Lange galt Tunesien als das einzige erfolgreiche demokratische Beispiel des „Arabischen Frühlings“. Seit 2011 fanden drei Parlaments- und zwei Präsidentschaftswahlen statt, und das Land verfügt über eine Verfassung und liberale Institutionen. Leider sieht sich Tunesien seit einigen Monaten mit einer beispiellosen Krise konfrontiert, die Zweifel hinsichtlich der zukünftigen Stabilität des Landes aufkommen lässt. Ausgangspunkt war ein durch die Wahlen 2019 entstandener Machtkonflikt. Auf der einen Seite befindet sich Kais Saied, der mit überwältigender Mehrheit gewählte Präsident, der jedoch nur über wenige Befugnisse verfügte, auf der anderen Seite das tunesische Parlament, das von einer Koalition unter Führung der islamistischen Partei Ennahda, die bisher das politische Leben dominierte, beherrscht wurde. Die beiden lieferten sich zwei Jahre lang einen erbitterten Schlagabtausch, bevor der Präsident schließlich das wagte, was in der Politikwissenschaft als autogolpe (Selbstputsch) bezeichnet wird, bei dem ein gewählter Präsident die gesamte Macht an sich reißt – und nicht etwa die Armee die Regierung stürzt.
Am 25. Juli 2021, dem Jahrestag der Gründung der Republik 1957, entließ der Präsident den Regierungschef und suspendierte das Parlament, bevor er es schließlich ganz auflöste. Am 22. September setzte er die Verfassung von 2014 außer Kraft, die das Ergebnis von drei Jahren öffentlicher Deliberation war. Er beanspruchte die volle Macht für sich und verfügte, dass seine Handlungen vor keinem Gericht anfechtbar sind. Dazu stützte er sich auf Artikel 80 der Verfassung, der es ihm erlaubt, im Falle einer unmittelbaren Gefahr außergewöhnliche Maßnahmen zu ergreifen. In dem entsprechenden Zeitraum muss sich die Abgeordnetenkammer allerdings im ständigen Sitzungszustand befinden und kann nicht aufgelöst werden.
Saied ist jedoch kein Souverän. Seine Macht wurde ihm von der Verfassung übertragen.
Offensichtlich ist der Präsident weit über das hinausgegangen, was Carl Schmitt 1921 in Die Diktatur als „kommissarische Diktatur“ bezeichnet, indem der Präsident die Macht nach dem Vorbild eines römischen dictators für eine begrenzte Zeit einem Kommissar überträgt. Dabei bezieht sich Schmitt auf Artikel 48, Absatz 2 der Weimarer Verfassung, welcher in gewisser Hinsicht das Äquivalent zum Artikel 80 der tunesischen Verfassung darstellt. Selbst in den tunesischen Medien rechtfertigen einige Juristen die Handlungen des Präsidenten mit einem berühmten Satz aus Schmitts Politischer Theologie: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“ Saied ist jedoch kein Souverän. Seine Macht wurde ihm von der Verfassung übertragen.
Es sei zugegeben, dass die ersten Maßnahmen, die am 25. Juli letzten Jahres ergriffen wurden, anfangs mit Erleichterung aufgenommen wurden. Die Tunesier mussten zuvor hilflos mit ansehen, wie es im Parlament zu Auseinandersetzungen kam, die von Saied fälschlicherweise mit einer „unmittelbaren Gefahr“ gleichgesetzt wurden. Vorgezogene Wahlen scheiterten an der islamistischen Partei, die drakonische Bedingungen für die Auflösung des Parlaments gestellt hatte. Die große Mehrheit der Tunesier war jedoch vor allem wegen der katastrophalen Wirtschaftslage verärgert, die der islamisch-säkularen Koalition angelastet wurde. Diese hatte es den Islamisten erst ermöglicht, im demokratischen Gefüge eingebunden und eine unabdingbare Position zu erhalten, da die Koalition auf die Stimmen der Ennahda angewiesen war.
Saied ist ein Populist, dessen politische Karriere auf einer Parole der Revolution von 2011 fußt: Le peuple veut! – Das Volk will! Als einziges wirkliches Wahlprogramm schlägt er als Alternative zur repräsentativen Demokratie die Einführung von Räten auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene vor. Seine Gegner bezeichnet er durchweg als Feinde des Volkes, als Verräter, die Verschwörungen schmieden, als Handlanger des Auslands und als „Ungeziefer“, das es zu zerschlagen gilt. Den politischen Parteien hat er den Kampf angesagt. Er hat sie vom „nationalen Dialog“ ausgeschlossen, um eine „neue Republik“ nach dem Vorbild des Estado Novo des Brasilianers Vargas im Jahr 1937 zu gründen.
Saied bezeichnet seine Gegner durchweg als Feinde des Volkes, als Verräter, als Handlanger des Auslands und als „Ungeziefer“, das es zu zerschlagen gilt.
Zu diesem Zweck hielt er über eine digitale Plattform eine Volksbefragung zu den gewünschten Reformen ab, die ein völliges Fiasko war. Weniger als 10 Prozent der Tunesier füllten das Online-Formular über einen Zeitraum von mehr als zwei Monaten (Januar bis März 2022) aus. Der hartnäckige Saied lässt sich davon allerdings nicht beirren. Er kündigte ein Verfassungsreferendum an, das für den 25. Juli (sein Lieblingsdatum) angesetzt wurde, ohne dass der Inhalt bis heute bekannt ist. Die vorgezogenen Parlamentswahlen am 17. Dezember 2022 sollen die neue Ära beschließen.
In der Zwischenzeit sicherte sich Saied die Loyalität der Unabhängigen Obersten Wahlbehörde, indem er den neuen Leitungsausschuss ernannte, dessen Mitglieder vom Parlament gewählt wurden, und äußerte Zweifel an der Nützlichkeit internationaler Wahlbeobachter. Anfang Mai entließ er per Dekret 57 Richter, die nun mit Strafverfolgung rechnen müssen. Begründet wurde die Abberufung der Richter mit »der Verheimlichung von Terrorangelegenheiten«, »Korruption«, »sexueller Belästigung«, »Geheimabsprachen« mit politischen Parteien und »Störung der Funktionsweise der Justiz«.
Die meisten politischen Parteien und zivilgesellschaftlichen Organisationen rufen dazu auf, die nächsten Wahlen zu boykottieren.
Saied versucht einen Alleingang, und zwar wahrhaftig allein. Denn die meisten politischen Parteien und zivilgesellschaftlichen Organisationen rufen dazu auf, die nächsten Wahlen zu boykottieren. Auch die wiederholten Appelle der USA und der europäischen Institutionen, einen inklusiven Dialog zu führen und zu einer demokratischen Regierungsführung zurückzukehren, stoßen bei Saied auf taube Ohren.
Dem Präsidenten stehen zwei Blöcke gegenüber. Der eine Block der „Nationalen Rettung“ besteht aus einer islamisch-säkularen Koalition unter der Führung von Ahmed Néjib Chebbi, einem der führenden historischen Köpfe des demokratischen Widerstands. Der andere Block besteht aus einer „Koordination“ säkularer und sozialdemokratischer Parteien, die die Islamisten und die Diktatur ablehnen. Die Tunesier sind verzweifelt und beunruhigt über die Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen. Die wirtschaftliche Lage ist nach allgemeiner Einschätzung katastrophal. Der Internationale Währungsfonds zögert, seine lebensrettende Hilfe zu gewähren, fast 6 Milliarden Euro, da er von den nicht eingehaltenen Versprechungen, echte Reformen durchzuführen, genug hat. Es ist sehr wahrscheinlich, dass sich das Schicksal der tunesischen Demokratie in den kommenden Monaten entscheiden wird. Auch wenn es im Moment schwierig ist, dies zu vorherzusagen.