Im Gegensatz zu Deutschland und vielen anderen Ländern der Welt gibt es in Mexiko keinen Personalausweis. Diverse Regierungen unternahmen entsprechende Anläufe, aber sie scheiterten am Widerstand einer Bevölkerung, die den Regierenden keinen verantwortungsvollen Umgang mit den Daten zutraut. Als Ersatz fungiert deshalb der vom unabhängigen Wahlinstitut INE erstellte und mit Lichtbild versehene Wählerausweis, der in der Umgangssprache genauso heißt wie das Institut. Ein „INE“ braucht man, um ein Bankkonto zu eröffnen oder einen Handyvertrag abzuschließen. Auch Behörden und Notare akzeptieren das Dokument als Identitätsnachweis.
1990 gegründet symbolisiert das unabhängige Wahlinstitut – damals hieß es noch IFE – den hart errungenen Sieg der Bevölkerung über ihre politische Elite, repräsentiert in der Staatspartei der Institutionellen Revolution (PRI), die seit 1929 ununterbrochen an der Macht war. Die PRI hatte ihre Gewerkschaften und ihre Unternehmer, und sogar eine maßgeschneiderte Opposition, die Pluralismus simulierte, ohne gefährlich zu sein. Von einer „perfekten Diktatur“ sprach deshalb Literaturnobelpreisträger Mario Vargas Llosa. In den 1980er Jahren bröckelte diese politische Dominanz allerdings immer mehr, parallel zum wachsenden Pluralismus und zur Differenzierung der Gesellschaft. 1988 konnte die PRI den Wahlsieg nur noch dank eines Stromausfalls während der Auszählung erringen. Lag vor dem Stromausfall noch der Oppositionskandidat vorne, war es anschließend plötzlich der PRI-Kandidat.
So errang die PRI noch einmal den Sieg, war jedoch diskreditiert, geschwächt und musste letztlich der Gründung eines unabhängigen Wahlinstituts zustimmen. Eine Rolle spielten neben dem Druck der Zivilgesellschaft auch die Verhandlungen mit den USA um einen Freihandelsvertrag sowie die Beitrittsverhandlungen zur Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Kooperation (OECD). Beide Prozesse erforderten eine Modernisierung der staatlichen Institutionen. Das Wahlinstitut war Teil davon, und seine Arbeit hatte maßgeblichen Anteil daran, dass im Jahr 2000 erstmals ein Oppositionskandidat die Präsidentschaft gewann.
Das Wahlinstitut INE durchlief mehrere Krisen und eine Reform im Jahr 2014, gilt aber heute als eine der angesehensten Institutionen des Landes. Es hat in den vergangenen neun Jahren 330 Wahlen organisiert – auch die letzte Präsidentschaftswahl im Jahr 2018, aus der Andrés Manuel López Obrador von der linksnationalistischen Sammelpartei Morena als unbestrittener Sieger hervorging. Kritik am INE gab es immer wieder, beispielsweise wegen der Schwierigkeiten, effizient die Geldwäsche in den Kampagnen zu bekämpfen oder die Gewalt gegen Kandidaten zu unterbinden.
Drei Anläufe hat Obrador bereits unternommen, um die Kompetenzen des unabhängigen Wahlinstituts zu beschneiden.
Die andauernde Kritik von López Obrador am INE hat allerdings nichts mit diesen Gründen zu tun. Seine Rhetorik dreht sich vor allem um persönliche Vorwürfe an die Führungsriege. Ihre Vertreter seien elitär, korrupt und geldgierig. Drei Anläufe hat er bereits unternommen, um die Kompetenzen des Instituts zu beschneiden. Der sogenannte Plan A bestand in einer Verfassungsänderung, die unter anderem elektronische Urnen eingeführt und Plebiszite vereinfacht sowie das Institut verkleinert und seine Mitglieder einer allgemeinen Wahl unterworfen hätte. Der im April 2022 eingereichte Vorschlag scheiterte jedoch am geschlossenen Widerstand der Opposition, trotz diverser Versuche der Regierungspartei Morena, einzelne Oppositionspolitiker zu kooptieren oder zu erpressen, um die nötige Zwei-Drittel-Mehrheit zu erlangen.
Plan B, vorgelegt im November, kam als Verwaltungsreform daher, hätte aber den Haushalt des Instituts derart beschnitten, dass die ordnungsgemäße Organisation von Wahlen mangels Personal nicht mehr garantiert gewesen wäre. Diese einfache Verwaltungsreform kam zwar dank der absoluten Mehrheit der Regierungspartei durch den Kongress, wurde jedoch umgehend von der Opposition als verfassungswidrig angefochten und von einem Richter durch eine einstweilige Verfügung außer Kraft gesetzt. Zwar muss nun die inhaltliche Prüfung noch durch die gerichtlichen Instanzen, doch vorerst – das heißt bei den allgemeinen Wahlen im Jahr 2024 – wird die Reform nicht umgesetzt.
Parallel trieb die Regierung Plan C voran, der darin bestand, ihre Anhänger auf die vier turnusgemäß neu zu besetzenden Posten zu hieven. Die Nominierung wird normalerweise im Kongress vorgenommen, aus einer Liste von Bewerberinnen und Bewerbern, die vorher von einem Komitee auf Kompetenz geprüft wurden. Diesmal jedoch konnten sich die Parlamentarier nicht einigen, so dass die Posten unter den 20 Listenplätzen verlost wurden. Weil das Oberste Gericht kurz zuvor bestimmt hatte, aus Paritätsgründen müsse diesmal eine Frau an der Spitze des INE stehen und weil Morena vorausschauend deutlich mehr Frauen nominiert hatte als die Opposition, fiel der Vorsitz an Guadalupe Taddei. Sie gehört zu einer Familie, die eng mit Morena verbunden ist. Morena sicherte sich auch noch einen zweiten Posten.
Die Vorstöße des Präsidenten gegen das INE verursachten massive Bürgerproteste, die einer sonst eher zerstrittenen und ideenlos daherkommenden Opposition Leben einhauchten. Die Popularität des Präsidenten sank im Zuge des Machtkampfes zeitweise laut einer Umfrage des Instituts Saba Consultores von 64 auf 55 Prozent. Aus den USA meldeten sich besorgte Stimmen aus Kongress und Denkfabriken, Leitmedien wie die New York Times sahen die Demokratie durch den Übergriff auf das INE gefährdet.
Die US-Regierung drohte mit Strafzöllen und Schlichtungspanels im Rahmen des Freihandelsabkommens. Der bilaterale Streit um Genmais und den von López Obrador gestoppten Ausbau erneuerbarer Energien schwelt schon länger, aber dass er nun eskaliert, dürfte kein Zufall sein. Mexikos Wirtschaft könnte dadurch Schaden nehmen – und damit die Chancen der Regierungspartei bei der Wahl 2024 schwächen. López Obrador ist zwar weiterhin sehr populär, aber er selbst darf aufgrund des Wiederwahlverbots in der Verfassung nicht erneut antreten. Er hat deshalb drei vermeintliche Nachfolger nominiert, doch inwieweit er diesen seine Popularität übertragen kann – insbesondere in wirtschaftlich schwierigen Zeiten –, ist unklar.
López Obrador erkannte seine Wahlniederlage 2006 nie an.
Warum sucht er also zu diesem heiklen Zeitpunkt den Machtkampf mit dem INE und nimmt dabei in Kauf, den wichtigsten Handelspartner zu verärgern? Drei Gründe spielen dabei eine Rolle. Der eine ist ein persönlicher: López Obradors politische Karriere ist seit Jahrzehnten ein Kampf gegen das Establishment. Er begann als Provinzpolitiker in der PRI, die zwar seine volksnahe Ader schätzte, ihn bei wichtigen Personalentscheidungen aber immer wieder marginalisierte. 1989 gehörte er deshalb zur Gruppe, die sich abspaltete und die sozialdemokratische PRD gründete. Er machte in der sozialdemokratischen Partei Karriere und ist überzeugt, dass er bereits im Jahr 2006 die Wahlen gewonnen hat. Laut der offiziellen Zählung und Nachzählung war er damals mit einer Differenz von 0,58 Prozent oder 250 000 Stimmen unterlegen. López Obrador erkannte seine Niederlage nie an und machte das INE als Handlanger der Wirtschaftselite dafür verantwortlich.
Der zweite ist ein taktischer. Bereits bei den letzten Parlamentswahlen im Juni 2021 gab es Hinweise auf einen Wahlpakt zwischen dem Sinaloa-Kartell und Morena im Gegenzug für Straffreiheit und die Bemühungen um die Heimführung des in den USA inhaftierten Kartellbosses Joaquín El Chapo Guzmán. Die Vorwürfe, dass die Parteienfinanzierung vom Organisierten Verbrechen infiltriert ist, kommen auch aus den eigenen Reihen, etwa von Ex-Parteichef Porfirio Múñoz Ledo. Deshalb drängt die Opposition das INE zu schärferen Kontrollen. 2021 reichten die Beweise noch nicht aus, um vor den Wahlbehörden und -gerichten die Urnengänge anzufechten. Doch mittlerweile wächst auch in den USA die Sorge, Mexiko könnte sich in einen Narco-Staat verwandeln. Einige republikanische US-Senatoren wollen die mexikanischen Kartelle zu Terroristen erklären.
Der dritte ist ein strategischer. López Obradors politisches Projekt hat die Restauration des Einparteienstaates zum Ziel, bei gleichzeitiger Rückgewinnung der staatlichen Kontrolle über strategische Ressourcen wie Erdöl, die Stromversorgung und Lithium. Der erklärte Feind des Präsidenten ist der „Neoliberalismus“, der in den 1990er Jahren zu einer Schwächung der zentralen staatlichen Machtausübung durch die PRI führte, was neue Akteure zur Bereicherung nutzten, während Arbeiter und Bauern durch die wirtschaftliche Globalisierung verarmten. López Obrador sieht sich als Rächer dieser marginalisierten Schichten.
Der Kontrollverlust führte zu gewalttätigen Konflikten zwischen traditionellen und neuen Interessensgruppen, bei denen sich kriminelle, politische und wirtschaftliche Interessen verflochten. Beispiele dafür sind der inzwischen bei einem Hubschrauberabsturz ums Leben gekommene konservative Ex-Gouverneur Rafael Moreno Valle, der eine Allianz mit der Benzinmafia geschmiedet hatte, oder die inzwischen inhaftierten Ex-PRI-Gouverneure Javier und Cesar Duarte sowie Humberto Moreira, die mit Kartellen gemeinsame Sache machten.
Die Verflechtung von Mafia und Politik ist nicht neu in Mexiko, unter der PRI allerdings war sie zentralisiert in den Händen des Militärs und des Innenministeriums, die eine Art Managementfunktion ausübten. Auf die Wiederherstellung dieses „Pax Narca“ – so der Politikberater Rubén Aguilar – ziele López Obradors Sicherheitsstrategie der „Umarmungen statt Schüsse“.
Das Militär ist zum Staat im Staate geworden.
Das Militär spielt dabei eine Schlüsselrolle, denn es ist die einzige Institution, der López Obrador vertraut, weil sie „das Volk“ repräsentiere und nicht die Elite, wie er immer wieder betont. Mittlerweile ist das Militär zum Staat im Staate geworden: Es kontrolliert Flughäfen und Häfen, baut Züge, bewacht Banken, pflanzt Bäume und jagt Migranten. Heute erfüllt das Militär einer Studie zufolge 223 Funktionen, von denen 100 nichts mit der öffentlichen Sicherheit zu tun haben. Knapp über der Hälfte dieser Aufgaben wurden ihm unter López Obrador übertragen. Das Budget der Streitkräfte wuchs zwischen 2006 und 2021 um 163 Prozent. Gleichzeitig unterliegt das Militär de facto keinerlei Kontrolle. Menschenrechtsverletzungen durch die Streitkräfte werden nur selten geahndet, Menschenrechtler, die solche Fälle begleiten, werden vom Militär ausspioniert, offenbar ohne Kontrolle, wie jüngste Veröffentlichungen wie in den #GuacamayaLeaks belegen.
Um diese Rezentralisierung der Macht und gleichzeitige Militarisierung mit dem Vorwand der Bekämpfung des Drogenhandels durchzusetzen, bedarf es einer Schwächung der Demokratie, des Pluralismus und unabhängiger Institutionen mit Kontrollfunktion. Dieses Ziel verfolgte López Obrador von Anfang an, mit einer schrittweisen Strategie, die im Konflikt mit dem INE gipfelte. Er strich zunächst Universitäten und Organisationen der Zivilgesellschaft die staatlichen Zuschüsse (etwa Kinderkrippen und Migrantenunterkünften) und ersetzte diese durch direkte monetäre Sozialhilfen, die von der Opposition als klientelistisch kritisiert wurden. Mittlerweile kommen 30 Millionen Mexikaner in den Genuss von Sozialhilfen, die von Parteigängern ohne Auflagen und begleitet von Parteipropaganda vergeben werden.
Die Generalstaatsanwaltschaft, die Zentralbank, die Geldwäschebehörde und oberste Richterstellen wurden mit Gefolgsleuten besetzt, bei denen Loyalität das wichtigste Kriterium ist. Seine Vertrauenspersonen wurden auch dann nicht ausgetauscht, als offensichtlich wurde, dass sie ihren Posten für private Rachefeldzüge missbrauchten (Generalstaatsanwalt) oder keine Eignung mitbrachten (Plagiat der Doktorarbeit einer Richterin). Flankiert wird diese Strategie durch eine Neid und Hass schürende Dauerpropaganda, die dazu dient, Kritiker als korruptes Establishment zu diskreditieren, seien es Journalisten, Richter, Politiker oder Wissenschaftler.
Die Opposition versucht dagegenzuhalten. 2021 gelang es ihr, bei den Zwischenwahlen Morena die Zwei-Drittel-Mehrheit im Kongress zu entreißen, was dem Präsidenten das Durchregieren erschwerte. Ebenso wie Morena ist die Opposition programmatisch divers. Was bei Morena allerdings durch den Machtfaktor und die Aussicht auf Posten zusammengehalten wird, entfaltet bei der Opposition, die von sozialdemokratisch bis rechtskonservativ reicht, immer wieder Sprengstoff. Ein Problem ist auch die mangelnde Erneuerung des oppositionellen Führungspersonals. Dessen wenig charismatische, oft korruptionsbehaftete Altpolitiker bieten López Obrador eine leichte Angriffsfläche.
Investigative Medien (wie Latinus), zivilgesellschaftliche Organisationen wie zum Beispiel feministische Gruppen oder Forschungsinstitute und Einrichtungen wie die Antikorruptionsinitiative Mexicanos contra la corrupción y la impunidad spielen inzwischen die Rolle eines Gegengewichts. Doch wenngleich sie in der öffentlichen Wahrnehmung einen glaubwürdigen Gegenpol zur präsidialen Propaganda bieten, ersetzen sie auf Dauer nicht die Arbeit einer politischen Opposition. Ob diese bis zur Wahl 2024 eine überzeugende Strategie gegen die autoritäre Restauration findet, ist unklar.