Es ist immer wieder das gleiche Spiel. Wenn arme Kinder verhungern oder durch Krankheiten sterben und inakzeptable soziale Zustände, die man in reichen Staaten höchstens noch aus Erzählungen kennt, weiterhin die Leben von Millionen Menschen in ärmeren Ländern zur Hölle machen oder komplett zerstören, dann besinnen sich reiche und arme Nationen gemeinsam auf eine Tradition. So trat man 2015 zu einem Zeitpunkt, „in dem die nachhaltige Entwicklung vor immense Herausforderungen gestellt ist“, in der UN-Generalversammlung zusammen. Man wollte mit „unbeirrbarer Entschlossenheit“ handeln und stellte die Agenda 2030 für Nachhaltige Entwicklung auf – komplett mit weltweit geltenden Zielen, die die historischen sozialen Ungleichheiten und die extreme Armut ein für alle Mal ausmerzen sollten. Es ist eine Tradition, die es den wohlhabenderen Ländern ermöglicht, ihr Gewissen zu beruhigen, während sie gleichzeitig unermüdlich versuchen, geopolitische und neoliberale Ordnungen zu legitimieren, die selbst dazu beitragen, unermessliches Leid in den ärmeren Ländern zu verursachen.
Die Nachhaltigkeitsziele oder Sustainable Development Goals (SDGs), auf die man sich damals einigte, sind das jüngste Produkt dieser Tradition. Unabhängig davon, ob man nun in einem armen oder reichen Land lebt, sollte die Umsetzung dieser 17 globalen Ziele gesellschaftliche Missstände, wie den in ärmeren Ländern häufigen Tod durch Hunger, beseitigen. Ein grundlegendes Ziel der SDGs ist es, unsere historisch nicht nachhaltige Welt in eine nachhaltige zu verwandeln. Man will Gerechtigkeit auf einem Planeten schaffen, der von tiefgreifenden Ungleichheiten geprägt ist. Da nun noch wenig mehr als sechs Jahre verbleiben, um diesen gewaltigen Wandel zu vollziehen, ist jetzt der Zeitpunkt für die Staats- und Regierungschefs, über die Nützlichkeit und Effizienz der Festlegung globaler Ziele zu reflektieren und darüber nachzudenken, wie dieser Ansatz den sozialen, politischen und wirtschaftlichen Fortschritt verzögert.
Es ist eine Tradition, die es den wohlhabenderen Ländern ermöglicht, ihr Gewissen zu beruhigen.
Solche Überlegungen wären heute nicht notwendig, wenn der damalige US-Präsident Barack Obama nach seiner Rückkehr von der UN-Generalversammlung im September 2015 per Dekret ein Ministerium geschaffen hätte, das sowohl die Menschen in seinem Land als auch die in der sich entwickelnden Welt unterstützt hätte, die SDGs umzusetzen. Dieses hypothetische Ministerium für nachhaltige Entwicklungsziele hätte 17 Unterabteilungen mit jeweils einem Staatssekretär gehabt. Alle 17 Sekretäre müssten kohärent zusammenarbeiten, um die Ungleichheit innerhalb der Länder und zwischen ihnen zu verringern, Armut und Hunger zu beenden, den weltweiten Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen wie Bildung, Gesundheitsfürsorge, Wasserversorgung und Abwasserentsorgung sowie Wohnraum zu gewährleisten, den Sozialschutz zu sichern, die Umwelt zu schützen und friedliche und integrative Gesellschaften weltweit zu fördern – also die SDG-Ziele zu erreichen. In der Realität hatten Regierungen, wie die US-amerikanische, aber keine solche Ein- oder Weitsicht und ein derartiges Ministerium gibt es nicht.
Ein Grund für dieses Scheitern ist, dass die Umsetzung globaler Ziele mit einem solch weitreichenden, ganzheitlichen Ansatz zahlreiche Widersprüche und Inkohärenzen zutage fördern würde, die kein Land angehen möchte – auch nicht zum Wohle der Menschheit. Die SDGs haben den Ruf, ambitioniert zu sein, was erst einmal gut klingt. Doch die Realität ist, dass die hohen Ziele unrealistisch und unzweckmäßig sind. So bleibt die Verwirklichung der 17 SDGs mit ihren 169 Zielen und 231 Indikatoren bis heute ein Traum.
Doch die Realität ist, dass die hohen Ziele unrealistisch und unzweckmäßig sind.
Von den 25 Ländern, die in jüngster Zeit die Armut halbiert haben, liegt kein einziges in Afrika. Gleichzeitig gelten „1,1 Milliarden Menschen weiterhin als arm“. Der Zusammenhang zwischen Wirtschaftswachstum und Armutsrückgang dürfte auch den konservativsten Wirtschaftswissenschaftlern und Politikern nicht entgangen sein. Doch während Kambodscha, China, Kongo, Honduras, Indien, Indonesien, Marokko, Serbien und Vietnam die Armut halbiert haben, bleibt sie in den meisten Ländern südlich der Sahara bestehen. Der Zugang solcher Länder zu Geldern, um ihr Wirtschaftswachstum anzukurbeln, basiert auf politischen, wirtschaftlichen und regulatorischen Risiken, die Kreditgeber wie die Weltbank verwenden, um die Rückzahlungsfähigkeit der Staaten zu beurteilen. Die Verpflichtung der wirtschaftlich ärmeren Länder zur Umsetzung der SDGs ist erstaunlicherweise nicht Teil der Bedingungen, nach denen die Bank Garantien oder Kredite vergibt. Eine solche Inkohärenz zwischen dem Ansatz der Weltbank – immerhin einer führenden globalen Institution im Bereich Entwicklung – und der globalen Verpflichtung zu einer nachhaltigen Entwicklung hemmt den Fortschritt bei den SDGs.
Ebenso gibt es den krassen Widerspruch, dass sich die Staaten der Welt in den SDGs zwar für den „Zugang zu bezahlbarer, verlässlicher, nachhaltiger und moderner Energie für alle“ einsetzen wollen, ein sehr großer Teil aber weiterhin keinen Zugang zu entsprechenden Technologien hat. Gleichzeitig werden die wirtschaftlichen Interessen derjenigen, die solche Technologien besitzen, durch Handelsregeln geschützt, die von der Welthandelsorganisation (WTO) durchgesetzt werden. Die wichtigste Handelsorganisation der Welt überwacht streng die geistigen Eigentumsrechte an Technologien für erneuerbare Energien.
Diese Technologien sind weitgehend in den Händen der reichsten WTO-Mitglieder, die ihrerseits nicht müde werden, ihre Verantwortung und ihr Engagement für die SDGs zu betonen. Keiner der WTO-Berichte über die eigenen „Beiträge zum Erreichen der SDGs“ erwähnt das Ziel 7 – die Bereitstellung „moderner Energie für alle“. Unterdessen gibt es in afrikanischen Ländern zwar mehr Sonneneinstrahlung, als benötigt würde, um genug Elektrizität für einen Entwicklungsschub zu produzieren. Diese bleibt aber ungenutzt. Es fehlt ganz einfach an Solarpanels und Technologien zur Stromspeicherung, damit dieses Potenzial angezapft werden kann.
Des Weiteren ist die bemerkenswert kurze Zeitspanne von 15 Jahren, um die Wende von einer nicht nachhaltigen Entwicklung hin zur Nachhaltigkeit zu schaffen, schlichtweg unrealistisch. Erstens dauerte die industrielle Revolution – also die Periode, welche die nicht nachhaltige Entwicklung besonders prägte – nach vorsichtigen Schätzungen rund 60 Jahre. Das ausgegebene Ziel, unsere Welt in nur 15 Jahren komplett umzukrempeln, ist daher müßig. Zweitens deuten die Misserfolge bei den SDGs seit 2015 darauf hin, dass es selbst bei Verwirklichung der Ziele in den nächsten rund sechs Jahren unwahrscheinlich ist, dass die Staaten auf dem nachhaltigen Pfad bleiben.
Eine zeitlich begrenzte Zielsetzung scheint untauglich.
Eine zeitlich begrenzte Zielsetzung scheint untauglich, da es gut möglich ist, dass einzelne Länder nach 2030 zur bisherigen Praxis zurückkehren und den Fortschritt wieder umkehren. Einige der acht Millennium-Entwicklungsziele (Millenium Development Goals, MDGs), den Vorgängern der SDGs, sind selbst heute noch nicht einmal ansatzweise erreicht. So war das erste MDG-Ziel die „Beseitigung der extremen Armut und des Hungers“ bis zum Jahr 2015. Fünfzehn Jahre später soll mit einem der SDG-Ziele genau das gleiche erreicht werden. Derweil leben weiterhin hunderte Millionen Menschen in extremer Armut. Das Setzen von strikten Zielvorgaben schafft offenbar eine Mentalität, die für langfristige und dauerhafte Veränderungen (die in allen Gesellschaften notwendig sind) grundsätzlich ungeeignet ist.
Acht Jahre nach Beginn der Umsetzung der SDGs ist „mehr als die Hälfte der Welt“ im Rückstand und „die Fortschritte bei mehr als 50 Prozent der SDG-Ziele sind schwach und unzureichend“, räumen die Vereinten Nationen in ihrem jüngsten Bericht ein. In einigen Fällen sei der Fortschritt „zum Stillstand gekommen oder hat sich umgekehrt“. Solche ernüchternden Einschätzungen sollten nicht überraschen, denn Widersprüche, Inkohärenz, ungeeignete und unrealistische Themen, die mit der Festlegung globaler Ziele verbunden sind, hätten schon länger bekannt sein müssen. Dass „die Entwicklungsländer die Hauptlast unseres kollektiven Versagens, in die SDGs zu investieren, tragen“, ist eine weitere Bestätigung.
Viele dieser Länder, so UN-Generalsekretär António Guterres im Vorwort zum Bericht, „sehen sich einer riesigen Finanzierungslücke gegenüber und sind unter einem Schuldenberg begraben“. Es ist doch wirklich erstaunlich, dass der Übergang zur Nachhaltigkeit – also zu nichts Geringerem als der Erhaltung des menschlichen Lebens – durch Geld aufgehalten wird. Damit globale Nachhaltigkeit nicht nur ein Wunschtraum bleibt, bedarf es einer besseren Koordinierung internationaler Institutionen. Geld in die Wirtschaftssysteme zu pumpen, ist dabei zumindest ein Teil der Lösung.
Geld in die Wirtschaftssysteme zu pumpen, ist dabei zumindest ein Teil der Lösung.
Es sollte offensichtlich sein, dass wir dringend neue globale wirtschaftliche und politische Strukturen brauchen, die alle kohärent aufeinander abgestimmt sind und sich auf die Förderung wirtschaftlicher und sozialer Entwicklungsmaßnahmen konzentrieren, die von Ideen der Nachhaltigkeit geprägt sind – und nicht von neoliberalen Idealvorstellungen. Entwicklungsbanken dürfen zum Beispiel die Rückzahlungsfähigkeit eines Landes nicht über seine soziale und wirtschaftliche Entwicklung stellen. Die Vereinten Nationen müssen solche Diskussionen in der Generalversammlung anstoßen.
Anstelle von Zielen für eine nachhaltige Entwicklung könnte ein Wechsel zu einer fortlaufenden Agenda für soziale Entwicklung gut dazu beitragen, die Öffentlichkeit über das Ausmaß und die Tragweite der gravierenden und dauerhaft notwendigen gesellschaftlichen Veränderungen aufzuklären. Es gibt kein vernünftiges Argument gegen die Forderung, das unnötige Sterben von Kindern durch Hunger zu beenden, Impfungen gegen Masern anzubieten, die nachweislich das Leben von mehr als einer halben Million von Kindern retten können, und die Zahl von etwa 617 Millionen Kindern ohne Mindestkenntnisse in Lesen und Mathematik zu verringern.
Dieses historische und weiterhin bestehende Versagen ist unvereinbar mit dem eigenen Verweis auf die angeblich überlegene menschliche Intelligenz. Diese Verfehlungen stehen sinnbildlich für die Fehler zivilisierter Wesen, die in zivilisierten Gesellschaften leben.
Aus dem Englischen von Tim Steins




