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Der Ausbruch von Covid-19 sorgt für Angst und Verunsicherung – Gefühle, die einen starken Einfluss auf politische Einstellungen und Entscheidungen haben können. Schon jetzt steht fest, dass die Pandemie auch politisch instrumentalisiert wird. Die jüngsten Entwicklungen in Polen sind ein markantes Beispiel dafür, wie das Coronavirus das politische Geschehen durcheinanderwirbelt: Dort stellt sich im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen die Frage nach der Integrität der politischen Führung.

Viele Regierungschefs sind derzeit bemüht, breite Koalitionen zu schmieden und im Interesse des sozialen Friedens auf politische Streitereien zu verzichten. Aber die Corona-Epidemie lässt sich politisch auch ganz anders nutzen. In Polen stehen im Mai Präsidentschaftswahlen an. Das Land steht wegen des offenen Konflikts mit der Europäischen Union unter verschärfter Beobachtung. Die EU wirft der amtierenden nationalkonservativen Regierung unter Führung der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) vor, sie betreibe einen rasanten Demokratieabbau, gefährde die Rechtsstaatlichkeit und wolle die Justiz politisch gefügig machen.

Auf die heraufziehende Krise hat die als undemokratisch oder „illiberal“ kritisierte Regierung sofort reagiert: Schulen, öffentliche Einrichtungen und Restaurants wurden geschlossen, die Grenzen überwacht. Das staatliche Gesundheitssystem ist allerdings geschwächt, weil es jahrelang vernachlässigt wurde und finanziell am Boden liegt. Ärzte und anderes medizinisches Personal arbeiten ohne ausreichende Schutzausrüstung, die Testkapazitäten sind ungenügend. Die Folge: Mehrere Krankenhäuser, die mit dem Virus kontaminiert waren, wurden dichtgemacht, über 500 Beschäftigte im Gesundheitswesen infizierten sich, 4 500 sind in Quarantäne. Im von der Regierung kontrollierten Staatsfernsehen kritisieren Regierungsvertreter unterdessen die Reaktion der EU auf den Ausbruch und rühmen sich, die Epidemie erfolgreich eingedämmt zu haben.

Dass die PiS-Partei so entschlossen ist, die Präsidentschaftswahlen termingerecht abzuhalten, hat seinen Grund: Die Aussichten für die kommenden Monate sind düster bis verheerend.

Der in der vergangenen Woche eingeführte „Epidemiezustand“ schränkt das öffentliche Leben noch stärker ein. Aktiver Wahlkampf kann praktisch nicht mehr stattfinden. Während andere Präsidentschaftskandidaten sich an die sozialen Abstandsregeln halten und ihren Wahlkampf auf Eis gelegt haben, reist allerdings der von der Regierungskoalition unterstützte Amtsinhaber durchs Land und absolviert reihenweise öffentliche Auftritte. Die Opposition wirft ihm unlauteren Wettbewerb vor und bezeichnet ihn als „Corona-Kandidaten“.

Dem hält Andrzej Duda entgegen, er erfülle lediglich seine Pflichten als Staatsoberhaupt. Noch im Februar war ausgesprochen fraglich, ob ihm die Wiederwahl gelingen würde. Inzwischen rückt für Duda ein Sieg im ersten Wahlgang immer mehr in greifbare Nähe. Trotz der sich verschärfenden Krisensituation soll die Wahl nach wie vor am 10. Mai stattfinden. Juristen sehen dies kritisch, weil Tausende von Bürgerinnen und Bürgern, die in häusliche Quarantäne geschickt wurden, nicht an der Abstimmung teilnehmen könnten. Führende Mediziner sprechen angesichts der ohnehin schon katastrophalen Situation eindringliche Warnungen aus. Trotzdem hält die Regierung beharrlich am Wahltermin fest.

In Polen gibt es mehr als 30 Millionen Wahlberechtigte. Auch die Bürgerinnen und Bürger, die fern der Heimat leben, können ihre Stimme abgeben. Bei den Parlamentswahlen 2019 wurden allein in Deutschland 23 Auslandswahllokale eingerichtet, vor denen sich wegen des enormen Interesses mitunter lange Schlangen bildeten. Unter den jetzigen Umständen wirkt schon der Gedanke an eine öffentliche Veranstaltung, und erst recht an eine Volkswahl, abwegig. Davon lässt die Regierungspartei sich jedoch nicht beirren. Das führt zu absurden Situationen und hat unter anderem zur Folge, dass die Behörden widersprüchliche Signale aussenden. Einerseits werden weitere Einschränkungen verkündet und saftige Bußgelder für Quarantäneverstöße verhängt, und der Gesundheitsminister warnt vor der steigenden Infektionsgefahr. Andererseits stellen der Ministerpräsident und der amtierende Staatspräsident sich auf den Standpunkt, wer einkaufen gehen könne, könne auch wählen gehen.

Dass die PiS-Partei so entschlossen ist, die Präsidentschaftswahlen termingerecht abzuhalten, hat seinen Grund. Die Aussichten für die kommenden Monate sind düster bis verheerend; sehr wahrscheinlich rutscht Europa in eine tiefe Rezession, von der auch Polen nicht verschont bleiben wird. Nach ersten Schätzungen dürfte bis zum Jahresende das Bruttoinlandsprodukt um 10 Prozent schrumpfen und die Arbeitslosenquote um ebenfalls 10 Prozent steigen.

Das Vorgehen der PiS-Partei ist also ein verzweifeltes Anrennen gegen die Zeit. Ihre führenden Köpfe verfolgen mit bangem Blick, wie die Epidemie sich entwickelt.

Doch nicht nur die Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage sitzt der PiS-Partei im Nacken. Die Partei hat als großes Vorzeigeprojekt großzügige sozialpolitische Reformen umgesetzt, die den Menschen Kindergeld, eine 13. Rente und einen höheren Mindestlohn bescheren. Jetzt fragt sich, welche dieser Maßnahmen die Rezession überstehen werden. Die coronabedingte Konjunkturflaute könnte die polnischen Haushalte also doppelt hart treffen: erstens durch den Schock auf dem Arbeitsmarkt und zweitens durch den Wegfall der Sozialtransfers, mit denen sie kalkuliert haben. Sich in einer solchen Situation um eine Wiederwahl bewerben zu müssen, ist für keinen Kandidaten erstrebenswert.

Das Vorgehen der PiS-Partei ist also ein verzweifeltes Anrennen gegen die Zeit. Ihre führenden Köpfe verfolgen mit bangem Blick, wie die Epidemie sich entwickelt, und wurschteln sich mit Sicherheitsvorkehrungen durch, die nicht so restriktiv sein dürfen, dass die Wahl von Rechts wegen nicht stattfinden kann. In einem Radiointerview kritisierte der Menschenrechtsbeauftragte, die letzte unabhängige Instanz innerhalb der polnischen Administration, dass die Regierung den Notstand noch nicht ausgerufen hat. Damit würde der Urnengang definitiv gestoppt.

Laut Umfragen ist die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung dafür, die Wahl zu verschieben. Immer mehr Bürgermeister und Kommunalverwaltungen stellen sich gegen die Regierung und weigern sich, die nötige Infrastruktur – Wahllokale und Wahlhelfer – zu organisieren, weil sie die öffentliche Gesundheit nicht gefährden wollen. Selbst die Regierungskoalition ist in dieser Frage tief gespalten, nachdem der Parteichef eines der kleineren Koalitionspartner und stellvertretende Ministerpräsident sich weigerte, die Fortsetzung der Wahlvorbereitungen mitzutragen und aus Protest zurücktrat. Die Situation steht auf Messers Schneide.

Der Höhepunkt der Covid-19-Welle wird in Polen für Ende April erwartet. Der Gesundheitsminister steht offensichtlich politisch enorm unter Druck und will seine Empfehlung erst nach den Osterferien verkünden. Derweil ignoriert die PiS-Partei die Faktenlage und arbeitet entgegen der Logik unermüdlich auf die Präsidentschaftswahl am 10. Mai hin. Inzwischen spricht sie sich dafür aus, alle Bürgerinnen und Bürger per Briefwahl abstimmen zu lassen (am Montagabend verabschiedete der Sejm den Gesetzentwurf zur Korrespondenzabstimmung, er wurde daraufhin im Gesetzgebungsverfahren an den Senat verwiesen) oder das Militär für die Organisation und Durchführung der Wahl einzuspannen. Ihr politisches Kalkül ist offensichtlich: Sie sieht in der Coronakrise und den dadurch bedingten Notmaßnahmen die Chance, die Konkurrenz aus dem Feld zu schlagen und ihre Macht auf Jahre hinaus weiter zu festigen.

Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld