Der außerordentliche Kongress der polnischen Richter, der Anfang September in Warschau tagte, belegte eindrücklich, dass der polnische Verfassungsstreit weitergeht. Die Stühle des eingeladenen Staatspräsidenten, des Senatsmarschalls und des Justizministers blieben demonstrativ leer, während die über tausend versammelten Juristen – darunter namhafte Professoren – vor der Aushebelung der Gewaltenteilung in Polen warnten. Die Regierung lähme das Verfassungsgericht und demontiere vorsätzlich die Unabhängigkeit des Gerichtswesens – das Fundament jeder Rechtstaatlichkeit.

Der Konflikt brach Ende 2015 aus, als das Parlament unmittelbar vor und gleich nach den Parlamentswahlen fünf Verfassungsrichter doppelt wählte. Der im Frühsommer gewählte Staatspräsident Andrzej Duda vereidigte nur die Richter, die vom neuen Sejm gewählt wurden, der von den Nationalkonservativen majorisiert ist (jedoch ohne Verfassungsmehrheit). Das Verfassungsgericht hingegen befand die Wahl dreier noch vom alten Parlament gewählten Richter für gültig. Der Verfahrenskonflikt eskalierte bald zum politischen Universalienstreit um die Demokratie in Polen, der nicht nur die polnische Öffentlichkeit aufwühlte, sondern dem Land auch eine offizielle Prüfung des Zustands seiner Rechtstaatlichkeit aufhalste.

Die Brüskierung des Verfassungsgerichts führte zu Massenprotesten in Polen. Die größte Demonstration am 7. Mai 2016 brachte etwa 240 000 Menschen – mit den Altpräsidenten Aleksander Kwaśniewski und Bronisław Komorowski an der Spitze – auf die Straßen Warschaus. Nationalkonservative Abgeordnete bezichtigen die Opposition des Verrats, weil sie Rückhalt bei auswärtigen Instanzen wie Brüssel suchten, und berufen sich darauf, dass nicht eine „Richtermafia“ über die Gültigkeit der Gesetze entscheide, sondern der Souverän – das Volk. Die Polen hätten sich für die „gute Wende“ der nationalkonservativen „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) entschieden, und es gehe nicht an, dass ein „Juristenklüngel“ den vom Volk gewünschten Umbau des Staates durch die legitime Regierung mit seinen Winkelzügen verhindere.

Die Regierung wurde von der Wucht der Proteste sichtlich überrascht, stellte sich aber stur und spielte Haken schlagend auf Zeit, da Ende 2016 die Amtszeit des jetzigen Vorsitzenden des Verfassungsgerichts ohnehin abläuft. Das Gesetz über das Verfassungsgericht wurde inzwischen bereits dreimal novelliert. Der Außenminister hatte zwar selbst die Venedig-Kommission angerufen, aber ihr Verdikt wurde von der Regierung nicht anerkannt. Ministerpräsidentin Beata Szydło vertrat während der „Polen-Debatte“ im Europäischen Parlament am 19. Januar ihre Position. Anschließend lehnte ihre Regierung es ab, das Urteil des Verfassungsgerichts zu veröffentlichen, das die Legalität der Wahl von drei Verfassungsrichtern durch das alte Parlament bestätigte. In jüngster Zeit wurden plötzlich selektiv die Urteile des Verfassungsgerichts veröffentlicht, mit denen die Regierung einverstanden ist, und Chef der regierenden „Recht und Gerechtigkeit“-Partei Jarosław Kaczyński kündigte sogar eine Überprüfung der Verfassung an – obwohl der PiS für deren Änderung eine Verfassungsmehrheit im Sejm fehlt.

Der Streit geht inzwischen nicht mehr allein um das Verfassungsgericht, sondern die Unabhängigkeit der Judikative überhaupt.

Der Streit geht inzwischen nicht mehr allein um das Verfassungsgericht, sondern die Unabhängigkeit der Judikative überhaupt. Die Politiker des Regierungslagers verunglimpfen den Kongress der Richter als „Kabarett“ und drohen ihnen mit Entlassungen. Regierungstreue Medien stellen die Richter als Teil der „verfaulten Eliten“ dar, die skandalöse Immobilien-Reprivatisierungen begünstigt hätten. Das Fazit: die Judikative müsse der Exekutive und Legislative unterstellt werden.

Dass das Justizwesen in Polen reparaturbedürftig ist, wissen alle. Prozesse ziehen sich in die Länge, Betrüger werden nicht beanstandet, Gerichtsverfahren sind kompliziert, und die Sprache der Zunft unverständlich. Doch es waren nicht Richter, sondern Politiker, die geschludert haben, die unüberlegt und überstürzt Gesetze schrieben und verabschiedeten. Die Richter – meint der für Rechtsfragen zuständige Kommentator der Wochenzeitung „Polityka“, Marek Ostrowski, – zahlen dann für die Fehler, für die Unstimmigkeiten und Widersprüche der Legislative: „Auf welcher Grundlage befindet die Umgebung des Präsidenten, willkürlich bessere Richter in geheimen Entscheidungen auszuwählen? Die Antwort ist klar: Einige Kumpel von der PiS möchten Richter der Richter sein.”

Der innerpolnische Streit um das Verfassungsgericht und die drohende Bevormundung der Richter durch die Regierung hat Folgen für das Ansehen des Landes in der Europäischen Union EU. Aus dem Paradebeispiel einer „grünen Insel“, die die Finanzkrise 2008 gut überstand und sich erfolgreich transformierte, ist Polen zu einem Sorgenkind in der ohnehin durch die Verschuldungskrise in der Eurozone, die Flüchtlingskrise und den Brexit gebeutelten EU geworden.

Am 13. April 2016 forderte das Europäische Parlament die polnische Regierung auf, das Verfassungsgericht zu achten und die Empfehlungen der Venedig-Kommission umzusetzen. Am 27. Juli 2016 setzte die Europäische Kommission der Regierung in Warschau eine dreimonatige Frist für die Herstellung der Rechtstaatlichkeit in Polen, was gleichbedeutend ist mit dem Übergang zur zweiten Etappe der Überprüfung. Auch der Europarat zeigte sich besorgt darüber, dass das Verfassungsgericht „gelähmt wurde”.

Das amerikanische Außenministerium reagierte bereist am 29. Dezember 2015 und drei amerikanischen Senatoren schickten einen besorgten Brief an die polnische Regierung. Am 8. Juli sprach Barack Obama während des NATO-Gipfels in Warschau den Verfassungsstreit an. Und nach der folgenden – dritten – Novellierung des Gesetzes über das Verfassungsgericht am 22. Juli kritisierte das Außenministerium die neue Regelung mit der Formel, dass die USA weiterhin „den Regierenden in Polen nahelegen, die strittigen Fragen so zu lösen, dass die polnischen demokratischen Institutionen und das System der Kontrollmechanismen des Staates geachtet werden und effektiv funktionieren können“.

Der Verfassungsstreit beeinträchtigt auch Polens wirtschaftliches Standing.

Der Verfassungsstreit beeinträchtigt auch Polens wirtschaftliches Standing. Bereits am 15. Januar stufte die Ratingagentur Standard & Poor’s Polen unter Berufung auf die institutionelle Rechtsunsicherheit von A- auf BBB+ herunter. Im Mai hielt Moody's die polnische Kreditwürdigkeit weiterhin bei A2, allerdings mit dem Hinweis, dass die Perspektiven nicht mehr stabil, sondern eher negativ seien. Nachdem die Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren gegen den Vorsitzenden des Verfassungsgerichtes wegen Übertretung seiner Vollmachten einleitete, warnte Moody's, dass die Zuspitzung der Verfassungskrise die Spannungen Warschaus mit Brüssel verschärfen und damit auch das Investitionsklima im Lande verschlechtern könne. Wenn man bedenkt, dass sich auch die Agentur Fitch schon im Januar um die Unabhängigkeit der Banken in Polen sorgte, war dies das dritte Warnsignal der Wirtschaft. „Dabei ist bisher unsere Glaubwürdigkeit nur angestiegen“, erinnert die „Gazeta Wyborcza“ und liest der Regierung die Leviten: Rechtstaatlichkeit bedeute nicht nur Gewaltenteilung, sondern auch die Achtung von Verträgen, Abmachungen und Eigentumsrechten. Davon hänge auch das Wirtschaftswachstum des Landes ab, „weil es Investitionen sind und nicht freigiebige Geldverteilung, die stabile Wachstumsraten sichern. Doch selbst die hurraoptimistische Regierung gibt bereits zu, dass das Entwicklungstempo dieses und nächstes Jahr schwächer sein wird als bisher angenommen. Als Geisel ihrer Wahlversprechen gründet sie den Haushalt dennoch auf brüchige Fundamente …“

Ein Hinweis auf die Seelenlage der Polen gibt die neueste Umfrage des Meinungsforschungsinstituts IBRIS. Demnach vertrauen die Polen am meisten der Polizei (70 Prozent), der Armee (69), der NATO (61) und der katholischen Kirche (58). Am wenigsten vertrauen sie dem Parlament (22), der Regierung (27) und den öffentlichen Medien (31). Sichtlich größer ist das Vertrauen in die privaten Medien (48), die EU (46), die Gerichte (44) und das Verfassungsgericht (43). Wenn man will, kann man dies als ein Zeichen für einen entstehenden Verfassungspatriotismus deuten.