Ein typischer Schlagabtausch in den sozialen Medien: Ein Nutzer stellt die Diagnose einer Hungerkrise in Gaza infrage. In seinen Posts: Hinweise auf die Anzahl an Mahlzeiten, die durch die sogenannte Gaza Humanitarian Foundation (GHF) ausgegeben wurden, Fotos von vollen Marktständen in Gaza sowie prinzipielle Zweifel an Israels Vorsatz. Ein anderer Nutzer antwortet mit Verweisen auf renommierte Expertinnen und Experten für Hungersnöte, Stellungnahmen von Menschenrechtsorganisationen, Analysen in der Haaretz und der New York Times.

Der Bluesky-Thread verdeutlicht die Struktur des öffentlichen Diskurses zur humanitären Lage in Gaza. Seine Kompromisslosigkeit rührt auch daher, dass Begriffe wie „Genozid“ oder „Aushungern als Kriegswaffe“ klare moralische Marker sind. Wer sie bestreitet, dem wird Verharmlosung vorgeworfen. Wer sie bejaht, wird beschuldigt, Israel zu dämonisieren. Diesem Dilemma versuchen viele mit immer neuen Argumenten zu entkommen – dafür, warum rote Linien überschritten sind und wie dies vermeidbar wäre. Das zitierte Beispiel zeigt die Grenzen solcher Versuche der Objektivierung. Denn die Frage ist längst nicht mehr, ob die Menschen in Gaza hungern. Sondern inwiefern dies systematisch, vorhersehbar und vor allem gewollt ist. Wer sinnvoll über Gaza sprechen möchte, muss über Intentionalität sprechen. Alles andere ist Ablenkung.

Die Ausgangslage ist dabei klarer, als viele behaupten. Das humanitäre Völkerrecht ist bei Hunger eindeutig: Aushungern als Methode der Kriegsführung ist verboten. Nicht nur deshalb, weil es grausam ist, sondern weil es den Kern des Schutzgebots gegenüber der Zivilbevölkerung berührt. Auch der Forschungsstand zu Hungersnöten ist klar: In Kriegen sterben immer unschuldige Menschen. Ausgewachsene Hungersnöte sind jedoch selten und eigentlich immer das Ergebnis strategischer Entscheidungen über Zugang zu Wasser, Lebensmitteln, Energie und medizinischer Versorgung – so auch in Gaza.

Die Gegenrede ist vertraut: Es gebe Hilfslieferungen, Organisationen wie die GHF hätten Millionen Mahlzeiten verteilt, Märkte existierten weiterhin, und überhaupt sei doch der Krieg von Gaza begonnen worden. Die intendierten Schlüsse daraus sind es ebenfalls: Die humanitäre Lage ist nicht beabsichtigt, sondern die bedauerliche, aber unvermeidbare Folge eines gerechten Krieges. Und wenn jemand Verantwortung trägt, dann die Palästinenser.

Die Logik des Krieges ist eine der Kontrolle.

So vertraut diese Argumentation ist, so zynisch bleibt sie. Denn sie stützt sich – bewusst? – auf falsche Prämissen. Zunächst verwischt sie den Unterschied zwischen Verfügbarkeit und Zugang. Für eine Hungersnot ist nicht entscheidend, ob es irgendwo noch Brot zu kaufen gibt oder ob irgendwo ein voller Markstand existiert. Entscheidend ist vielmehr, ob jemand verhindert, dass große Teile der Bevölkerung verlässlichen Zugang zu diesen Gütern haben. Wer die Debatte ernsthaft führen will, muss sich also vom Reflex lösen, einzelne Bilder oder Anekdoten als stichhaltige Beweise zu behandeln. Bilder von prall gefüllten Obstkisten binden im Kontext eines nahezu vollständig medial abgeriegelten Gaza-Streifens nachvollziehbarerweise die öffentliche Aufmerksamkeit. Sie sagen aber so gut wie nichts aus, solange man nicht weiß, wo diese Waren sind und wer sie sich leisten kann, wie viele Menschen gleichzeitig keinen Zugang mehr zu Nahrungsmitteln und sauberem Trinkwasser haben. Die Logik des Krieges ist eine der Kontrolle. Die zivile Grundversorgung wird abhängig von Checkpoints, Genehmigungen, abrupten Grenzschließungen und zerstörter Infrastruktur. Wer hier Engpässe erzeugen kann, kontrolliert nicht nur die Menge der Hilfe, sondern auch ihre Planbarkeit, ihre Sicherheit und ihre Verteilung. In diesem Sinn wird Hunger nicht nur durch Bomben und Panzer gemacht, sondern durch Tabellen, Listen, Schranken und Absagen.

Darüber hinaus dient die rhetorische Formel, Gaza habe den Krieg begonnen, als moralisches Alibi und als semantische Kurzschlussbrücke. Denn Gaza ist ein Territorium, keine bewaffnete Gruppe. Die Zivilbevölkerung ist nicht identisch mit den Kämpfern der Hamas, die auf ihrem Territorium agieren. Der Status eines Akteurs im bewaffneten Konflikt ändert nichts daran, dass die andere Seite rechtlich gebunden bleibt. Das humanitäre Völkerrecht ist gerade deshalb so wichtig, weil es nicht auf Gegenseitigkeit beruht. Schutzpflichten gelten unabhängig davon, wer angefangen hat. Wer die Zivilbevölkerung unter Kollektivverdacht stellt, räumt einen Teil dieses Schutzes ab und normalisiert den Völkerrechtsbruch.

Auch das Argument, Israel würde keine Hilfslieferungen hineinlassen, wenn es die palästinensische Zivilbevölkerung aushungern wollte, ist eine (falsche) Inferenz aus dem Gegenteil. Wer so argumentiert, legt keine Beweise vor, sondern argumentiert mit der Abwesenheit eines angeblich erwartbaren Verhaltens. Nur deckt sich diese Erwartung eben nicht mit dem, was wir über Hungersnöte wissen. Der renommierte Experte für Hungersnöte Alex De Waal bringt es in der New York Times auf den Punkt: Hungern braucht Zeit. Menschen verhungern nicht, weil es von heute auf morgen keine Kalorien gibt, sondern weil ihre Überlebensgrundlagen graduell erodieren. Löhne fallen weg, Preise explodieren, Wege werden unsicher, Wasser wird kontaminiert, Medikamente werden knapp. Sobald ein militärischer Akteur diese Knappheiten vorhersehen kann und dennoch verschärft, indem er Versorgungsstraßen schließt, Lagerhäuser angreift, die Stromversorgung abklemmt oder die Genehmigungspraxis für Hilfskonvois so gestaltet, dass sie ins Leere läuft, sind wir genau bei der Methode, die das Völkerrecht verbietet. Es ist richtig und wichtig, die Kriegsverbrechen nicht-staatlicher Akteure zu verurteilen und eine sofortige und bedingungslose Freilassung von Geiseln zu fordern. Davon unberührt ist aber die Pflicht, die Zivilbevölkerung nicht zur Waffe zu machen.

Die Konsequenzen aus dieser Einsicht sind unbequem, gerade in Deutschland.

Gerade im Kontext gezielter Propaganda durch Kriegsparteien lohnt der Griff zu Expertise, die über Jahrzehnte Muster der Hungermacherei untersucht hat. De Waals Urteil fällt nicht vom Himmel. Es verdichtet Erkenntnisse aus Jahrzehnten der Konfliktforschung zu Kriegsschauplätzen: Wer die Zugänge kontrolliert, kontrolliert Nahrungsmittelsicherheit. Sicherheit entlang eines Korridors kann hergestellt oder zerstört werden. Plünderung ist Folge von Knappheit, nicht ihre Ursache. Dieses gesammelte Erfahrungswissen lässt sich mit Einzelfotos nicht widerlegen. Die Konsequenzen aus dieser Einsicht sind unbequem, gerade in Deutschland. Wir haben uns angewöhnt, über Gaza in einer Grammatik des Verdachts zu sprechen. Die Verantwortung nicht-staatlicher Akteure findet rasch Eingang in Leitartikel. Alles, was an israelische Verantwortlichkeit erinnert, steht dagegen unter Vorbehalt. Dieser Bias führt in die Irre. Denn wer vor dem israelischen Einsatz von Hunger als Waffe die Augen verschließt, erkennt zwangsläufig keinen Weg, um die Hungersnot in Gaza zu lindern.

Hierfür bräuchte es zunächst (und sofort) verlässliche und sichere humanitäre Korridore vom Ausgangslager bis zur Verteilstelle – nicht für ein paar Tage, sondern über Monate. Strom, Wasser und Treibstoff müssen nicht nur punktuell, sondern strukturell zurückkehren. Ohne Energie kollabiert jede Kühlkette, jede Klinik, jede Brunnenanlage. Zudem braucht es ein Ende der sprichwörtlich auszehrenden Mikrokontrollen an den Grenzen des Gazastreifens, mit denen die israelischen Behörden nicht nur LKW, sondern de facto auch den Ernährungszustand der Menschen in Gaza regulieren. Für die internationale Politik bedeutet das eine andere Prioritätensetzung. Hilfsgelder beenden Hunger nicht, solange sie gegen eine Architektur der Knappheit anrennen. Druck auf israelische Entscheidungsträger ist daher wichtiger als neue Summen in Pressemitteilungen. Nicht die Zahl der Trucks am Grenzübergang zählt, sondern die Kalorien pro Kopf, die nach Gaza hineinkommen.

Zentral ist zudem die klare Benennung von Verantwortung. Es ist nicht nur bequem, sondern Ausdruck einer moralischen Schieflage, die Bilder von Marktständen in Gaza zu Israels Entlastung ins Feld zu führen. In Wahrheit belegen sie das Gegenteil: Sie zeigen einen Markt, auf dem die letzten Nahrungsmittel zu Luxusgütern werden, von denen die Mehrheit nur noch träumen kann. Wer die Grenze zu Gaza kontrolliert, kontrolliert auch diesen Markt. Hunger ist keine Panne. Vielleicht ist das der nüchternste Satz, den man derzeit schreiben kann.