehmen. Der Krieg könnte sich länger hinziehen. Der Westen, auch die Europäische Union, ist geeint und die NATO steht vor einer Erweiterung um die militärisch bestens aufgestellten Länder Schweden und Finnland. NATO-Militärs dürften sich die Augen reiben und überzeugt sein, dass sie mit diesem Gegner in einem konventionellen Krieg gut fertig würden – nur ist Russland leider eine Nuklearmacht.

Für Putin wird die Entwicklung des Konfliktes innen- wie außenpolitisch zunehmend problematisch. Zu Hause dürfte der Kriegsverlauf seinen Nimbus als Führer unterminieren. Und außenpolitisch kann es ihm nicht gleichgültig sein, wenn das Leitmedium des liberalen Kapitalismus, der Economist, titelt: „How rotten is Russia’s army?“ Gründet doch der Anspruch, im Konzert der Großmächte mitzuspielen, auf der Behauptung, Russland verfüge über eine hochmoderne und kampfstarke Armee.

Der Krieg verstärkt die seit der Finanzkrise vor zehn Jahren erkennbaren und durch Corona beschleunigten Deglobalisierungstendenzen.

Wie immer der Krieg ausgeht, er hat bereits jetzt Dynamiken ausgelöst, die weitreichende globale Entwicklungen nach sich ziehen werden. Er verstärkt die seit der Finanzkrise vor zehn Jahren erkennbaren und durch Corona beschleunigten Deglobalisierungstendenzen. Geopolitisch entstehen neue Kraftfelder und geoökonomisch zeichnet sich eine Neuaufstellung der Energie-, Produktions-, Distributions- und Finanzsysteme ab. In diesem Kontext ist Chinas internationaler Status durch Russlands Krieg und die enge Partnerschaft mit Putin zunehmend herausgefordert.

Offiziell ist China neutral und für Frieden. Es hat den Krieg weder unterstützt noch verdammt. Aber dies ist offensichtlich eine pro-russische und anti-amerikanische Neutralität, was dadurch unterstrichen wird, dass die staatlichen Medien und Chinas zensiertes Internet die Kreml-Version der Ursachen und des Verlaufs des Krieges übernehmen. Es gibt zwar eine innerchinesische Kontroverse darum, wie man sich gegenüber Russland aufstellen soll. Aber als Mediator für eine Verhandlungslösung fällt Peking aus. Gleichwohl ist China vermutlich der einzige Staat, der Einfluss auf Putin ausüben könnte.

Ökonomisch befindet sich die Volksrepublik seit einiger Zeit in einer Entwicklungsphase, in der sie von quantitativem auf qualitatives Wachstum umstellt und stärker auf die Entwicklung des Binnenmarktes setzt. Auch dafür ist man weiterhin auf funktionierende Lieferketten und eine regelbasierte internationale Ordnung angewiesen. Im Gegensatz zu Russland ist es nicht in Chinas Interesse, die bestehende internationale Ordnung zu zerstören.

Für China wird entscheidend sein, genau zu beobachten, wie der Westen versucht, die Deglobalisierung in seinem Sinne zu gestalten.

Für das Land wird entscheidend sein, genau zu beobachten, wie der Westen versucht, die Deglobalisierung in seinem Sinne zu gestalten. Die USA betrachten China nicht erst seit Donald Trump als zentralen geopolitischen Gegner. In der Wahrnehmung der EU ist China vom größten Markt zum strategischen Rivalen geworden. Sollten die USA, Europa, Japan und auch Länder wie Südkorea, Kanada, Australien und Neuseeland im Angesicht der russischen Aggression in der Ukraine sicherheits- und verteidigungspolitische Aspekte über wirtschaftliche und Wohlfahrtsfragen stellen, wird Chinas Handel davon negativ betroffen sein.

Auch die neue Dimension westlicher Sanktionen wird weitreichende Auswirkungen auf die globale Ökonomie haben. Hier ist China verletzbar. Sollte der Zugang zu den nach wie vor größten, westlichen Märkten signifikant eingeschränkt werden, braucht man andere Märkte oder den eigenen Binnenmarkt, um dies zu kompensieren – beides ist nicht in Sicht. Abgesehen von schrumpfenden Exportmärkten wird China der Zugang zu Hoch-Technologie im Westen erschwert. Und für China dürfte noch ein weiterer Aspekt der Deglobalisierung von Bedeutung sein, der eng mit dem eigenen Entwicklungsmodell zu tun hat: der Wegfall von Effizienzgewinnen durch die dynamische Konkurrenz mit rivalisierenden westlichen Unternehmen im eigenen Land. Sollte dieser Konkurrenzdruck ausbleiben, bleibt abzuwarten, wie sich Chinas Innovationskraft und der Übergang zu einer Wissensökonomie entwickeln.

Der Binnenmarkt des Landes steht vor großen konjunkturellen und strukturellen Herausforderungen: Hohe Verschuldung, ein implodierender Immobiliensektor und die fortschreitende Überalterung der Bevölkerung belasten das Wachstum. Dies wird begleitet von einer extremen Ungleichheit der Einkommen, einer Explosion bei den Wohnkosten und noch nicht voll ausgebildeten sozialstaatlichen Institutionen, die eine rückläufige Nachfrage kompensieren und sozial abfedern könnten.

Hinzu kommt ein sich abzeichnendes Scheitern der chinesischen Zero-COVID-Strategie. Der jüngste Lockdown in Schanghai hat nicht nur ökonomische Spuren hinterlassen, sondern auch deutlich gemacht, dass das Land auf die Omikron-Variante nicht vorbereitet ist und die eigenen Impfstoffe nicht mit denen des Westens konkurrieren können. Angesichts der brutalen Durchsetzung der Quarantäneregeln scheint die Bevölkerung mit zunehmendem Unverständnis und Widerspruch auf die sinnfrei erscheinende staatliche Härte zu reagieren. Und es fragt sich, ob das Vorgehen der Autoritäten mit dem allgemeinen Trend zu einer Rezentralisierung der Macht in der Partei und bei Präsident Xi zu tun hat. Der internationale Imageverlust, dem sich China durch die Spekulationen um den Ausbruch der Pandemie in Wuhan ausgesetzt sah und der durch die zwischenzeitlich vermeintliche Kontrolle der Pandemie wettgemacht schien, dürfte durch die jüngsten Ereignisse wieder zunehmen.

Bereits beim heutigen Stand des Krieges ist klar, dass die Nähe zu Putin für China immer mehr zur Belastung wird.

Vor diesem Hintergrund ist klar, dass bereits beim heutigen Stand des Krieges die Nähe zu Putin für China immer mehr zur Belastung wird. Der bisherige Kriegsverlauf deutet darauf hin, dass die russische Seite bei fortgesetzter Erfolglosigkeit mit einer weiteren Brutalisierung und Eskalation der Kampfhandlungen reagieren oder womöglich den Einsatz chemischer oder taktischer Nuklearwaffen erwägen könnte. Diesen Weg wird China nicht mitgehen können, will es nicht seine über Jahrzehnte behutsam und klug aufgebaute internationale Reputation riskieren und damit seine eigenen Entwicklungserfolge in Frage stellen. Putin sollte sich keine Illusionen machen und damit rechnen, dass Peking ihm hilft, die westlichen Sanktionen zu durchbrechen, oder ihn gar militärisch rettet – China war bis dato in der internationalen Politik eine außerordentlich eigennützige Macht. Bezeichnenderweise hat man zwar Partnerschaftsabkommen mit Russland unterzeichnet, aber keine Allianz gebildet, die gegenseitige Unterstützungsverpflichtungen nach sich ziehen könnte.

Im Gegensatz zu Russland kann China selbst bestimmen, wie es aus dem Konflikt hervorgeht. Es kann die Sanktionen gegen Russland und ihre Wirkungen in Ruhe analysieren. Und im Hinblick auf seine Taiwan-Gelüste wird Peking den Kriegsverlauf beobachten und abwägen, welche Risiken es eingehen müsste. China kann mit einem durch den Krieg geschwächten Russland möglicherweise besser leben als mit einem imperial aufgewerteten Partner, der eine gewachsene Dauerbedrohung für das internationale System darstellen würde.

Putin riskiert inzwischen nicht nur sich und sein Regime, sondern die Russische Föderation als Ganzes.

Der russische Präsident hat sich und sein Land in eine Lage manövriert, die er selbst nicht vorhergesehen hat und aus der ein gesichtswahrender Ausweg immer schwerer vorstellbar wird. Es scheint immer mehr, dass der konstruierte Kriegsgrund, der das Existenzrecht der Ukraine leugnet, der Fantasie eines zum Hobbyhistoriker mutierten und in Corona-Zeiten vereinsamten Diktators entspringt. Putin gibt vor, den Krieg im Interesse Russlands zu führen. Doch Russland ist ein Vielvölkerstaat, in dem es schon jetzt genügend Ethnien geben dürfte, die diesen Krieg nicht als den ihren sehen. Putin riskiert inzwischen nicht nur sich und sein Regime, sondern die Russische Föderation als Ganzes. Wenig deutet darauf hin, dass er die sich selbst verordnete Mission, Russland zu imperialer Größe in den Grenzen der Sowjetunion zurückzuführen, wird erfüllen können. Das Gegenteil könnte der Fall sein und Russland geschwächt und kleiner aus dem Konflikt hervorgehen.

So mag sich der Mann im Kreml, der fließend Deutsch spricht und die klassische deutsche Literatur verehrt, an Goethes berühmte Ballade vom Zauberlehrling erinnern. Der hat mit einem Zauberspruch Geister gerufen, die er dann nicht mehr kontrollieren konnte: „Die ich rief, die Geister werd’ ich nun nicht los.“ Das ist es, was diesen Krieg so extrem gefährlich macht.

Eine englischsprachige Version des Artikels erschien bei Progressive Post.