154 Tage seit der Wahl, fast ein halbes Jahr. Noch nie hat es so lange gedauert, bis Österreich eine neue Regierung gebildet hatte. Ein halbes Jahr voller Wendungen, teils dramatisch, teils vorhersehbar. Zeitweise schien es, als könnte das Land erstmals von einem Rechtsradikalen mit Orbán als Vorbild regiert werden. Doch am Ende setzte sich doch der ursprüngliche Plan durch: eine Dreierkoalition aus der konservativen ÖVP, der sozialdemokratischen SPÖ und den liberalen NEOS.
Österreich hat die Reise durchgemacht, damit andere daraus lernen. Drei zentrale Punkte stechen hervor: Erstens, keine Koalition ist ausgemacht, die moderaten Kräfte in den Parteien kommen nicht immer zum Zug. Zweitens, entscheidend sind mutige Kompromisse, nur wenn sich alle Partner im Programm wiederfinden, kann eine Koalition der Mitte erfolgreich sein. Und drittens, die Einigung ist erst der Anfang. Die Mitte bekommt womöglich ihre letzte Chance, wirklich zu liefern.
Für die Parteispitze der ÖVP war Herbert Kickl ein „Sicherheitsrisiko“ – ein Politiker, mit dem „kein Staat zu machen ist“. Damit gab es laut Beobachtern nur eine „logische“ Koalitionsvariante: Eine ÖVP-SPÖ-Regierung mit eventueller Beteiligung der liberalen NEOS, um die knappe Mehrheit von nur einer Stimme abzusichern. Doch die Realität war komplexer. Die ÖVP hatte erst 2017 bis 2019 mit der FPÖ regiert und koaliert derzeit in fünf Bundesländern mit ihr – in der Steiermark sogar unter FPÖ-Führung. Eine Zusammenarbeit mit der FPÖ war also keineswegs ausgeschlossen. Selbst den drohenden Glaubwürdigkeitsverlust nach der klaren Absage – „Sicher nicht mit Kickl“ – hätte die Partei im Ernstfall wohl in Kauf genommen. Zusätzlich verschärfte sich die Lage durch den anhaltenden Höhenflug der FPÖ in den Umfragen: Seit der Wahl legte sie weiter zu und erreichte teils über 35 Prozent Zustimmung. Ein Scheitern der „logischen“ Dreiervariante hätte die ÖVP damit vor ein weiteres Dilemma gestellt: Eine Flucht in Neuwahlen wäre angesichts der politischen Dynamik kaum eine gangbare Option gewesen.
Ein Scheitern der „logischen“ Dreiervariante hätte die ÖVP damit vor ein weiteres Dilemma gestellt.
Beim Versuch einer Koalition „auf Augenhöhe“ zweier Partner, die nur zwei Prozentpunkte bei der Wahl auseinanderlagen, zeigte sich: Wie immer in der Geschichte liegt das Schicksal des Erhalts der liberalen Institutionen in der Hand der konservativen Parteien. Und dort entscheidet sich der Weg in der Frage, ob sich der moderate Flügel durchsetzt. Dabei darf man nicht verkennen: Neben dem traditionellen rechten Flügel von konservativen Parteien, die ähnliche wertkonservative Vorstellungen vertreten, ist es vor allem der Wirtschaftsflügel, der den Unterschied ausmachen kann. Das Scheitern der ersten Verhandlungsrunde des Dreierbündnisses war vor allem auch auf das Weigern von mächtigen ÖVP-Wirtschaftsvertretern zurückzuführen, Kompromisse bei der Budgetsanierung gegenüber den Sozialdemokraten zuzulassen. Diese wollten einen guten Teil des riesigen Einsparungsbedarfs von 6,3 Milliarden Euro alleine im Jahr 2025 auch mit einnahmeseitigen Maßnahmen wie einer Abgabe von Banken und Energiekonzernen beheben. Nicht erst seit der Wahl war es kein Geheimnis, dass ein Teil dieses ÖVP-Flügels Bündnissen mit den Sozialdemokraten skeptisch gegenübersteht und eine Zusammenarbeit mit der inzwischen unternehmensfreundlicheren FPÖ präferieren würde.
Am Ende scheiterten die Verhandlungen zwischen FPÖ und ÖVP zwar trotzdem, und Österreich bekommt nun doch eine Dreierkoalition. Schließlich musste nicht zuletzt auch der rechte Flügel der ÖVP einsehen, dass die FPÖ nochmal deutlich radikaler geworden ist. Das Narrativ, es gebe keine realistischen Alternativkoalitionen, ist trotzdem trügerisch. Es hängt am Ende an den konservativen Kräften, sich gegen den vermeintlichen Vorteil einer unternehmensfreundlicheren Politik für ihre Klientel zu entscheiden – zum Preis des autoritären Umbaus von liberalen Institutionen im Bereich Medien, Justiz und Demokratie.
Eine erfolgreiche Koalition der Mitte zu schmieden, lebt von der Fähigkeit, mutige Kompromisse einzugehen. Im Falle Österreichs fungierte das Szenario einer Neuwahl mit einem fulminanten Wahlsieg der FPÖ als Schmiermittel. Man musste liefern, und das Ergebnis ist kein vager Kompromiss, sondern ein Regierungsprogramm mit klaren Akzenten für alle drei Partner. Die ÖVP setzte Verschärfungen der Migrations- und Integrationspolitik durch, inklusive des Stopps des Familiennachzugs und der Einführung von Rückkehrzentren für abgelehnte Asylwerber, sowie ein Aufweichen der ungeliebten Klimapolitik. Die SPÖ konnte die Einführung einer Kindergrundsicherung sowie einer Mietpreisbremse inklusive des vorläufigen Einfrierens aller gesetzlich geregelten Mieten 2025 verbuchen. Die NEOS bekamen die geforderte Reform im Pensionssystem (unter anderem bei der Altersteilzeit) sowie eine Stärkung der Bildungspolitik und die Einführung eines Bundesstaatsanwalts. Das könnte für die deutschen Koalitionsverhandlungen ein Vorbild sein, insbesondere bei zentralen Punkten wie der Schuldenbremse mutig zu sein, um ein Programm finanzieren zu können, in dem sich alle Partner wiederfinden.
Insbesondere bei der proeuropäischen Ausrichtung sowie der Solidarität mit der Ukraine steht die Regierung auf festen Füßen.
Man besann sich auf die vielen Gemeinsamkeiten, die diese doch unterschiedlichen Parteien am Ende teilen. Insbesondere bei der proeuropäischen Ausrichtung sowie der Solidarität mit der Ukraine steht die Regierung auf festen Füßen. Das Außenministerium unter der Führung der NEOS wird diese Positionen glaubwürdig vertreten. Auch die Lösung für das wichtige Justizministerium als Garanten für die weitere juristische Aufarbeitung der Korruptionsskandale der ÖVP-FPÖ-Regierung unter Sebastian Kurz (2017–2019) zeugt von Kompromissbereitschaft. Mit der SPÖ-Besetzung der Vizepräsidentschaft des Verwaltungsgerichtshofs und der Umsetzung eines weisungsfreien Bundesstaatsanwaltskollegiums kann man davon ausgehen, dass dies weiter ohne politische Interventionen vonstattengehen kann.
Österreich ist haarscharf an einer rechtsradikalen Kanzlerschaft vorbeigeschrammt. Am Ende ist dies Herbert Kickls Versuch zu verdanken, die ÖVP zur Mithilfe beim autoritären Staatsumbau zu zwingen, anstatt gewisse Positionen abzuschwächen. So forderte die FPÖ unter anderem die massive Verkleinerung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, eine Abschaffung von renommierten Institutionen gegen Rechtsextremismus, den Ausstieg aus dem gemeinsamen europäischen Luftverteidigungssystem Sky Shield und das Aussetzen des Asylrechts durch ein „Notgesetz“. Zudem lehnte es Kickl ab, sein Vetorecht als Regierungschef im Europäischen Rat nur im Einvernehmen mit der ÖVP zu nutzen.
Der Höhepunkt dieser Auseinandersetzung war das Tauziehen um das Innenministerium als eines der mächtigsten innenpolitischen Machtbasen der ÖVP. Das hatte einen strategischen Hintergrund: Politische Insider sprechen seit Jahren davon, dass viele in der ÖVP und ihr Nahestehende ihren Einfluss und ihre Karrieren den Verbindungen im Innenministerium verdanken. Schon als Innenminister (2017–2019) hatte Kickl das Ministerium genutzt, um nach Vorbild Orbáns den Staatsumbau voranzutreiben. Höhepunkt war eine nachträglich als rechtswidrig eingestufte Razzia beim eigenen Geheimdienst, der unter anderem Russland und die verfassungsfeindliche rechtsextreme Szene überwacht. Ziel war es, den Geheimdienst zu diskreditieren und mit eigenen Leuten neu aufzubauen. Westliche Partnerdienste stellten daraufhin den Informationsaustausch mit Österreich ein, da sie befürchteten, dass geheime Informationen nach Russland weitergeleitet würden. Tatsächlich stellte sich wenig später heraus, dass ein hoher Beamter russische Dissidenten an Moskau verraten hatte.
Die ÖVP erkannte schließlich, dass dieser Preis zu hoch war. Dieses Beispiel zeigt, dass rechtsradikale Parteien wie FPÖ oder AfD es ernst meinen mit dem autoritären Umbau. Sie weichen nicht von ihrem Kurs ab, sie glauben an ihren Erfolg. Eine pragmatische Abschwächung der radikalsten Forderungen wird als Fehler ausgelegt. Nach diesem Muster erklärte Alice Weidel nach der Wahl, die AfD müsse sich nicht moderater geben – das Wahlergebnis zeige, dass sie auf dem richtigen Weg sei. Diese Parteien setzen darauf, dass die Mitte versagt und Reformen nicht konsequent genug umsetzt.
Die neue Regierung hat nun eine letzte Chance, zu liefern. Man ist angetreten, um Kickl zu verhindern und muss es nun besser machen. Der Kompromiss reicht nicht – er muss durchgezogen werden. Die Herausforderungen werden groß, interne und externe Krisen werden Druck auf die Regierung ausüben. „Jetzt geht es ums Machen“, sagte der Bundespräsident bei der Vereidigung. Nur so kann die pessimistische Stimmung im Land gedreht werden. Sonst ist eine FPÖ-Kanzlerschaft nur aufgeschoben, nicht aufgehoben.




