Für Außenstehende, die mit den Finessen der türkischen Außenpolitik nicht vertraut sind, sind deren jähe Richtungswechsel, die so manchen an die Wendungen des Bosporus erinnern, oft nur schwer nachzuvollziehen. Die Türkei verbindet eine strategische Partnerschaft mit den USA, die jedoch Sanktionen gegen die türkische Rüstungsindustrie verhängt haben. Sie ist Mitglied der NATO und kauft Flugabwehrsysteme in Russland. Die Türkei arbeitet in verschiedenen regionalen Formaten mit Moskau zusammen, liegt aber in einer ganzen Reihe von „kalten“ und „heißen“ Konflikten weltweit mit Russland über Kreuz. Und doch gelingt es Ankara mit seiner multivektoriellen und konsequent pragmatischen Außenpolitik erstaunlich gut, all diese Widersprüche unter einen Hut zu bringen.
Dass sich die Türkei in vielen Fragen der internationalen Politik dermaßen uneindeutig positioniert – man könnte von „konsequenter Inkonsequenz“ sprechen –, macht sich nicht nur in der diplomatischen Praxis bemerkbar. Zahlreiche Wortneuschöpfungen bereichern inzwischen das politische Lexikon: „konfliktuelle Kooperation“, „Einigkeit im Dissens“ oder „Kompartmentalisierung“, womit die Bereitschaft zum Dialog in bestimmten Bereichen gemeint ist, bei gleichzeitiger Ausblendung der unversöhnlichen Gegensätze in anderen Bereichen. Mit diesen und anderen Neologismen versuchen die Kommentatoren, die vertrackte Dynamik der russisch-türkischen Beziehungen auf den Punkt zu bringen, die offiziell als „strategische Partnerschaft“ definiert werden. Aktuell sieht es jedoch so aus, als ließen die Töne, die Russland im Dialog mit dem Westen anschlägt, sowie die Gefahr eines Einmarschs in die Ukraine Ankara fast keine geopolitischen Handlungsspielräume mehr im Schwarzmeerbecken.
Die Gefahr eines russischen Einmarschs in die Ukraine lässt Ankara fast keine geopolitischen Handlungsspielräume mehr im Schwarzmeerbecken.
Dass die Türkei auch in ernsten Krisensituationen versucht, eine Arbeitsbeziehung zu Russland aufrechtzuerhalten, ist voll und ganz nachvollziehbar. Eine Gemeinsamkeit zwischen Ankara und Moskau ist, dass es beide nicht gerne sehen, wenn die NATO unweit der russischen und türkischen Landesgrenzen ihre militärischen Kapazitäten hochfährt. Beide Staaten sind – in den Regionen, in denen sich ihre Interessen überschneiden – durch ein komplexes Geflecht politischer Übereinkünfte verbunden. Sie pflegen enge wirtschaftliche Beziehungen und betreiben gemeinsame Energieprojekte – von den Schwarzmeer-Pipelines „Blue Stream“ und „TurkStream“, die russisches Gas in die Türkei liefern, bis hin zum Kernkraftwerk Akkuyu, welches der Konzern „Rosatom“ an der Mittelmeerküste errichtet.
Jede Verschlechterung im Verhältnis zu Moskau würde bedeuten, dass für die produzierenden Unternehmen in der Türkei der wichtige russische Markt wegbräche und in den türkischen Ferienorten die gern gesehenen russischen Touristen ausblieben. Obendrein kann Russland, wenn nötig, zum Druckmittel der „Gaserpressung“ greifen: Die Türkei deckt 40 Prozent des eigenen Gasbedarfs mit Importen aus der Russischen Föderation. Russland könnte auch durch Herbeiführung einer neuen humanitären Katastrophe in Syrien dafür sorgen, dass die Flüchtlingszahlen an der türkischen Grenze wieder steigen. Die Pandemie hat die türkische Wirtschaft in die Krise gestürzt und die türkische Lira verlor zuletzt in Rekordtempo an Wert. Derartige Entwicklungen würden die ohnehin schwächelnde türkische Wirtschaft zweifellos in die Knie zwingen.
Russland kann als „Friedensstifter“ nicht beigelegte Konflikte „auftauen“, den kurdischen Faktor ausnutzen oder den nächsten lokalen Spannungsherd vor der türkischen Haustür schaffen.
Außerdem sei nicht zu vergessen, dass die russische „Hybrid-Diplomatie“ noch den ein oder anderen Extra-Trumpf im Ärmel hat. Russland verfügt traditionell über weitere Möglichkeiten, um den widerspenstigen „strategischen Partner“ unter Druck zu setzen. Russland kann als „Friedensstifter“ nicht beigelegte Konflikte „auftauen“, den kurdischen Faktor ausnutzen oder den nächsten lokalen Spannungsherd vor der türkischen Haustür schaffen. Die Liste der Regionalkonflikte, in denen Ankara und Moskau zwar nicht bei unmittelbaren Kriegshandlungen, zumindest aber am Verhandlungstisch Kontrahenten sind, ist lang: angefangen bei Syrien und Libyen bis hin zu den besetzten Gebieten in den GUAM-Staaten Georgien, Ukraine, Aserbaidschan und Moldau. Auch das macht den türkischen Diplomaten das Leben nicht gerade leichter.
Die russisch-türkischen Beziehungen sind sowohl durch eine schwierige Vergangenheit als auch durch die noch kompliziertere geopolitische Gegenwart belastet. Im Vergleich dazu erscheint die strategische Partnerschaft mit der Ukraine als mustergültige „natürliche Allianz“, die auf nahezu deckungsgleiche Interessen gründet und in der es keine essenziellen Gegensätze gibt. Die Eindämmung der russischen Militärpräsenz in der Region und die Aufrechterhaltung des freien Schiffsverkehrs auf dem Schwarzen Meer, die De-Okkupation der Krim und der Schutz der Rechte der Krimtataren, der Ausbau des wechselseitigen Handels- und Investitionsvolumens – dies sind nur einige Punkte auf der langen Liste der gemeinsamen Prioritäten. Durch eine verstärkte Zusammenarbeit in der Militärtechnik und Rüstungsindustrie avancierten die bilateralen Beziehungen schrittweise von „wirtschaftlich vorteilhaft“ hin zu „strategisch wichtig“.
Durch eine verstärkte Zusammenarbeit in der Militärtechnik und Rüstungsindustrie avancierten die bilateralen Beziehungen zwischen der Türkei und der Ukraine schrittweise von „wirtschaftlich vorteilhaft“ hin zu „strategisch wichtig“.
Auch die wirtschaftliche Bilanz kann sich sehen lassen: 2021 flossen türkische Investitionen in Höhe von 4,5 Milliarden US-Dollar in die ukrainische Wirtschaft. Das bilaterale Handelsvolumen lag bei 7,4 Milliarden US-Dollar. Damit ist die Türkei der größte ausländische Investor und zählt zu den fünf wichtigsten Handelspartnern der Ukraine. Sollten die russischen Streitkräfte im großen Stil in die Ukraine einmarschieren, kann Ankara sich diese Zahlen ebenso aus dem Kopf schlagen wie die Rekordzahl von zwei Millionen ukrainischen Türkeiurlaubern.
Mit ihrer pragmatischen, geschickt ausbalancierten Außenpolitik hat die Türkei es bislang geschafft, die Fallstricke der Schwarzmeerpolitik zu umgehen. Ankara pflegt zu beiden Partnern – die sich mittlerweile seit acht Jahren im Kriegszustand befinden – gute Beziehungen. Die Gefahr eines erneuten russischen Einmarsches in die Ukraine könnte Ankara jedoch vor eine schwere Entweder-oder-Entscheidung stellen. Soll sich die Türkei der Ausweitung der Sanktionen gegen Moskau anschließen? Wann und wie soll sie die Mechanismen aktivieren, die der Vertrag von Montreux vorsieht? Beteiligt sie sich an Marineoperationen der NATO auf See oder schaut sie als neutraler Beobachter der russischen Expansion auf dem Festland zu? Für keine dieser Bredouillen, in die eine weitere Eskalation die Türkei unweigerlich bringen würde, gibt es eine einfache Lösung.
Mit ihrer pragmatischen, geschickt ausbalancierten Außenpolitik hat die Türkei es bislang geschafft, die Fallstricke der Schwarzmeerpolitik zu umgehen.
Indem die Türkei die Ukraine unterstützt, eine weitere Eskalation von russischer Seite zu vermeiden, hilft sie sich zugleich selbst. Sie könnte sich damit eine schwierige Entscheidung ersparen, bei der sie nur verlieren kann. Sollten Ankaras Vermittlungsbemühungen und „Pendeldiplomatie“ erfolgreich sein, würde dies die Position der Türkei nicht nur in den unruhigen Wassern des Schwarzen Meeres, sondern auch auf der anderen Seite des Atlantiks stärken. Die türkische Regierung hat sich in der Ukrainefrage bislang sehr konstruktiv verhalten, unter anderem durch die Nichtanerkennung der Annexion der Krim und die konsequente Befürwortung einer NATO-Mitgliedschaft der Ukraine. Hinzu kommen Erdogans Versuche, als Vermittler zwischen Selenski und Putin aufzutreten, und sein Angebot, die Treffen der Trilateralen Kontaktgruppe künftig in Istanbul abzuhalten. Nach einhelliger Expertenmeinung hat dies durchaus das Potenzial, Ankaras Image in den Augen der internationalen Partner erheblich aufzupolieren.
Nachdem bei einem russischen Luftangriff auf Idlib und bei den Konfrontationen in Bergkarabach türkische Soldaten ums Leben kamen, macht sich in der Türkei niemand mehr Illusionen über die wahren Absichten ihres „strategischen Partners“ Russland. Die Besetzung und anschließende Militarisierung der Krim sowie die Stärkung der russischen Militärpräsenz im Nahen Osten, im östlichen Mittelmeerraum und im Südkaukasus wecken bei türkischen Expertinnen und Experten unweigerlich Erinnerungen an die Jahrhunderte der russisch-osmanischen Kriege, die mit dem Untergang des Krim-Khanats begannen und letztlich zum Niedergang des Osmanischen Reiches führten.
Russlands faktische Annexion von Belarus und der Einsatz von OVKS-Truppen in Kasachstan versehen Ankaras Ambitionen, eine regionale Führungsrolle im postsowjetischen Raum zu übernehmen, mit einem großen Fragezeichen. Eine erneute russische Invasion der Ukraine würde de facto dazu führen, dass sich das Schwarze Meer in einen „russischen See“ verwandelt mit direktem Zugang zu weiteren frostfreien Häfen – bekanntlich ein sehnlicher Wunsch Moskaus. Das muss Ankara um jeden Preis vermeiden. Auch wenn es für eine überzeugende „Pendeldiplomatie“ zwischen den Ufern des Schwarzen Meeres notfalls Unterstützung aus dem Himmel braucht – in Form von Drohnen.
Aus dem Russischen von Andreas Bredenfeld




