Nach der Europawahl im vergangenen Monat herrschte Erleichterung unter den Kommentatoren: Der prognostizierte Rechtsruck schien ausgeblieben – alles nicht so schlimm. Doch ein genauer Blick auf die Zahlen lohnt sich. Denn im nächsten Europaparlament erhalten rechte, euroskeptische Fraktionen ein Viertel der Sitze, zählt man die Partei des ungarischen Autokraten Viktor Orbán und neofaschistische Splitterparteien ohne Fraktionszugehörigkeit hinzu. Das ist im Vergleich zur letzten Europawahl zwar nur ein geringer Anstieg, bedeutsam ist aber der enorme Zuwachs lautstarker populistischer Parteien aus Italien, Frankreich, Polen und Großbritannien. Matteo Salvinis Lega und die Brexit-Partei von Nigel Farage entsenden jeweils genauso viele Parlamentarier nach Brüssel wie die CDU – die bisher größte Partei im Europaparlament. Mit dem Zugewinn von zehn AfD-Abgeordneten aus Deutschland werden zukünftig mehr Rechtspopulisten denn je in der europäischen Politik mitmischen.

Weil auch grüne und liberale Parteien wachsen – allen voran Emmanuel Macrons La République en Marche und die deutschen Grünen – während Sozialdemokraten und Konservative einbüßen, wird das Parlament polarisierter und die Mehrheitsfindung schwieriger.

Für den europäischen Klimaschutz bedeutet dies dreierlei. Erstens: Reaktionäre, klimaskeptische Anti-Europäer werden versuchen, das klimapolitische Ambitionsniveau bei anstehenden Verhandlungen deutlich zu senken und ihre illiberalen Vorstellungen von Gesellschaft und Politik noch energischer ins Parlament tragen. Zweitens: Die erstarkten progressiven Parteien und Fraktionen werden das gesellschaftliche und politische Momentum nutzen und wirksame und damit radikalere klimapolitische Maßnahmen einfordern. Und drittens: Die alten Volksparteien stehen am Scheideweg. Sie werden nicht nur ihre Klimakonzepte überdenken. Wollen sie relevant bleiben, müssen sie Antworten geben, die dem erdgeschichtlichen Ausmaß der Klimakrise angemessen sind. Orientieren sie sich an den klimapolitischen Bremsern, werden die selbstgesteckten Klimaziele wieder verpasst und die Chance zur Wende in der Klimapolitik verspielt.

Entweder wird der Diskurs über nachhaltige Transformation in die Breite der Gesellschaft getragen. Oder die Volksparteien stimmen ein in den Kanon jener Bedenkenträger, die Europas Wettbewerbsfähigkeit durch Klimaschutz gefährdet sehen.

In dieser Gemengelage wird die Klimafrage zur neuen gesellschaftlichen Konfliktlinie, an der sich traditionell-konservative und progressiv-kosmopolitische Milieus aneinander reiben. Daraus ergeben sich zwei Optionen. Entweder wird der Diskurs über die nachhaltige Transformation in die Breite der Gesellschaft getragen, der Klimadiskurs „repolitisiert“ und das Europäische Parlament zur Bühne der Zukunftsgestalter. Oder die Volksparteien stimmen ein in den Kanon jener Bedenkenträger, die Europas Zukunfts- und Wettbewerbsfähigkeit kurioserweise durch Klimaschutz gefährdet sehen. Eine politische Konsensverschiebung nach rechts haben wir in der Debatte um Flucht und Migration im Jahr 2016 gesehen. Werden wir bald beim Klimaschutz ein Déjà-vu erleben?

Als gestärkte politische Kraft gewinnen die Europaabgeordneten der Rechten mehr Einfluss in Brüssel durch parlamentarische Mitwirkungsrechte. Sie erlangen längere Redezeiten und finanzielle Mittel, dürfen Anträge einbringen, Gutachten beauftragen, Gutachter vorladen und Vorsitze der Ausschüsse übernehmen. Der Rechtsruck spielt sich aber nicht nur im Parlament ab. Im Herbst werden dezidierte Europafeinde ihre Kandidaten für EU-Kommissare und andere Spitzenämter vorschlagen. Bereits heute sitzen Rechtspopulisten in acht Regierungen der europäischen Mitgliedstaaten. Außerdem sind sie bereits in 23 von 28 nationalen Parlamenten in der EU vertreten.

Zwar waren die Zugewinne bei der Europawahl weniger spektakulär als prophezeit. Doch das Gesamtbild zeigt: Das rechte Lager konsolidiert sich und eine starke Rechte ist neue Normalität. Für den europäischen Klimaschutz sind Rechtspopulisten in Parlament, Rat und Kommission eine toxische Mischung. Denn in ihren Parteien manifestieren sich die Beharrungskräfte moderner Gesellschaften, die tiefgreifenden strukturellen Wandel zu verhindern suchen. Die katastrophalen Auswirkungen des Klimawandels bedrohen ganze Gesellschaften und treiben Millionen in die Flucht.

Man könnte meinen, globaler Klimaschutz sei ein willkommenes Thema für rechtspopulistische Kräfte, denen nichts mehr am Herzen liegt, als eine prosperierende und wettbewerbsfähige Wirtschaft und der Schutz des eigenen Volks vor Gefahren, zu denen die Auswirkungen der Klimakrise gehören. In der Vergangenheit votierte jedoch über die Hälfte der rechtspopulistischen Parlamentarier gegen Klimaschutz. Desinformation, Zweifel an wissenschaftlichen Fakten über den menschengemachten Klimawandel und der Kampf gegen demokratische Institutionen sind unter den europäischen Pendants der AfD schicklich. Die Klimakrise, für die Landesgrenzen nicht existieren, passt nicht in die völkische Erzählung; Klimaschutzmaßnahmen werden durch populistische Diskussionstaktiken zum Elitenprojekt stilisiert, Klimaschutz gegen Wirtschaftswachstum ausgespielt und die Konzeptions- und die Konzeptionslosigkeit christ- und sozialdemokratischer Parteien im Klimaschutz ausgenutzt.

In puncto Klimaschutz ist sich Salvinis neue pan-europäische Allianz einig: Die in ihr versammelten Parteien haben bisher gegen jedwede europäische Klimaschutzinitiative der letzten Jahre gestimmt.

Auch wenn die Berliner Junge Alternative (die Jugendorganisation der AfD im Land Berlin) jetzt ein Aufwachen der AfD in der Klimafrage fordert, wird die wachsende Rechte in Europa zukünftig noch stärker gegen internationalen Klimaschutz mobilisieren. In puncto Klimaschutz ist sich Salvinis neue pan-europäische Allianz einig: Die in ihr versammelten Parteien haben bisher gegen jedwede europäische Klimaschutzinitiative der letzten Jahre gestimmt.

Die Freitagsdemos von Schülern in ganz Europa und sichtbaren Folgen der Klimakrise haben Europas Bürgerinnen und Bürger wachgerüttelt – die existenzielle Bedeutung der Klimakrise für Frieden und Wohlstand schlägt sich zunehmend auf das Wahlverhalten nieder. Klima- und Umweltthemen waren in 2019 untern den vier meistgenannten Kriterien für die Wahlentscheidung in der EU – in einigen Ländern wie Deutschland, Schweden und Niederlande sogar auf Platz eins der wichtigsten Themen.

Grüne Parteien feierten zwar in Großbritannien, Frankreich, Finnland, Deutschland und Luxemburg bei dieser Wahl Erfolge, aber die grüne Welle ist bisher kein europaweites Phänomen. In Mittel- und Osteuropa haben grüne Parteien kaum Sitze hinzugewonnen und europaweit liegen die Grünen unter zehn Prozent. Dennoch dürfte das politische und gesellschaftliche Momentum für einen sozial-ökologischen Wandel die progressiven Fraktionen im Parlament stärken. Ein starker gesellschaftlicher Rückhalt legitimiert ambitionierte klimapolitische Forderungen und macht Koalitionen und Allianzen mit den Fraktionen der Mitte im Parlament wahrscheinlicher.

Die Fraktionen der Europäischen Volksparteien und Sozialdemokraten kommen nach erheblichen Verlusten erstmals nicht mehr auf eine parlamentarische Mehrheit. Neue Allianzen werden notwendig, mit Liberalen oder Grünen und, zumindest punktuell, mit nationalkonservativen Regierungsparteien aus Polen und Ungarn. Auch eine Koalition unter linken progressiven Fraktionen ist denkbar.

Klimapolitisch offenbaren nicht nur Konservative und Sozialdemokraten in Deutschland eine Orientierungs- und Konzeptlosigkeit. In ganz Europa haben sie es jahrzehntelang verschlafen, Strategien zur CO2-Bepreisung, zum Ausstieg aus fossilen Brennstoffen und für die Agar- und Verkehrswende zu entwickeln und umzusetzen.

Die Frage ist: Können traditionelle Volksparteien, Konservative wie Sozialdemokraten, jetzt die Gegenwartsfalle überwinden und dem populistischen Anti-Eliten-Narrativ und klimapolitischen Roll-Back eine glaubwürdige Zukunftsvision entgegensetzen, die enkeltauglich und sexy ist? Lassen sie sich weiter von populistischen Parteien den Takt vorgeben, sind sie maßgeblich für die gesellschaftliche Diskursverschiebung mitverantwortlich. Werden sie diejenigen sein, die konstruktiv jene Zielkonflikte ausdiskutieren, die angesichts notwendigen Strukturwandels unausweichlich sind? Oder schrecken sie weiter vor radikal anmutenden Antworten für eine sozial-ökologische Transformation zurück im Glauben, dass Markt, Effizienz und Technologie die Klimakrise lösen?

In den nächsten fünf Jahren stehen richtungsweisende Entscheidungen für den Klimaschutz auf EU-Ebene an: Das neue EU-Budget 2021 bis 2027 wird verabschiedet, die Klimaziele der EU für 2030 und 2050 müssen erneuert, eine Kerosinsteuer könnte eingeführt und klimaschädigende Subventionen abgeschafft werden. Ein EU-weiter Kohleausstieg, die Reform der europäischen Agrarpolitik und die Umsetzung der Richtlinien auf nationaler Ebene sind fällig. Es geht bei diesen Entscheidungen nicht nur um den Klimaschutz, sondern auch darum, Europas Industriegesellschaften zu modernisieren, einen sozial gerechten Umbau zu organisieren und diesen Weg mehrheitsfähig zu machen.

Dazu braucht es ein europäisches Zukunftsnarrativ: das Europa wettbewerbsfähiger Ökonomien, sozialer Sicherung und einer gesunden Umwelt. Das europäische Projekt der Moderne gestaltet den industriellen Wandel in eine dekarbonisierte Welt, investiert in intelligente und resiliente Verkehrs- und Energieinfrastruktur über nationale Grenzen hinaus, fördert Forschung und Entwicklung für transformative technologische Innovationen, entwickelt den ländlichen Raum und stärkt Bildungssysteme und Kulturprogramme, die Europa erlebbar machen. Es fördert Kreativität, Sozialkompetenz und gesellschaftliches Engagement, garantiert faire Löhne in allen Lebensphasen und bezahlbaren Wohnraum, schützt Ökosysteme und Artenvielfalt und schafft Inseln der Ruhe und des Flanierens in Europas Metropolen. Darum geht’s, um nicht weniger.