Auch wenn es im Rückblick absurd erscheint: Viele Hamas-Mitglieder waren überzeugt, ihre Gruppe werde Israel mit dem Massaker am 7. Oktober 2023 nicht nur verwunden, sondern vernichten. Diese Überzeugung gründete sich auf religiösen Eifer und auf der Hoffnung, die Hamas könnte die Hisbollah und den Iran dazu animieren, sich mit eigenen Großangriffen dem Kampf anzuschließen – und auf der Einschätzung, Israel sei trotz seiner Hightech-Wunderwaffen ein schwacher Gegner. Diese Überzeugung erwies sich als verhängnisvoller Irrglaube. Trotzdem gab es durchaus Gründe dafür. Wie David Remnick im New Yorker berichtete, sagte Yahya Sinwar, der Strippenzieher des 7. Oktober, vor rund 20 Jahren zu seinem israelischen Gefängnis-Zahnarzt: „In 20 Jahren werdet ihr schwach werden, und ich werde euch angreifen.“

Sinwar und andere Hamas-Mitglieder betrachteten Israel als ein Land, das bereit war, für eine einzige Geisel mehr als 1 000 palästinensische Häftlinge – einer davon war Sinwar – auf freien Fuß zu setzen. Ein Land, dessen Führung trotz aller markigen Rhetorik tendenziell risikoscheu war – aus Angst, sie könnte die auf Wohlstand und Ruhe erpichte israelische Allgemeinheit gegen sich aufbringen. Ein im Innern zutiefst gespaltenes Land – religiös gegen säkular, Juden gegen Nichtjuden, Befürworter versus Gegner der Justizreform. Ein Land, das ängstlich darauf schielte, was die Welt von ihm dachte.

All das reimte Sinwar sich durch intensive Lektüre von Zeitungen in hebräischer Sprache zusammen, die ihm in seinen vielen Haftjahren in israelischen Gefängnissen zur Gewohnheit geworden war. Möglicherweise war das sein größter Fehler. In Demokratien und besonders in Israel hat der Journalismus die Tendenz, das Intakte zu ignorieren und sich zwanghaft mit allem zu beschäftigen, was nicht intakt ist. (In Autokratien ist es umgekehrt.) Dementsprechend war Sinwar über Israels selbsterklärte Schwächen besser im Bilde als über seine darunter verborgenen Stärken.

Stattdessen schlossen die Israelis die Reihen und trugen den Sieg davon – sofern ein dauerhafter Sieg im Nahen Osten überhaupt möglich ist.

Ob Sinwar sich jemals mit der Tragweite seiner Fehleinschätzung auseinandergesetzt hat, werden wir nie erfahren, da er vor genau einem Jahr von israelischen Soldaten getötet wurde. Die Israelis fielen nicht in sich zusammen angesichts des von der Hamas angerichteten Blutbads, das sich auf Sinwars Befehl allem Anschein nach gezielt gegen Soldaten und Zivilisten richtete, um „bei den Israelis Angst zu erzeugen und das Land zu destabilisieren“, wie es kürzlich in einem Bericht der New York Times hieß. Anders als in früheren Kriegen stellten die Israelis die Kampfhandlungen nicht nach wenigen Wochen ein; weder beugten sie sich dem unablässigen internationalen Druck, noch gaben sie ihre Kriegsziele größtenteils auf, um die Geiseln freizubekommen. Stattdessen schlossen die Israelis die Reihen und trugen den Sieg davon – sofern ein dauerhafter Sieg im Nahen Osten überhaupt möglich ist.

Sie haben im Verhältnis zu Libanon und Syrien die Karten neu gemischt. Sie haben den Iran gedemütigt und unschädlich gemacht, dessen Regime ins Wanken gerät, wie Karim Sadjadpour soeben in einem Essay in Foreign Affairs aufgezeigt hat. Sie haben die verbliebenen lebenden Geiseln zurückbekommen, ohne ihren wichtigsten Einflussfaktor im Gazastreifen – die Kontrolle über dessen innere Pufferzone – aus der Hand zu geben. Sie haben muslimische Länder dafür gewonnen, sich dafür einzusetzen, dass Gaza nicht von der Hamas regiert wird. Falls sich das als Fehlschlag erweist, können sie immerhin einigermaßen sicher sein, dass die in Gaza lebenden Palästinenser sich widersetzen werden, falls die Hamas in Zukunft versuchen sollte, sie erneut in einen katastrophalen Krieg hineinzuziehen. Die Israelis unterhalten diplomatische Beziehungen mit freundlich gesonnenen arabischen Staaten. Und trotz aller weltweiten Protestkundgebungen, feindseligen Leitartikel und bedeutungslosen Waffenembargos genießen sie die lautstarke Rückendeckung der einzigen ausländischen Regierung, auf die es ankommt: Amerika.

Trotz alldem ist der Preis hoch. Gaza liegt in Trümmern, tausende Zivilisten wurden getötet; die ins Kreuzfeuer Geratenen erfahren entsetzliches Leid. Der Antisemitismus nimmt zu. Eine Generation progressiv eingestellter Menschen im Westen – zu denen sich immer mehr Kohorten von Rechtsaußen gesellen – sieht im jüdischen Staat den Inbegriff des Bösen. Vielleicht hätte all das vermieden werden können, wobei ich das bezweifle: Schon in der Frühphase des Krieges hatten all die Kritiker, die nach dem Prinzip „erst die Strafe, dann das Urteil“ verfahren, Israel als Kriegsverbrecher schuldig gesprochen. Ich bezweifle auch, dass die Mehrheit der Israelis oder der Israel-Unterstützer ernsthaft gewillt wäre, Israels heutige Stellung für das Gegenteil einzutauschen: strategische Niederlage gegen warme Worte des Westens. Schließlich war jahrhundertelange Verfolgung und Diskriminierung, gefolgt von Zwischenphasen des Mitleids und der Kulanz, für die Juden überhaupt der Antrieb, den Staat Israel zu gründen.

Dies war auch der Antrieb, diesen Krieg zu gewinnen. In den Analysen der israelischen Militärstrategie stand zum großen Teil das „Wie“ im Vordergrund: Wie bewerkstelligte Israel die Pager-Aktion gegen die Hisbollah? Wie schaffte es der Mossad, eine Bombe in das gesicherte Haus in Teheran zu schmuggeln, in dem Hamas-Anführer Ismail Haniyeh untergebracht war? Wie gelang es Israels Premierminister Benjamin Netanjahu, Trump dazu zu bringen, Israels Angriff auf ranghohe Hamas-Funktionäre in Doha (Katar) zu nutzen, um die diplomatische Beendigung des Krieges in die Wege zu leiten?

Letztlich sind die Wie-Fragen allerdings weniger aufschlussreich als die Warum-Fragen. Warum ist Israel, anders als von Sinwar fest angenommen, am 7. Oktober nicht in sich zusammengefallen? Warum haben die Israelis trotz Massenmord, Binnenvertreibung, Beschuss mit ballistischen Raketen und internationaler Isolierung durchgehalten? Warum war Israel zum Sieg entschlossen und entschied sich gegen eine frühzeitige Beendigung des Krieges, bei der Israels größte Feinde weitgehend unversehrt geblieben wären?

„Patriotismus bedeutet, das eigene Land jederzeit zu unterstützen und die eigene Regierung nur dann zu unterstützen, wenn sie es verdient.“

Die Antwort bekam ich auf einem israelischen Militärstützpunkt in der Nähe von Gaza. Dort lernte ich einen Unteroffizier kennen, der den Spitznamen Cholo trägt. Cholo hatte als DJ bei Rave-Partys in Brasilien aufgelegt, kehrte aber nach dem 7. Oktober sofort nach Israel zurück und meldete sich zum Militärdienst. „Ich bin kein Anhänger der amtierenden Regierung“, sagte er mir. „Aber ich gehe zur Armee.“ Das Wort hierfür ist Patriotismus und wurde von Mark Twain so definiert: „Patriotismus bedeutet, das eigene Land jederzeit zu unterstützen und die eigene Regierung nur dann zu unterstützen, wenn sie es verdient.“ Unter den vielen israelischen Soldatinnen und Soldaten, die in Gaza und an anderen Fronten kämpften und fielen, waren sicher viele, die sich an den Protestdemonstrationen gegen Netanjahus Justizreform beteiligt hatten.

Doch sie kamen aus fast allen Teilen des politischen Spektrums und kämpften nicht aus ideologischen oder parteipolitischen Überzeugungen, sondern weil Sinwars Ziele und Methoden keinen Zweifel daran ließen, dass es um Existenzielles geht. Der schadenfrohe Zuspruch, den diese Ziele und Methoden auf der ganzen Welt sogleich fanden, machte zudem klar, dass es für Juden auch heute immer noch keinen sicheren Zufluchtsort gibt. Weder Australien noch Kanada. Weder Großbritannien noch Frankreich oder Deutschland. Und vielleicht nicht einmal Amerika. Glauben ernsthaft Progressive wirklich, dass der antijüdische Furor in Nahost, in Europa oder in Nordamerika abebben würde, wenn der jüdische Staat morgen verschwinden und durch irgendeinen utopischen binationalen Staat ersetzt würde? Oder würde dieser Furor sich einfach leichtere Ziele suchen?

Die Israelis haben auch nicht nur deshalb gekämpft, weil sie mit einer existenziellen Bedrohung konfrontiert waren. Sie waren auch mit einer existenziellen Lüge konfrontiert: mit der Lüge, Israel sei ein Siedler- und Kolonialstaat, eine invasive fremde Spezies, für die in diesem Land kein Platz sei. Diese Lüge hat sich überall breitgemacht, obwohl sie durch 3 000 Jahre Geschichte widerlegt wird. Diese zunehmend dreist behauptete Lüge greift die Wurzeln jüdischer Identität an. „Wenn ich dich vergesse, oh Jerusalem …“ war nicht bloß als literarische Metapher gemeint. Um das zu beweisen, mussten die Israelis den Krieg führen und gewinnen.
Mit der jetzt eingetretenen Waffenruhe stellt sich eine Reihe schwieriger Fragen, die sich darum drehen, wie es nun weitergeht – für Israelis, für Palästinenser und für alle, die sich deren Zukunft angelegen sein lassen. Doch mit der Waffenruhe dürften sich auch wichtige Fragen erledigt haben. Sind die Israelis schwach? Ist ihr Staat auf Sand gebaut? Vertreten sie ihre Überzeugungen nur halbherzig? Diesem Glauben hingen Yahya Sinwar und seine Gefolgschaft an. Das Grab, das er sich selbst geschaufelt hat, dürfte die oben genannten Fragen ein für alle Mal beantworten.

Dieser Artikel erschien ursprünglich in der New York Times.

Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld