Das Ablenkungsmanöver begann perfekt. Venezuelas Präsident Nicolás Maduro feierte beim Südamerika-Gipfel am Dienstag, dem 30. Mai in Brasilia seine Rückkehr auf die internationale Bühne. Die Medien diskutierten breit und polarisiert, ob es angemessen sei, dass Brasiliens linker Präsident Luiz Inácio „Lula“ da Silva dem autoritären Sozialisten Maduro den roten Teppich ausrollte und noch dazu die Menschenrechtsverletzungen im Nachbarland herablassend als „Narrativ“ bezeichnete. Während sich der Gipfel in ideologischen Gefechten und bauschigen Worten verlor, fand der eigentliche Kampf derweil nur 300 Meter Luftlinie entfernt im Kongress statt. Dort berieten die 513 brasilianischen Abgeordneten gleich über mehrere Schlüsselgesetze, die der erst seit Januar amtierenden Linksregierung den Kurs vorgeben.

Zwei Gesetzentwürfe hatten es besonders in sich: eines zum sogenannten Marco Temporal, der die Gebietsansprüche Indigener begrenzt. Dem Entwurf zufolge haben nur diejenigen indigenen Völker ein Recht auf ein Schutzgebiet, die im Jahr 1988 effektiv auf dem fraglichen Land gelebt haben. In dem Jahr wurde die brasilianische Verfassung verabschiedet, die ihnen erstmals legal eigenen Landbesitz zuspricht. Doch viele Indigene – darunter zum Beispiel die Guaraní – waren zu dem Zeitpunkt längst vertrieben und in Reservaten zusammengepfercht.

Der Entwurf lockert außerdem die Schutzbestimmungen für die indigenen Gebiete und öffnet damit die Tür für Bergbau, Staudämme oder Landwirtschaft. Für den Marco Temporal stimmten 238 Abgeordnete, vor allem von rechten und Zentrumsparteien, die der Agrar- und Bergbauindustrie nahestehen, 155 waren dagegen. In indigenen Schutzgebieten werden zahlreiche Mineralien und seltene Erden vermutet, die für die Energiewende wichtig sind. Für Umweltschützer sind die indigenen Gebiete die letzten Bollwerke gegen den Vormarsch der kapitalistischen Zerstörungsmaschinerie, die den Klimawandel und das Artensterben beschleunigt.

Nur einen Tag später diskutierte das Parlament über die neue Regierungsstruktur. Aus dem Machtkampf kam vor allem Umweltministerin Marina Silva schwer beschädigt hervor. Dass die Regierungsstruktur überhaupt Thema im Kongress war, liegt daran, dass Lulas rechter Vorgänger Jair Bolsonaro mit seiner Parlamentsmehrheit den Zuschnitt der Ministerien verändert und ihre Zahl auf 23 festgelegt hatte. Themen wie Umweltschutz, Frauen und Gleichstellung wurden unter ihm herabgestuft.

In indigenen Schutzgebieten werden zahlreiche Mineralien und seltene Erden vermutet, die für die Energiewende wichtig sind.

Darüber setzte sich Lula hinweg. Er regiert seit Januar mit einem „provisorischen Kabinett“ aus 37 Ministerinnen und Ministern. Dieses wurde nun zwar vom Parlament gebilligt, aber mit zahlreichen Umwandlungen. Marina Silva wurden Kernkompetenzen entzogen, wie die Zuständigkeit für die Wasser-, Abwasser- und Müllbewirtschaftung, für die Ausweisung indigener Schutzgebiete und für das Landregister. Letzteres ist ein wichtiges Instrument der Landmafia, denn es ermöglicht jedem, ohne aufwändige Beweisführung, brachliegendes Land vorläufig zu seinem Besitz zu erklären. Dennoch ist das rund sieben Millionen Grundstücke umfassende Register ein wichtiges Instrument im Kampf gegen Umweltdelikte und Landgrabbing. 

Für die Regierungsumstrukturierung stimmten 337 Abgeordnete. Das lag daran, dass nach einigem Widerstand letztlich auch Lulas Arbeiterpartei (PT) zustimmte – um fast fünf Monate nach Regierungsbeginn die Debatte um das Kabinett zu beenden. Lulas Minister für institutionelle Beziehungen, Alexandre Padilha, lobte die Maßnahme. Sie bewahre „den ursprünglichen Geist der Umstrukturierung“. Lula versprach den Parlamentariern im Gegenzug für ihre Willfährigkeit die rasche Freigabe von Ressourcen für Projekte in den Wahlkreisen und eine beschleunigte Neubesetzung von Stellen im Regierungsapparat. Diese Art von transaktionaler Vetternwirtschaft hat in Brasilien Tradition.

Aktivistinnen und Aktivisten sprechen von einer schlimmeren Katastrophe als unter Bolsonaro. „Bolsonaro demontierte den Umweltschutz mit Dekreten, die leichter rückgängig zu machen sind“, sagte Suely Araújo, Expertin im Klimanetzwerk, dem Umweltportal Mongabay. „Jetzt hingegen findet die Demontage der Umweltgesetzgebung im Kongress statt.“

Der Vorfall zeigt, wie begrenzt Lulas Möglichkeiten der Politikgestaltung sind, denn weder der Kongress noch die Mehrheit der Bevölkerung halten Umweltschutz für prioritär – anders als in Europa. Umweltministerin Silva warnte deshalb, dies werde die internationale Glaubwürdigkeit des Landes untergraben. „Damit schießt sich die Agroindustrie ein Eigentor“, sagte sie unter Anspielung auf das noch immer nicht ratifizierte Freihandelsabkommen zwischen der EU und dem Gemeinsamen Südamerikanischen Markt (Mercosur). Doch die Agroindustrie – die ohnehin das Gros ihrer Produktion nach China verkauft – jubelte. Einige Abgeordnete hätten Marina Silva auf ihrer Abschussliste und wollten sie durch einen gefügigen Minister aus ihren Reihen ersetzen, twitterte der Politologe Oliver Stuenkel von der Stiftung Getulio Vargas.

Lula versuchte, gute Miene zum bösen Spiel zu machen.

Lula versuchte, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Während die Kabinettsumstrukturierung wohl in trockenen Tüchern ist, hat er gegen den Marco Temporal noch zwei Asse: Er kann dagegen sein Veto einlegen – oder hoffen, dass der Oberste Gerichtshof endlich ein seit Jahren ausstehendes Grundsatzurteil fällt und damit die Debatte beendet. Der Kongress hatte gehofft, das Gericht mit der eiligen Abstimmung von einer Urteilsfindung abzuhalten. Doch die Richter teilten mit, sie hielten an dem für Anfang Juni geplanten Sitzungstermin fest.

Fällt das Urteil zugunsten der Indigenen aus, könnte Lula sein angekratztes Image international vielleicht gerade noch so retten. Doch realpolitisch wird es trotzdem eng für einen Kurswechsel in der Umwelt-, Indigenen- und Amazonaspolitik. Das Bremsmanöver des Kongresses war ein deutlicher Warnschuss vor den Bug. Es kommt in einem Moment, in dem die ersten Kontrollmaßnahmen der neuen Regierung fruchteten: Nach drei Monaten Rekordentwaldung nahm diese im April und Mai 2023 laut Satellitenbildern deutlich ab.

Der Schutz des Amazonas-Regelwalds war der Hebel, mit dem Lula Brasilien international rasch wieder salonfähig machte. Doch für den ehemaligen Gewerkschaftsführer aus der Automobilindustrie hatte der Umweltschutz nie oberste Priorität. Vor allem nicht, wenn er Großprojekten im Weg steht. In seinen vorherigen Amtsperioden brachte er umstrittene und von Korruption überschattete Baumaßnahmen auf den Weg wie die Transposicao – die Umleitung des Sao-Francisco-Flusses im Nordosten auf Wunsch der Agroindustrie. Oder den Amazonas-Staudamm Belo Monte, ein Wunschprojekt der Bauunternehmen.

Auch jetzt wieder war Lula zutiefst irritiert, als die Umweltschutzbehörde Ibama der staatlichen Erdölgesellschaft Petrobras eine Bohrlizenz für einen Block im Mündungsgebiet des Amazonas verweigerte. Ibama kritisierte „besorgniserregende Ungereimtheiten“ und „schwerwiegende Risiken“ in einem Gebiet, das 80 Prozent der brasilianischen Mangroven und das noch wenig erforschte Amazonas-Riffsystem umfasst, in dem viele gefährdete Arten leben. Die Chancen, dort Öl zu finden, stehen nicht schlecht, denn unweit von dort, in der Tiefsee vor Suriname und Guyana, haben internationale Ölkonzerne große Vorkommen gefunden.

Der Extraktivismus prägt Lateinamerika seit der spanischen Kolonialzeit.

Umweltschützer feierten das Nein, aber bald schon kam Gegenwind aus der Regierung. Alexandre Silveira, Minister für Bergbau und Energie, hielt es für „absurd“ und forderte Petrobras auf, die Bohrgeräte in dem Gebiet zu belassen. Der Senatschef der Regierungsfraktion, Randolfe Rodrigues, der aus dem betroffenen Bundesstaat Amapá stammt, verließ aus Protest die Partei von Ministerin Silva, das Nachhaltigkeitsnetzwerk. In Interviews sagte Rodrigues, dem Ambitionen für die Gouverneurswahl 2026 nachgesagt werden, dass weder die Behörden von Amapá noch die Bürger seines Bundesstaates konsultiert worden seien.

Auch Lula stimmte in die Kritik ein und sagte, er könne sich schwerlich vorstellen, dass die Suche nach Öl der Umwelt schade, und forderte eine neuerliche Prüfung der Sachlage. Gleichzeitig legte er ein Subventionsprogramm für konventionelle Autos auf, das vor allem auf die untere Mittelschicht abzielt. Er steht unter Druck, seine Wählerschaft zu bedienen, und ist davon überzeugt, dass Petrobras wie schon in seiner ersten und zweiten Amtszeit die finanzielle Stütze einer solchen staatlichen Umverteilungs- und Konjunkturpolitik werden kann.

Lula ist ein Beispiel dafür, wie sehr die lateinamerikanische Linke im extraktivistischen Kapitalismus gefangen ist: Maduro etwa schöpft Einnahmen aus dem Öl- und dem Goldexport ab und hat kläglich versagt, Venezuela zu industrialisieren oder auch nur die heimische Landwirtschaft auszubauen. In Bolivien gründet die linke „Bewegung zum Sozialismus“ ihr Macht- und Wirtschaftsmodell auf der klientelistischen Umverteilung der Einnahmen aus Bergbau, Gas und der Exportsteuern auf Soja. Gleiches gilt für Argentinien. Selbst in Nicaragua forciert Machthaber Daniel Ortega Bergbau und Landgrabbing durch ausländische Investoren – oft dubioser Herkunft.

Der Extraktivismus prägt Lateinamerika seit der spanischen Kolonialzeit. Nach der Unabhängigkeit hat er die heimischen Eliten bereichert. Obwohl es heutzutage viele Studien über die Nachteile des Ressourcenfluchs gibt – von Korruption über Umweltzerstörung, Sklaverei und Ungleichheit bis zum Entwicklungshemmnis –, wollen die Eliten davon aus Gier und Bequemlichkeit nicht abrücken. Der Traum vom Eldorado, vom sagenumwobenen Schatz, der dem Glücklichen in den Schoß fällt, ist mental längst nicht ausgeträumt. Die linken Regierungen, die in der rosaroten Welle um die Jahrtausendwende an die Macht kamen, trugen zwar rhetorisch den revolutionären Systemwandel vor sich her. Aber de facto fügten sie dem Modell lediglich den Umverteilungsaspekt hinzu. Und auch der war weichgespült: Die hohen Rohstoffpreise füllten private und staatliche Kassen gleichermaßen. Man konnte also Geld an die Armen verteilen ohne Wohlstandsverluste für die Elite – etwa durch Steuererhöhungen.

Doch es ist unwahrscheinlich, dass dieser Spagat diesmal erneut gelingt. Die Weltwirtschaft ist im Krisenmodus. Klimawandel, Kriege und geopolitische Umbrüche haben Verteilungskämpfe ausgelöst, die mit harten Bandagen ausgefochten werden. Die Organisierte Kriminalität unterwandert Staaten und befeuert die Umweltzerstörung – etwa durch die Geldwäsche im Umfeld des Goldabbaus im Amazonas-Gebiet. Gelingt es der Linken nicht, dem zerstörerischen, individualistischen Extraktivismus ein attraktives, alternatives Narrativ gegenüberzustellen, wird sie versagen – in Lateinamerika und anderswo. Denn dann werden abstiegsbedrohte Mittelschichten oder verelendete Unterschichten sich doch lieber am Altbekannten festklammern, frei nach dem Motto „rette sich, wer kann“. Die Rückkehr von Bolsonaro in Brasilien oder anderer Untergangspropheten wäre dann wenig überraschend.