Am 5. Mai gehen in Nordirland die Bürgerinnen und Bürger an die Urnen, um die Mitglieder der Nordirland-Versammlung, also des Regionalparlaments, zu wählen. Sie erhoffen sich, dass nach dieser Frühjahrswahl die Zeichen positiver stehen werden als in den vergangenen Jahren. Im Zuge des Brexit-Dramas haben das Misstrauen und die Distanz zwischen den führenden Parteien der beiden nordirischen Bevölkerungsgruppen noch mehr zugenommen: Auf der einen Seite steht die überwiegend protestantische, pro-britische Democratic Unionist Party (DUP), auf der anderen die mehrheitlich katholische, irisch-republikanische Sinn-Féin-Partei, die die Teilung Irlands beenden will.
Anfang 2017 war das Abkommen zur Machtteilung zwischen den beiden Parteien aufgrund von Streitigkeiten um die Verschwendung öffentlicher Mittel auseinandergebrochen. Bis Januar 2020 lag Stormont, der Sitz des nordirischen Regionalparlaments und der Regierung, verwaist. Erst dann verständigten sich DUP und Sinn Féin unter dem Motto Neues Jahrzehnt, neuer Ansatz darauf, die Amtsgeschäfte wieder aufzunehmen. Die Vereinbarung enthielt gerade genug Zusagen, um alle zufriedenzustellen: für die Nationalisten ein Gesetz zum Schutz der irischen Sprache (das jedoch nie eingebracht wurde); für die von den Brexit-Sonderregelungen des Nordirland-Protokolls frustrierten Unionisten der ungehinderte Zugang nordirischer Unternehmen zu Großbritannien. Außerdem wurde sich auf neue gesetzgeberische Maßnahmen verständigt, die einen Regierungsstillstand in Zukunft verhindern sollten.
Würde das Amt des Stellvertretenden Ersten Ministers – erstmalig – von den Unionisten übernommen, wäre dies das bislang deutlichste Zeichen dafür, dass den beiden großen Traditionen und Parteien die gleiche Wertschätzung entgegengebracht wird.
Die Abgeordneten nahmen ihre Arbeit auf, und trotz der Covid-Pandemie, die nur wenige Wochen später ausbrach, konnten Parlament und Exekutive einigermaßen gut zusammenarbeiten. Doch dem schwierigen Start der Legislaturperiode stand ihr Ende in nichts nach: Nach monatelangen Drohungen trat Paul Givan, der von der DUP gestellte Erste Minister, im Februar 2022 aus Protest gegen das Nordirland-Protokoll zurück und sorgte damit faktisch für die Entmachtung der dezentralen Institutionen in Nordirland.
Doch die Nordirland-Versammlung gab sich nicht geschlagen. In Ermangelung einer voll funktionsfähigen Regierung rang sich die Legislative zu ungekannter Tatkraft und Entschlossenheit durch. Anzahl, Umfang und Zielsetzung der von ihr behandelten Gesetzentwürfe waren schlicht außergewöhnlich. In den letzten beiden Monaten der Legislaturperiode wurden insgesamt 26 Gesetze verabschiedet, unter anderem zum Klimawandel, Schutz vor Stalking, zu Abtreibungsberatung, Autismus und zu bezahltem Urlaub für Opfer häuslicher Gewalt. Am letzten Sitzungstag Ende März, an dem fünf Gesetze angenommen wurden, war im Parlament ein Hochgefühl von Demokratie zu spüren. Zahlreiche Abgeordnete teilten in den sozialen Medien ihre Freude über die legislativen Meilensteine und ihre Hoffnung auf Veränderungen. Diese Begeisterung rührte vor allem auch daher, dass viele Menschen in Nordirland so lange darauf gewartet haben, dass lokal gewählte Vertreterinnen mit Gesetzen wie diesen auf die Bedürfnisse vor Ort reagieren. Gleichzeitig ist es umso bedrückender, dass die Zukunft des Parlaments von Zweifeln überschattet ist.
Die Zukunft der Nordirland-Versammlung – und vielleicht sogar die des Karfreitagsabkommens – wird stark davon abhängen, wie Brüssel weiter vorgeht.
Wenn die neuen Mitglieder der Nordirland-Versammlung im Mai in Stormont zusammentreten, wird die Partei mit den meisten Sitzen den Ersten Minister ernennen. Sofern es nicht zu einem Wahlbeben kommt, wird dies entweder die Sinn Féin oder die DUP sein. Nach aktuellen Umfragen dürfte mit hoher Wahrscheinlichkeit Sinn Féin das Rennen machen. Obwohl das Amt des Ersten Ministers dem des Stellvertreters gleichgestellt ist, weigert sich die DUP bislang, sich unter einem von Sinn Féin gestellten Ersten Minister auf eine Machtteilung einzulassen.
Das hat eher symbolische als machtspezifische Gründe – das Amt ist in jeder Hinsicht ein geteiltes. In einer Region, in der Ortsnamen, Blumen oder Flaggen ebenso mitreißend wie beleidigend wirken können, spielt Symbolik eine wichtige Rolle. Würde das Amt des Stellvertretenden Ersten Ministers – erstmalig – von den Unionisten übernommen, wäre dies das bislang deutlichste Zeichen dafür, dass den beiden großen Traditionen und Parteien die gleiche Wertschätzung entgegengebracht wird. Es wäre auch ein klares Bekenntnis zum Karfreitagsabkommen von 1998, auf das sich nach wie vor die meisten Hoffnungen auf eine gemeinsame und friedliche Zukunft gründen. Zugleich aber erfordert dieser Schritt Vertrauen in Sinn Féin, in die Gesetzgebung und in die beiden Regierungen. Und dieses Vertrauen hat bereits gelitten.
Sollte die DUP die meisten Sitze holen und den Ersten Minister ernennen, wird sich der politische Fokus nach außen verschieben. Die DUP hat unmissverständlich klargestellt, dass sie sich nur dann wieder auf eine Machtteilung einlassen wird, wenn das Nordirland-Protokoll geändert wird. Die Zukunft der Nordirland-Versammlung – und vielleicht sogar die des Karfreitagsabkommens – wird also stark davon abhängen, wie Brüssel weiter vorgeht.
Die EU kann diese politischen Probleme nicht lösen. Aber es steht in ihrer Macht, sie zu verschlimmern oder zu verbessern.
Nordirland befindet sich als Drittland zwischen dem EU-Binnenmarkt und dem Vereinigten Königreich in einer heiklen Lage. Angesichts dessen sollte sich die EU bewusst machen, dass sie einen gewissen Spielraum zulassen muss, damit das Nordirland-Protokoll überhaupt funktionieren kann. Die Flexibilität, die die EU bisher an den Tag gelegt hat, ist begrüßenswert und auch notwendig.
Auch sollte einmal mehr der Versuch unternommen werden, die Grenzfrage zu entdramatisieren. Die meisten Menschen in Nordirland fühlen sich dadurch nicht annähernd so stark bedroht wie durch die Krise des Gesundheitswesens, der Lebenshaltungskosten oder der Energieversorgung. Aber selbst wenn sie eine Vereinbarung wie das Nordirland-Protokoll im Großen und Ganzen für notwendig halten, hat die Mehrheit große Bedenken hinsichtlich seiner Auswirkungen, insbesondere auf die politische Stabilität.
Die Instrumente, die eine handlungsfähige Regionalregierung zur Bewältigung dieser sich verschärfenden Krisen bräuchte, könnten durch die politischen Konflikte um Symbolik und Status blockiert werden. Die EU kann diese politischen Probleme nicht lösen. Aber es steht in ihrer Macht, sie zu verschlimmern oder zu verbessern.
Wenn die EU sich bei der Umsetzung des Nordirland-Protokolls flexibel zeigt, bedeutet dies kein Nachgeben gegenüber der britischen Regierung oder der von dieser unterstützten Kompromisslosigkeit der DUP. Es wäre vielmehr ein Akt der Großzügigkeit zur rechten Zeit, in diesem Frühjahr genügend Licht auf Nordirland scheinen zu lassen, um die guten Dinge gedeihen zu lassen.
Aus dem Englischen von Christine Hardung




