Bei Ausbruch der jugoslawischen Nachfolgekriege 1991 proklamierte der damalige EU-Ratsvorsitzende Jacques Poos „die Stunde Europas“. Doch stattdessen wurde der Balkan zum Albtraum Europas, mit den Kriegen in Kroatien, Bosnien und Kosovo, mit über Hunderttausend Toten und Millionen Flüchtlingen, von denen viele auch in Deutschland Aufnahme fanden. Erst das Eingreifen der USA beendete das Schlachten, für das der Völkermord von Srebrenica als Schreckenssymbol steht. Seitdem herrscht zwar Frieden, aber es ist ein „kalter Frieden“, der jederzeit wieder zum heißen Krieg werden könnte. Denn keines der fundamentalen Probleme der Region wurde gelöst: die ungeklärten Nationalfragen von Albanern, Serben und Kroaten; die miserable wirtschaftliche Lage und die horrende Arbeitslosigkeit; und die mit beidem zusammenhängende enge Verstrickung von politischer Macht und organisierter Kriminalität in fast allen Balkanstaaten.

In Mazedonien starben vor kurzem 18 Menschen bei einer Schießerei zwischen Polizei und albanischen Extremisten; nach wochenlangen Massenprotesten gegen die zunehmend autoritäre Regierung von Ministerpräsident Nikola Gruevski kam es durch EU-Vermittlung jetzt zu einer Vereinbarung über Neuwahlen. Anfang des Jahres lenkten die stetig wachsenden Asylanträge aus dem Kosovo die Aufmerksamkeit auf die verheerenden Zustände im jüngsten Balkanland. In Bosnien zementierten nach sozialen Massenprotesten die Parlamentswahlen Ende 2014 die seit zwanzig Jahren anhaltende Herrschaft der ethnischen Parteien mit der Gefahr eines schleichenden Staatszerfalls. In Rumänien schließlich ermittelt die Staatsanwalt gegen Ministerpräsident Victor Ponta wegen Korruption und Steuerhinterziehung.

Diese wenigen Schlagzeilen werfen ein bezeichnendes Licht auf die Zustände in dieser strategisch wichtigen europäischen Nachbarregion, aber auch auf das Versagen der Europäischen Union in ihrem „Hinterhof“. Die Probleme der Region im Überblick:

 

Die nationale Frage

Der blutige Zwischenfall in Mazedonien hat vor allem die „albanische Frage“ wieder zurück ins Bewusstsein gerufen, aus dem sie zumindest im Herzen der meisten Albaner nie verschwunden war. Nur etwa die Hälfte der ethnischen Albaner lebt in Albanien, die anderen verteilen sich auf das mehrheitlich albanisch bewohnte Kosovo und auf Mazedonien, wo sie etwa ein Drittel der Bevölkerung bilden. Ihr Zusammenleben in einem „Großalbanien“ ist ein alter Traum, der allerdings nur mit erheblichen Grenzverschiebungen und gegen massive Widerstände der Nachbarn zu verwirklichen wäre. Ein anderes ungeklärtes nationales Problem ist die Zukunft der „Serbischen Republik“ im bosnischen Staatsverband, deren Bewohner sich lieber heute als morgen an das serbische Mutterland anschließen würden. Ähnliches gilt auch für die bosnischen Kroaten.

 

Die Wirtschaftslage

Fast alle Balkanländer, einschließlich der EU-Mitglieder Rumänien und Bulgarien, zählen zu den Armenhäusern Europas. Ihr Durchschnittseinkommen liegt selbst weit unter dem der mitteleuropäischen Beitrittsländer wie Polen und Ungarn, vielfach herrscht blanke Armut. Wirtschaftlichen Fortschritt hat es seit Beendigung der Kriege kaum gegeben, in Kosovo, Bosnien und Mazedonien liegt die Jugendarbeitslosigkeit bei über 50 Prozent, was den Wunsch nach Auswanderung erklärt. Nach einer FES-Studie trägt sich fast die Hälfte der jungen Leute in den Balkanländern mit dem Gedanken der Auswanderung. An der Spitze stehen Albanien mit 66,7 Prozent, Kosovo (55,1 Prozent), Mazedonien (52,8 Prozent) und Bosnien mit 49,2 Prozent.

 

Organisierte Kriminalität

Die von der NATO 1999 herbeigebombte Unabhängigkeit Kosovos hat nach Aussagen eines dort stationierten BND-Mitarbeiters einen Staat geschaffen, „in dem organisierte Kriminalität die Staatsform ist“.  Das Land ist ein Hauptumschlagplatz für Heroin aus Afghanistan nach Europa und ein Großteil der politischen Elite ist in diese und ähnliche Geschäfte, wie Handel mit menschlichen Organen, verwickelt oder deckt sie ab (dem derzeitigen Außen- und früheren Premierminister Hashim Taci droht deswegen eine Anklage vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag). Obwohl seit 1999 unter internationaler Aufsicht mit 1800 EU-Polizisten vor Ort und massiver Wirtschaftshilfe, ist man von einem Rechtsstaat weit entfernt und lebt ein Drittel der Bevölkerung unter der Armutsgrenze. Kein Wunder, dass der Drang nach Europa steigt, zumal die Hälfte der Bevölkerung unter 25 Jahre alt ist und das hohe Bevölkerungswachstum die Probleme in Zukunft noch verschärfen wird.

Nach dem kläglichen Versagen in den Kriegen der 1990er Jahre hatte die EU die Verantwortung für Demokratisierung und Wiederaufbau im westlichen Balkan übernommen. Zum Teil geschah dies direkt in Form von Quasi-Protektoraten, wie Bosnien und Kosovo, zum Teil mit massiver Präsenz, wie in Mazedonien. Doch weder herrscht Stabilität, noch gibt es wirtschaftliche Entwicklung in dieser Region, die zunehmend wieder in das geopolitische Blickfeld anderer Mächte gerät, wie der USA, Russlands und der Türkei. „Die Situation (im Kosovo) ist schlechter als vor der europäischen Mission“, schrieb Andrea Capussela, ehemaliger Mitarbeiter der internationalen Verwaltung. Der Grund dafür könnte in den Worten des kosovarischen Politologen Belul Beqaj darin liegen, dass „diejenigen, die Kosovo europäisieren wollten, sich selbst balkanisiert haben“.

Nicht nur in Kosovo ist die Bilanz der EU unbefriedigend: Auf der Habenseite steht an erster Stelle die Tatsache, dass der Frieden bewahrt wurde – keine geringe Tatsache angesichts des gerade begangenen 20. Jahrestags von Srebrenica. Und im vergifteten Verhältnis zwischen Serbien und dessen früherem Territorium Kosovo hat Brüssel erfolgreich Brücken geschlagen.

Allerdings hat es trotz massiver europäischer Hilfe in der Region kaum wirtschaftlichen Fortschritt gegeben. Und von echten Reformen in Richtung Rechtsstaat und Korruptionsbekämpfung ist man in den meisten Ländern – auch in den EU-Staaten Rumänien und Bulgarien – weit entfernt. Der Grund: Solange die EU-Gelder fließen, gibt es für die korrupten Eliten keinen Grund, das für sie komfortable System zu ändern. Würde man den Mittelzufluss aber stoppen, so bestünde die Gefahr einer erneuten Eruption von Gewalt. Das kann die EU aber nicht riskieren, weil sie als „soft power“ nicht über die nötige „hard power“, sprich militärische Mittel, aber auch nicht den Willen zu deren Einsatz verfügt. Die NATO, das heißt die USA, müsste dann wieder einspringen. Ob die Amerikaner dazu bereit wären, darf angesichts ihrer Interventionsmüdigkeit nach den schlechten Erfahrungen in Irak und Afghanistan bezweifelt werden.

 

Die russische und die türkische Option

Für Serben, Bulgaren und Mazedonier gibt es außerdem noch die „russische Option“. Von dieser Option ist zwar offiziell selten die Rede, doch wird sie in nationalistischen Kreisen als Karte in der Hinterhand betrachtet, falls die EU zu hohe Anforderungen stellen sollte. Moskau verfügt zudem in der Medienlandschaft Serbiens und Montenegros über zunehmenden Einfluss. Energiepolitisch sind die meisten Balkanstaaten ohnehin von Russland abhängig und dies würde durch den von Russland geplanten Bau der „Turkish Stream Pipeline“ noch verstärkt. In den stark islamisch geprägten Staaten Albanien, Kosovo und Bosnien wächst derweil der Einfluss der Türkei, die sich immer mehr von Europa abwendet und die den lokalen Eliten im Gegensatz zur EU keine Bedingungen stellt.

Brüssel hat schon vor mehr als zehn Jahren allen Balkanländern die Perspektive einer EU-Mitgliedschaft eröffnet. Doch das in Mitteleuropa und im Baltikum so erfolgreiche Instrument Erweiterungspolitik hat auf dem Balkan mit Ausnahme Serbiens bisher versagt. Das liegt auch daran, dass die EU über keine „Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik“ verfügt, die diesen Namen verdient. Die entscheidenden Akteure sind nach wie vor die Nationalstaaten, und diese sind – allen voran Berlin und Paris – anderweitig beschäftigt: mit Griechenland, der Ukraine, Iran. Daran ändert auch der kürzliche Blitzbesuch von Bundeskanzlerin Angela Merkel in Belgrad und Tirana wenig. Doch könnte sich die Vernachlässigung des Balkan schon bald rächen: Einen weiteren Krisenherd in seiner unmittelbaren Nachbarschaft kann sich Europa nicht leisten.