Mit der Enttäuschung über die Gegenoffensive von 2023 und dem Beginn des brutalen Abnutzungskrieges hat sich die Stimmung im pro-ukrainischen Informationsraum verfinstert. Dass der Westen sich mit seiner Unterstützung Israels in dessen Krieg im Gazastreifen so drastisch isoliert, stellt auch das Ansehen der Ukraine in der Weltöffentlichkeit in Frage. Während die wichtigsten Verbündeten des Landes einer maßlosen Heuchelei bezichtigt werden und sich die globale Aufmerksamkeit auf die Krise im Nahen Osten verlagert, wittern diejenigen, die gegen eine Unterstützung des ukrainischen Selbstverteidigungskrieges stehen, nun die Chance, die militärische und finanzielle Hilfe ganz einzustellen oder zumindest aufzuschieben.

Vor diesem Hintergrund hat die Ukraine begonnen, ihre Strategie für die „Heimatfront“ zu überdenken, beispielsweise im Hinblick darauf, wie die heimische Wirtschaft organisiert werden könnte, um die für den Krieg zur Verfügung stehenden Ressourcen zu maximieren. Einige dieser Veränderungen sind so drastisch, dass sie einer stillen Revolution der bisherigen Doktrin gleichkommen. Ausgerechnet eine Regierung, deren Präsident sich als „wirtschaftsliberal“ bezeichnet, greift nun in einem Ausmaß in die Wirtschaft ein wie nie zuvor seit der Unabhängigkeit.

Auf der Konferenz über den Wiederaufbau der Ukraine (Ukraine Recovery Conference) im Juni 2023 in London gab es bereits die ersten Hinweise auf ein Umdenken, die jedoch einerseits zaghaft und in sich unschlüssig wirkten und denen es andererseits vor allem an Unterstützung durch die gesamte Regierung mangelte. In der Tat warteten die Mitglieder der ukrainischen Delegation oft mit ziemlich widersprüchlichen Vorschlägen auf. Einige davon waren von typischen neoliberalen Denkweisen durchdrungen – wie etwa die Versprechungen an Investoren, den Arbeitsmarkt weiter zu deregulieren, selbst wenn das gegen die für eine EU-Mitgliedschaft erforderlichen Mindeststandards verstieß. Zudem sollten niedrige steuerliche Rahmenbedingungen für Großinvestitionen in die Infrastruktur und den Energiesektor das dadurch gesicherte Wachstum finanzieren.

Es waren jedoch auch besonnenere Reden zu hören, in denen betont wurde, wie lang der Weg zum Wiederaufbau sei und dass es oberste Priorität habe, die Wirtschaft den Erfordernissen des Krieges anzupassen. Allen voran widersprach der ukrainische Finanzminister Sergii Marchenko einigen anderen Regierungsmitgliedern, als er sich für eine Entwicklungsstrategie aussprach, bei der den ukrainischen Wirtschaftsbedürfnissen während der Kriegszeit ausdrücklich Vorrang eingeräumt wird. Er erklärte: „Bisher waren wir für jede Art von Geld offen. Jetzt sind wir das nicht. Wer in der Ukraine investieren will, muss die Prioritäten der Ukraine akzeptieren.“

Die Vorstellung, dass Märkte in Kriegszeiten funktionieren könnten, wurde weitgehend aufgegeben.

Die jetzige ukrainische Politik deutet darauf hin, dass diese „Besonnenen“ die Oberhand in Kiew gewonnen haben. Völlig vom Tisch sind offenbar die Vorschläge von Rostyslaw Schurma, dem stellvertretenden Leiter des ukrainischen Präsidialamts, die Körperschafts-, Einkommens- und Mehrwertsteuer für die Dauer des Krieges auf den Pauschalsatz von zehn Prozent zu senken. Stattdessen ist laut der ukrainischen Steuerstrategie (National Revenue Strategy for 2024–2030) vorgesehen, die Eintreibung der Steuern zu verbessern und die vielen in den letzten Jahren eingeführten Steuerschlupflöcher wieder zu schließen. Das beinhaltet nicht nur die Rückkehr zu einer progressiven Einkommenssteuer, die Abschaffung des weit verbreiteten Systems der Scheinselbständigkeit – das es möglich machte, dass eigentlich angestellte Beschäftigte teils die absoluten Niedrigsteuersätze von lediglich zwei Prozent zahlen –, sondern auch die Einführung einer Übergewinnsteuer und von Maßnahmen, mit denen die Einhaltung der Richtlinien für die neue globale Mindestbesteuerung für Konzerne gesichert wird.

In diesen Schritten spiegeln sich die institutionellen Reformen wider, die schon in der Vergangenheit von kriegführenden Staaten eingeführt worden waren, um die Steuererhebung zu zentralisieren und zu optimieren (beispielsweise führte Großbritannien 1944 das Pay As You Earn-Prinzip ein, bei dem die Steuer gleich vom Lohn abgezogen wird). In der Steuerstrategie kommt aber auch Kritik an den „Liberalisierungsauswüchsen“ in der Entwicklung der Ukraine seit der Revolution der Würde zum Ausdruck. Beispielsweise wird beschrieben, dass das „vereinfachte Steuersystem“ mit den extrem niedrigen Steuersätzen für „Unternehmer“ (wobei diese Kategorie so vage definiert ist, dass im Grunde jeder Steuerzahlende der Ukraine dazuzählen könnte) mehrere Nachteile mit sich gebracht habe: Die Wohlhabenden entrichteten zu wenig Steuern, der Schmuggel mit gefälschten Waren sei erleichtert worden, da es keinerlei Anforderungen an eine ordnungsgemäße Buchführung gebe, und in einigen Branchen sei das Nichtvorhandensein formaler Beschäftigungsverhältnisse zur Normalität geworden.

Diese Steuerreform geht mit einer umfassenden Hinwendung zu einem wirtschaftlichen „Interventionismus“ einher. Die Vorstellung, dass Märkte in Kriegszeiten funktionieren könnten, wurde weitgehend aufgegeben. Während eine industriepolitische Strategie und eine Vorzugsbehandlung einheimischer Produzenten früher tabu waren, werden sie jetzt als entscheidend für die ukrainische Widerstandsfähigkeit im Krieg erachtet.  Die Mitglieder der ukrainischen Regierung haben immer wieder ihre Unterstützung zugesichert, zuvor ausgelagerte Prozesse für den Wiederaufbau in die einheimische Wirtschaft zurückzuholen. Sollte diese Politik von der EU oder der Welthandelsorganisation (WTO) rechtlich angefochten werden, könnte Kiew gezwungen sein, eine sogenannte National Security Exception von seinen internationalen Verpflichtungen geltend zu machen.

Auch bei denen, die in der Regierung oder der Zivilgesellschaft eine Vorreiterrolle spielen, hat sich die Stimmung verändert. So machen auch diejenigen, die in der Vergangenheit die Marktliberalisierung als den richtigen Weg für die Korruptionsbekämpfung und eine transparente Regierung ansahen, jetzt eine radikale Kehrtwende in ihren Vorschlägen, wobei sie auf die Erfahrungen aus dem Zweiten Weltkrieg zurückgreifen. So verweist die angesehene Antikorruptionsaktivistin Daria Kaleniuk auf den New Deal der US-Demokraten und die Arbeit von Harry Hopkins, einem engen Vertrauten von Präsident Roosevelt während des Krieges, der sich für das Führen eines Siegesbuchs (Victory Book) ausgesprochen hatte, in dem der militärische Bedarf erfasst und den Ressourcen und dem Produktivvermögen der Wirtschaft gegenübergestellt wurde.

Der drastische Anstieg bei den Militärausgaben wird zwangsläufig zu einer Umgestaltung des ukrainischen Wirtschaftsmodells führen.

Von allen Veränderungen, die in Kiew auf den Weg gebracht wurden, ist der ganzheitliche Ansatz, der vom ukrainischen Kabinett für die langfristige Entwicklung der Ukraine verfolgt wird, vielleicht der vielversprechendste. Beispielsweise befürwortete Tetyana Berezhna, die stellvertretende Wirtschaftsministerin der Ukraine einen Bericht der Internationalen Arbeitsorganisation vom Dezember 2023, in dem es hieß, dass die Ukraine ihr angestrebtes Ziel eines BIP-Wachstums von sieben Prozent kaum erreichen könne, wenn sie nicht gegen das geschlechtsspezifische Lohngefälle und die Hindernisse für die Teilhabe von Frauen am Arbeitsmarkt vorgehe. In diesem Sinne wird das Bestreben der Ukraine, nach dem Krieg die Produktionskapazität zu verbessern, nur dann von Erfolg gekrönt sein, wenn es ihr gelingt, die Einkommen und das soziale Wohlergehen der breiten Bevölkerung zu steigern.

Die einfache Erklärung für die stille Abkehr der Ukraine vom Neoliberalismus sind der unaufhaltsame Anstieg der Militärausgaben und die Auswirkungen der kriegsbedingten Risiken für das Marktgeschehen. Zusammen hat das zu einer vom Staat regulierten Wirtschaft geführt. Nach vorläufigen Schätzungen des ukrainischen Zentrums für Wirtschaftsstrategie (Centre for Economic Strategy) betrugen die Militärausgaben 2023 etwa 30 Prozent des BIP. Somit waren die Verteidigungsausgaben der Ukraine 2023 höher als die gesamten Staatsausgaben 2021.

Dieser drastische Anstieg bei den Militärausgaben wird zwangsläufig zu einer Umgestaltung des ukrainischen Wirtschaftsmodells führen, da es sich dabei um einen militärisch-industriellen Komplex handelt, bei dem ein effektiver staatlicher Eingriff nur über eine strategische Planung von Preisen, Organisationsstrukturen und Investitionen möglich ist. Interessant ist jedoch, dass dieses System nicht allein vom Staat getragen wird. Die Widerstandskräfte in der Ukraine machen sich auf effiziente Weise kostengünstige, leicht replizierbare Digitaltechnologien und dezentralisierte Produktionsnetzwerke zunutze. Beispielsweise greift die digitale Fundraising-Plattform Come back Alive, die über eine Einfuhrgenehmigung für militärische Güter sowie für Güter mit doppeltem Verwendungszweck verfügt, als Investor aktiv in den Produktionsprozess ein. Diese Mischung aus staatlichen, privaten und gemeinnützigen Instanzen scheint ein Ökosystem zu schaffen, das im technologischen Wettrennen um Überlegenheit an der Front für Innovation und Anpassungsfähigkeit sorgt.

Trotz dieses beeindruckenden Fortschritts ist die Ukraine immer noch in hohem Maße auf Finanzhilfen aus dem Ausland angewiesen. Aber selbst wenn alle Verbündeten die zugesagten Finanzhilfen leisten, werden die ukrainischen Militärausgaben 2024 weit unter denen Russlands liegen. Die Regierung wird mit all ihren Außenbeziehungen sorgfältig umgehen und doch seine Interessen notfalls entschieden verfolgen müssen, auch wenn es dabei zu Spannungen mit den globalen Institutionen kommt. Der Internationale Währungsfonds (IWF) spielte beispielsweise eine wichtige Rolle dabei, die Ukraine von ihrer liberalen Steuerpolitik abzubringen, scheint jedoch einer Vorzugsbehandlung einheimischer Hersteller ablehnend gegenüberzustehen. Auch der Beitrittsprozess zur Europäischen Union ist nicht gut auf die Bedürfnisse der Ukraine zugeschnitten, denn der Integrationsprozess in den EU-Binnenmarkt unterwirft ein Land, das sich im Krieg befindet, den gleichen „Wettbewerbsbedingungen“ wie alle anderen – die aus ukrainischer Perspektive aber alles andere als gleich sind.

Für Kiew wird es nicht leicht sein, in diesem komplexen strategischen Umfeld den richtigen Kurs zu finden. Aber trotz der entsetzlichen Gräuel des russischen Krieges und der zahlreichen, sich überall in der Welt ausbreitenden Krisen hat die Ukraine eine Trendwende vollzogen. Aus diesem Kampf zwischen David und Goliath könnte David als unerwarteter Sieger hervorgehen.

Aus dem Englischen von Ina Goertz.