Die Entscheidung Moskaus, 2015 in Syrien militärisch zu intervenieren, hat das Assad-Regime in Damaskus effektiv geschützt. Die Luftwaffe und Geheimdienste Russlands sowie die vom Iran unterstützten Milizen am Boden halfen der syrischen Regierung dabei, die Opposition auszuschalten und die Kontrolle über große Teile des Landes auf brutale Weise zurückzugewinnen. Seit März 2020 scheint der Konflikt nun eine neue Pattsituation erreicht zu haben, die durch drei klar abgegrenzte Territorien mit festen Frontlinien gekennzeichnet ist.

Die jüngste Deeskalationsphase ist jedoch zwangsläufig sehr volatil und konnte sich in erster Linie dank der fragilen russisch-türkischen Entente im Nordwesten Syriens behaupten – und aufgrund der vorübergehenden, aber immer noch andauernden Präsenz der USA im Nordosten des Landes. Letztlich geht es Assad darum, die Kontrolle über das gesamte syrische Territorium wiederzuerlangen. Bislang hat er keinerlei Bereitschaft gezeigt, den Konflikt friedlich durch Verhandlungen zu beenden.

Assad glaubt, dass er die Zeit auf seiner Seite hat. Im Westen und in der Region gibt es nur schleppende Unterstützung für einen Regimewechsel in Damaskus und die Annahme eines alternativen Plans für eine schrittweise Rückkehr zum „Frieden“. Selbst Assads Gegner scheinen ihr ursprüngliches Ziel, das Regime zu stürzen, pragmatisch aufgegeben zu haben. Sie streben nun stattdessen an, in erster Linie eine Form von Autonomie zu erhalten. Da es keine Einigung mit Damaskus gibt, sind jedoch alle Formen autonomer Selbstverwaltung fragil. Ihre Existenz hängt von vorübergehenden Vereinbarungen zwischen den ausländischen Unterstützern der verschiedenen „Autoritäten“ vor Ort ab.

Um einen strukturellen Zusammenbruch des syrischen Staates zu verhindern, spielen sowohl Russland als auch der Iran eine zentrale Rolle.

Assads Fähigkeit, die ungeteilte Autorität über Syrien zurückzuerlangen, ist – ebenso wie sein Überleben – von der dauerhaften Unterstützung durch seine Verbündeten abhängig. Die prekäre Lage der syrischen Wirtschaft, die Sanktionen der USA und der EU sowie die schwer beschädigte Infrastruktur bedrohen fortwährend die Integrität des Staates und seine Fähigkeit, die Institutionen zu erhalten. Um einen strukturellen Zusammenbruch des syrischen Staates zu verhindern, spielen sowohl Russland als auch der Iran eine zentrale Rolle. Der Iran stellt Öl, Gas und Finanzmittel zur Verfügung. Russland sorgt für Sicherheit und Diplomatie, um die regionale und internationale Rehabilitation Assads zu beschleunigen, was mit Investitionen und finanzieller Hilfe einhergeht. Also kann davon ausgegangen werden, dass Syrien ganz besonders von den Folgen des Kriegs in der Ukraine betroffen ist, da Russland seine Aufmerksamkeit und Ressourcen aus der Region abziehen dürfte.

Dass Russland durch die Invasion der Ukraine abgelenkt ist, wirkt sich auf verschiedene Weise auf die aktuelle Lage in Syrien aus. Militärisch und sicherheitspolitisch könnten die Türkei und die USA zwar theoretisch versuchen, die russische Schwäche in der Region auszunutzen, um den Status Quo in Frage zu stellen. Doch es ist höchst zweifelhaft, dass sie das tun würden. Es würde ein weiteres Engagement in Syrien erfordern, wozu derzeit keiner von ihnen bereit ist. In geopolitischer Hinsicht könnte der Ukraine-Krieg zu strukturellen Veränderungen in den benachbarten Sicherheitskomplexen führen und sowohl die Türkei als auch den Iran weiter als regionale Mächte stärken. Insgesamt sollte man die politischen Auswirkungen des Kriegs auf Syrien jedoch nicht überschätzen. Es stehen vor allem die wirtschaftlichen und humanitären Bedingungen im Vordergrund, die sich für die Syrerinnen und Syrer nun wohl noch verschlimmern werden.

In geopolitischer Hinsicht könnte der Ukraine-Krieg zu strukturellen Veränderungen in den benachbarten Sicherheitskomplexen führen und sowohl die Türkei als auch den Iran weiter als regionale Mächte stärken.

Obwohl Moskau Damaskus nicht finanziell unterstützt und russische Exporte nur 3,7 Prozent der syrischen Importe ausmachen, ist Syrien von wichtigen russischen Erzeugnissen wie Weizen oder Viehfutter abhängig, zu denen es kaum Alternativen gibt. Brot ist in Syrien ein wichtiges Nahrungsmittel. Weizen für die Ernährungssicherheit daher von entscheidender Bedeutung. Der jährliche Weizenbedarf des Landes wird auf etwa 4,3 Millionen Tonnen geschätzt. 2021 importierte Syrien 1,2 Millionen Tonnen Weizen und baute nur 1,05 Millionen Tonnen selbst an, was in den vom Regime kontrollierten Gebieten zu stundenlangen Warteschlangen und beispiellosen Preissteigerungen geführt hat.

Die Verschlechterung der Ernährungssicherheit in Syrien ist nicht auf die russische Invasion in der Ukraine zurückzuführen. Aber vermutlich wird sich die Lage nun weiter verschlimmern, weil der Zugang zu russischen Lebensmitteln unterbrochen ist. Alternative Nahrungsquellen sind nicht leicht zu finden. Die Importe aus den meisten Ländern sind durch Sanktionen eingeschränkt. Außerdem fehlt es Syrien an ausländischen Währungsreserven, die zur Finanzierung solcher Transaktionen nötig sind. Einstweilen scheint Damaskus auf Indien angewiesen zu sein, um den Verlust von russischem Weizen und Futtermitteln zu kompensieren. Langfristig dürfte diese Quelle aber nicht nachhaltig sein – insbesondere angesichts immer teurerer Lieferketten und der weltweit steigenden Inflationsraten.

Bereits jetzt sind die wirtschaftlichen Folgen des Kriegs in der Ukraine in ganz Syrien zu spüren. Viele Produkte aus Getreide und Mehl sind schon deutlich teurer geworden. Dies ist nicht nur in den vom Regime kontrollierten Gebieten spürbar, sondern auch im Nordwesten und Nordosten, wo der Zugang zu internationalen Märkten bislang gesichert war. Auch die Preise für wichtige importierte Rohstoffe sind gestiegen. Und weil mehrere Länder, darunter die Türkei, nun den Export von Getreide, Speiseöl und anderen landwirtschaftlichen Erzeugnissen nach Syrien einschränken, wird die Versorgung durch benachbarte Märkte  schwierig.

Zu den unterbrochenen Lieferketten und den gestiegenen Kosten kommt noch hinzu, dass die Hilfszahlungen für den Sektor in den letzten zehn Monaten um über 40 Prozent gesunken sind, wodurch Krankenhäuser geschlossen und wichtige Leistungen eingestellt wurden.

Die Preissteigerungen betreffen auch die humanitäre Hilfe. Landesweit erhöhten sich im März die Durchschnittskosten des Standardlebensmittelkorbs des Welternährungsprogramms WFP um 24 Prozent im Vergleich zum Vormonat. Auch der Gesundheitssektor wurde in Mitleidenschaft gezogen. Die medizinischen Einrichtungen in den von der Opposition gehaltenen Gebieten sind vollständig auf internationale Finanzmittel angewiesen, um grundlegende Dienstleistungen und Medikamente bereitzustellen. Zu den unterbrochenen Lieferketten und den gestiegenen Kosten kommt noch hinzu, dass die Hilfszahlungen für den Sektor in den letzten zehn Monaten um über 40 Prozent gesunken sind, weshalb Krankenhäuser geschlossen und wichtige Leistungen eingestellt wurden.

Und schließlich besteht die Gefahr, dass angesichts der diplomatischen Konfrontation zwischen Russland und dem Westen sowie fehlender politischer Deeskalationsmittel die humanitäre Hilfe an Syrien beeinträchtigt wird. Die einstimmige Verabschiedung der Resolution 2585 durch den UN-Sicherheitsrat im Juni 2021 zur Verlängerung der grenzüberschreitenden Hilfslieferungen um weitere zwölf Monate war das Ergebnis eines amerikanisch-russischen Dialogs, der nun angesichts des tobenden Ukraine-Kriegs nicht mehr zu erwarten ist. Sollten die grenzüberschreitenden Hilfslieferungen ausgesetzt werden, ist eine schnelle und effektive Reaktion erforderlich, um das Leid der zwei Millionen bedürftigen Zivilisten und Binnenvertriebenen in Idlib und Nord-Aleppo zu lindern.

Insgesamt ist in Syrien durch den Krieg in der Ukraine kein Paradigmenwechsel zu erwarten. Allerdings wird er den Status quo zementieren, die Verhandlungen über einen politischen Wandel weiter erschweren und die humanitäre Lage im Land verschlechtern. Die internationale Gemeinschaft glaubt, die Ernährungssicherheit in Syrien sei eine Frage der Bezahlbarkeit, was die Aufrechterhaltung der Sanktionen als Druckmittel gegen Assad rechtfertigt. Die jüngsten Entwicklungen zeigen jedoch, dass das Problem zunehmend die Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln ist. Um eine drohende Ernährungskatastrophe zu verhindern, müssen die Hilfs- und Geberländer den kontinuierlichen Fluss humanitärer Hilfe nach Syrien gewährleisten und sich bemühen, Hilfslieferungen von politischen und sicherheitsrelevanten Fragen zu trennen. Das Assad-Regime hat keinerlei Anzeichen dafür gezeigt, dass es gedenkt, hinsichtlich der Bereitstellung von Hilfe für die syrische Bevölkerung auf irgendwelche seiner „Souveränitätsrechte“ zu verzichten. Doch ähnlich wie 2014 erfordern verzweifelte Zeiten verzweifelte Maßnahmen. Damaskus könnte durchaus dazu gezwungen werden, ein neues Modell zu akzeptieren. Mehr denn je braucht Syrien derzeit ein Umdenken, um die humanitäre Hilfe für das Land zu retten.

Aus dem Englischen von Harald Eckhoff