Nach einem verheerenden Kriegsjahr hat die Stagnation im ukrainisch-chinesischen Verhältnis sich verfestigt, auch wenn die Regierung in Kiew sich nach außen hin eifrig bemüht, die ungünstige Dynamik zu leugnen. Es lässt sich allerdings immer weniger bestreiten, dass die Ukraine und die Volksrepublik China die strategische Situation unterschiedlich bewerten, zumal China die ukrainischen Leugnungsversuche unterläuft. So kritisierte Chinas EU-Botschafter  Fu Cong vor Präsident Wolodymyr Selenskyjs Besuch in Brüssel die westlichen Appelle, der Ukraine zum „vollständigen Sieg“ zu verhelfen, und plädierte dafür, die Waffenlieferungen einzustellen und „am Verhandlungstisch Platz zu nehmen“.

Vor diesem Hintergrund ist es durchaus bedeutsam, wenn der ukrainische Vize-Außenminister Andrij Melnyk erklärt, die Ukraine sollte ihr Verhältnis zu Peking überdenken und sich über eine neue außenpolitische Strategie Gedanken machen. Ähnliche Äußerungen sind auf unterschiedlichen Regierungsebenen und von ukrainischen Expertinnen und Experten zu hören. Chinas Haltung zum russischen Krieg gegen die Ukraine passt nicht zur 2011 geschlossenen „strategischen Partnerschaft“ und auch nicht zur „Strategie der außenpolitischen Aktivitäten der Ukraine“, die der Präsident im August 2021 erlassen hat. Es gibt auch keine Anzeichen dafür, dass China seine außenpolitische Strategie gegenüber der Ukraine in absehbarer Zukunft wesentlich ändern wird.

Das Präsidentenbüro beabsichtigt vorerst keine einschneidenden Schritte in den Beziehungen zu China. Dessen Chef Andrij Jermak erklärte: „Wir haben gehofft und hoffen nach wie vor, dass China seine Haltung zu diesem Krieg ändert. Eine Möglichkeit dazu bietet aus unserer Sicht die von Präsident Selenskyj vorgeschlagene Friedensformel.“ Im Kontext des globalen politisch-diplomatischen Krieges, in dem die Ukraine zu einer weiteren Front geworden ist, lässt sich die Position der Regierung nur schlecht abschließend bewerten. Möglicherweise verbirgt sich hinter dem augenscheinlich naiven Glauben, man könne Peking als Unterstützer für die Friedensformel gewinnen, das durchaus rationale Kalkül, Chinas Annäherung an Russland aufzuhalten.

Staatspräsident Xi Jinping meidet seit der Großinvasion den direkten Dialog mit Wolodymyr Selenskyj.

Seit den ersten Kriegstagen lässt Kiew jedenfalls nichts unversucht, die verhärtete chinesische Diplomatie von ihrer formellen „Neutralität“ abzubringen. Das Einzige, was für die Ukraine dabei herauskam, waren zwei Telefonate und ein Zusammentreffen beider Außenminister am Rande der UN-Generalversammlung. Staatspräsident Xi Jinping meidet seit der Großinvasion den direkten Dialog mit Wolodymyr Selenskyj. Das letzte Telefonat zwischen Selenskyj und Xi fand im Juli 2021 statt.

Die ukrainische Seite ist allerdings auch nicht ganz konsequent, wenn es um die Pflege ihrer Beziehungen zu China geht: Seit fast zwei Jahren hat die Ukraine keinen Botschafter mehr in Peking und lässt sich dort nur durch einen Geschäftsträger ad interim vertreten. Dass Kiew sich mit der Ernennung eines Gesandten so viel Zeit lässt, ist (selbst wenn man die strikten Quarantänemaßnahmen in China einbezieht) Wasser auf die Mühlen aller, die behaupten, die ukrainische Regierung sei für die Erosion der bilateralen Beziehungen mitverantwortlich. Inzwischen sind wir aber ohnehin an einem Punkt angelangt, an dem die Ernennung eines Botschafters nicht dazu führen würde, dass China sich mehr für die Ukraine interessiert.

Peking hat seine Position in den ersten Kriegstagen festgelegt.

Peking hat seine Position in den ersten Kriegstagen festgelegt und offenbar die Absicht, auf lange Sicht an der generellen Linie festzuhalten. China betrachtet die Geschehnisse in der Ukraine unter dem Aspekt, dass sie vielleicht die Möglichkeit eröffnen, die USA aus Südostasien zu verdrängen, weil deren militärisches und wirtschaftliches Engagement sich auf Osteuropa konzentriert. Die chinesischen Eliten hoffen, dass die gewählte Strategie ihnen zum „Heiligen Gral“ verhilft und sie das chinesische Nationalprojekt für das 21. Jahrhundert verwirklichen können: die Kontrolle über Taiwan.

Weitere wichtige Faktoren, die politisch und diplomatisch am ukrainisch-chinesischen Verhältnis nagen, sind die innenpolitischen Transformationsprozesse in China. Bei aller Undurchsichtigkeit des chinesischen Systems sind sich Beobachter in aller Welt einig: Nach dem für die Politik Chinas schicksalhaften 20. Parteitag der KP gibt es in den Führungsetagen der chinesischen Parteihierarchie nur noch erzloyale Gefolgsleute Xi Jinpings.

Xis Politik- und Regierungsstil setzt darauf, dass in diversen Lebensbereichen die Ideologie wieder eine bedeutendere Rolle spielen soll. Das bedeutet unter anderem, dass China mindestens in den nächsten zehn Jahren (so lange wird Xi voraussichtlich an der Macht bleiben) eine ideologiegetriebene Außenpolitik praktizieren wird. Vor dem Hintergrund, dass die strategische Konkurrenz zwischen China und den USA immer weitere Kreise zieht und die Taiwanfrage sich weiter zuspitzt, müssen wir uns auf die Fortsetzung der sogenannten Wolfskrieger-Diplomatie und die damit verbundene „Versicherheitlichung“ der chinesischen Außenpolitik einstellen.

Russland wird Stück für Stück in das Netz der China-Abhängigkeit eingesponnen.

Unter diesen Umständen wird Peking sich in seiner Grundeinstellung zum Ukrainekrieg von der weltanschaulichen Konfrontation mit dem Westen leiten lassen. China wird seine antiwestliche Rhetorik systematisch steigern, wobei das Thema Ukrainekrieg schon fest im Feld der ideologischen Gegensätze verankert ist. Dabei kommt der Ukraine die undankbare Rolle einer „Marionette“ der USA zu und der Krieg wird als amerikanischer Versuch dargestellt, Russland geopolitisch zu schwächen.

Parallel wird das sanktionsgeschwächte und durch den Feldzug gegen die Ukraine zurückgeworfene Russland Stück für Stück in das Netz der China-Abhängigkeit eingesponnen. Andererseits will Peking seine Position nicht dadurch schwächen, dass chinesische Unternehmen von westlichen Sekundärsanktionen getroffen werden. Darum wird die Hilfe für Moskau sich in Grenzen halten und gerade ausreichen, um die russische Rüstungsindustrie über Wasser zu halten. Zugleich hat China ein Interesse daran, dass der Krieg lokal begrenzt bleibt. Wenn die Krise sich über die Grenzen der Ukraine hinaus ausweitet, steigt das Risiko einer Stagnation der Weltwirtschaft erheblich. Das würde auch die chronischen Krankheiten der chinesischen Wirtschaft verschärfen.

Um den Kreml in seine Umlaufbahn hineinzuziehen, setzt China auf eine Zuckerbrot-Politik und vor allem auf Wirtschaftsdoping. China hat seine Wirtschaftsbeziehungen mit Russland erheblich intensiviert, seine Energieeinkäufe in Russland erhöht und arbeitet am Bau neuer Gaspipelines mit der Russischen Föderation.

China hat ein Interesse daran, dass der Krieg lokal begrenzt bleibt.

Eine weitere wichtige Stoßrichtung ist die Diplomatie. Xi ließ es sich nicht nehmen, sich mit Putin persönlich zu treffen, auch wenn die Kontaktintensität spürbar nachgelassen hat und den Erwartungen des Kremls kaum entsprochen haben dürfte. Immerhin reichte die diplomatische Koordination mit Moskau so weit, dass Peking sich gegen den Ausschluss Russlands aus den G20 und aus dem UN-Menschenrechtsrat wandte und Russland bei Abstimmungen im UN-Sicherheitsrat unterstützt.

In nächster Zeit ist mit allerlei Spekulationen und Kommentaren über die Aktivierung des russisch-chinesischen „Bündnisses“ zu rechnen, denn für den 20. Februar ist ein Besuch von Wang Yi geplant. Er leitet das Büro der Kommission für auswärtige Angelegenheiten der KP Chinas und soll in Moskau das Terrain für den Russlandbesuch des chinesischen Staatspräsidenten vorbereiten. Die militärisch-technologische Unterstützung der Russischen Föderation ist für die Ukraine ein besonders heikles Thema. Vermutlich lässt Peking es nicht bei rein demonstrativen Aktionen wie der Teilnahme chinesischer Soldaten an gemeinsamen Manövern im Rahmen der Militärzusammenarbeit bewenden. In der westlichen Presse war kürzlich zu lesen, Russland werde mit militärischen Bauteilen, Ausrüstungen und Technologien aus China beliefert. Es ist nicht auszuschließen, dass für die Vertuschung dieser Zusammenarbeit das enfant terrible Pekings und Moskaus eingespannt wird: das nordkoreanische Regime. Massenhafte Waffen- und Panzerlieferungen aus China sind allerdings nicht zu erwarten. Die chinesische Wirtschaft ist bekanntermaßen auf die westlichen Märkte so sehr angewiesen, dass Peking die Sanktionen fürchtet und kein Interesse daran hat, dass der Krieg sich zu einem weltweiten bewaffneten Konflikt ausweitet.

Deshalb hält China formell an seiner neutralen Haltung fest, verbreitet auf der internationalen Bühne russlandfreundliche Narrative und federt die Auswirkungen der westlichen Sanktionen auf Russlands Wirtschaft ab. Solange der Krieg sich strategisch nicht zugunsten der Ukraine wendet und damit Pekings Kalkül durchkreuzt, wird Kiew deshalb der Zugang zu den höheren Sphären der chinesischen Politikelite verwehrt bleiben.

Mittelfristig sind alle Hoffnungen vergebens, China könnte in Bezug auf die Ukraine eine konstruktivere Rolle übernehmen.

Mittelfristig sind alle Hoffnungen vergebens, China könnte in Bezug auf die Ukraine eine konstruktivere Rolle übernehmen. Für die Ukraine ist es an der Zeit, eine neue Chinapolitik zu entwickeln, die nicht auf Wunschdenken basiert, sondern auf dem Pragmatismus der neuen Weltordnung. Es ist an der Zeit, nicht nur Wirtschaftsinteressen zu verfolgen (seit 2019 ist China der wichtigste Handelspartner unseres Landes), sondern das große Ganze in den Blick zu nehmen und auch Sicherheitsfragen einzubeziehen. Die Frage, über die Kiew sich vor allem kritische Gedanken machen sollte, lautet: Wie will die Ukraine das, was sie sich von der Umwerbung der Volksrepublik verspricht, mit dem angestrebten EU- und NATO-Beitritt und den damit einhergehenden Verpflichtungen unter einen Hut bringen? Unter Sicherheitsaspekten ähnlich heikel ist die Frage, ob man in den Wiederaufbau der ukrainischen Infrastruktur chinesische Unternehmen einbindet.

Wichtig ist auch, die Zusammenarbeit mit China im Kontext der regionalen Situation in Ostasien zu betrachten, denn die Sicherheitslage in dieser Region wird sich auch auf die strategische Position der Ukraine auswirken.

Aus dem Russischen von Andreas Bredenfeld