Im November 2024 beendete ein Waffenstillstand zwischen dem Libanon und Israel die sechs Wochen andauernden, intensiven Kämpfe – die heftigsten seit 2006. Sie waren geprägt von Anschlägen auf Pager-Geräte und den Ermordungen der Hisbollah-Führer Hassan Nasrallah und Hashem Safieddine. Zu diesem Zeitpunkt befand sich der Libanon in tiefer institutioneller Lähmung: Das Präsidentenamt war seit Oktober 2022 vakant, die politischen Lager blockierten sich gegenseitig. Armeechef Joseph Aoun, Washingtons bevorzugter Präsidentschaftskandidat, stieß auf den Widerstand der Hisbollah, die in ihm den Versuch sah, das innenpolitische Machtgleichgewicht zugunsten des Westens zu verschieben.
Inmitten dieser Blockade trat Parlamentspräsident Nabih Berri als zentraler Vermittler bei den Verhandlungen des Waffenstillstands und der Entwaffnung auf. Obwohl er oft als Symbol des institutionellen Stillstands gilt, spielte er eine Schlüsselrolle beim Ende der Kämpfe und beim Zustandekommen der Gespräche mit der Hisbollah. Seine seltene Fähigkeit, zwischen rivalisierenden Lagern zu vermitteln, könnte erneut entscheidend werden, um den Libanon durch die nun beginnende Phase der Entwaffnung zu steuern. Im Januar 2025 wurde schließlich Nawaf Salam auf Basis eines fragilen Kompromisses zwischen Reformkräften und den Resten des „März-14-Blocks“ zum Premierminister ernannt. Sein Kabinett kündigte einen gestaffelten Entwaffnungsplan an, koordiniert mit den libanesischen Streitkräften und internationalen Partnern. Zum ersten Mal wurde ein schiitischer Minister von außerhalb des Hisbollah-Amal-Bündnisses berufen.
Im September 2025 verabschiedete die Regierung den mehrstufigen Plan der Armee zur Zerschlagung des Hisbollah-Arsenals und anderer nicht-staatlicher Waffen. Der Beginn ist im Süden, jenseits des Litani-Flusses, vorgesehen, später soll die Maßnahme auf das ganze Land ausgeweitet werden. Obwohl fünf schiitische Minister vor der Abstimmung das Kabinett verließen, wurde der Beschluss angenommen – ein historischer Schritt zur Umsetzung des Waffenstillstands und zum Beginn einer staatlich überwachten Entwaffnung.
Die Frage der Entwaffnung der Hisbollah prägt die libanesische Politik seit mehr als zwei Jahrzehnten.
Die Frage der Entwaffnung der Hisbollah prägt die libanesische Politik seit mehr als zwei Jahrzehnten. Jede Regierung, jeder Konflikt, jede Verhandlung treffen letztlich auf dasselbe ungelöste Problem: die Hisbollah ist eine politische Partei, die über eine eigene Armee verfügt – größer und kampfstärker als die des Staates. Was einst als ideologischer Streit galt, ist heute eine Frage des staatlichen Überlebens. Lange stritt man darüber, ob die Waffenfrage Voraussetzung für jede Reform sei – oder ob man, trotz der Präsenz der Hisbollah-Miliz, an anderen, innenpolitischen Baustellen weiterarbeiten könne. Die Ereignisse der Jahre 2024 und 2025 haben diesen Streit beendet: Ohne eine Lösung dieser zentralen Machtfrage droht der libanesische Staat selbst zu zerfallen.
Die internationale Gemeinschaft fragt nun offener denn je: Wird die Hisbollah ihre Waffen niederlegen – und wenn ja, wann und wie? Das Waffenstillstandsabkommen bekräftigte im Wesentlichen die UN-Resolution 1701: Entwaffnung südlich des Litani-Flusses, Rückzug Israels aus libanesischem Gebiet, indirekte Verhandlungen unter internationaler Vermittlung sowie die Einrichtung eines von den USA und Frankreich geleiteten Kontrollmechanismus zur Überwachung der Umsetzung. Hinzu kamen Programme zur Rückkehr Vertriebener und zum Wiederaufbau.
Doch die Realität blieb weit hinter diesen Zielen zurück. Der internationale Druck geht inzwischen weit über den ursprünglichen Rahmen hinaus: Gefordert wird eine rasche landesweite Entwaffnung und direkte statt indirekte Gespräche. Der Kontrollmechanismus ist unvollständig, der Wiederaufbau stockt, viele Dörfer sind weiterhin entvölkert. Israelische Truppen halten fünf Stellungen auf libanesischem Boden, führen Operationen durch und verletzen regelmäßig den Waffenstillstand. In der Stadt Blida im Süden des Libanon töteten israelische Soldaten einen schlafenden Gemeindebediensteten ohne jede Verbindung zur Hisbollah; ein anderes Mal filmte Israels Armeesprecher ein Propagandavideo auf libanesischem Territorium. Diese Vorfälle untergraben nicht nur den Waffenstillstand – sie verdeutlichen auch, dass Israel weiterhin faktisch auf libanesischem Gebiet agiert.
Der Waffenstillstand könnte von Beginn an mehr beabsichtigt haben, als nur den Krieg zu beenden. Eine plausible Lesart ist, dass er die Verantwortung gezielt auf den libanesischen Staat verlagerte – und damit innere Konflikte schürte. Künftige Eskalationen könnten so nicht mehr allein der Hisbollah, sondern dem gesamten Staat angelastet werden. Israels Kriegsnarrativ – man bekämpfe nicht das libanesische Volk, sondern die Hisbollah – könnte gezielt konfessionelle Spannungen ansprechen. Doch die Erinnerung an den Bürgerkrieg hat bisher verhindert, dass diese Logik greift. Dennoch verfolgt Israel offenbar die Strategie, den libanesischen Staat künftig vollständig haftbar zu machen – und so auch Angriffe auf staatliche Infrastruktur als „legitime Vergeltung“ zu rechtfertigen. Sollte die Lage erneut eskalieren, wäre ein solcher Bruch kaum mehr auszuschließen.
Die libanesische Regierung soll nun also die Entwaffnung der Hisbollah überwachen – eine Aufgabe, die einer Armee zufällt, deren Soldaten kaum 50 Dollar im Monat verdienen. Ihr Überleben hängt von internationaler Hilfe ab, vor allem aus den USA. Zuletzt war sie sogar auf private Spenden angewiesen. Eine anonyme Überweisung von 130 Millionen Dollar hat Fragen nach ihrer Herkunft und möglichen politischen Bedingungen aufgeworfen. Gleichzeitig verletzt Israel weiterhin den Waffenstillstand, besetzt Positionen im Süden und greift Dörfer und Infrastruktur an. Die Armee bleibt schwach und hoffnungslos unterlegen. Wie der US-GesandteTom Barrack bemerkte: „Wir rüsten sie nicht aus, um gegen Israel zu kämpfen, sondern gegen ihr eigenes Volk – die Hisbollah.“ So wird deutlich, wie begrenzt die libanesische Souveränität tatsächlich ist. Kontrolle über Territorium und das Monopol legitimer Gewalt – beides fehlt. Israels Besatzung im Süden und die innere Machtteilung lassen die Autorität des Staates zersplittert erscheinen.
Wenn internationale Unterstützung über staatliche Institutionen läuft und dort Wiederaufbau, soziale Absicherung und Präsenz fördert, könnte der Staat seine Legitimität im Süden zurückgewinnen.
Drei Szenarien prägen die aktuelle Lage. Das erste: eine erneute Eskalation, noch zerstörerischer als der letzte Krieg. Israels Ausgangsposition ist günstiger, der Süden liegt bereits in Trümmern. Ein erneuter Angriff könnte diesmal zu einer dauerhaften Besetzung oder einem erzwungenen „Frieden“ führen – oder in eine zermürbende Phase permanenter Niedrigintensität übergehen. Das zweite: eine politische Lösung durch regionale Verhandlungen. Sollten die Gespräche zwischen den USA und dem Iran Früchte tragen, könnte die Entwaffnung Teil eines umfassenderen Abkommens werden – durch diplomatische Garantien statt militärischen Druck. Das dritte, vielleicht nachhaltigste Szenario, das allerdings mehr Zeit bräuchte, wäre eine Stärkung des libanesischen Staates selbst. Wenn internationale Unterstützung über staatliche Institutionen läuft und dort Wiederaufbau, soziale Absicherung und Präsenz fördert, könnte der Staat seine Legitimität im Süden zurückgewinnen – und so schrittweise das Gewaltmonopol wiederherstellen. Dann hätten die Hisbollah und deren Waffen keine Legitimation mehr.
Ein solcher Ansatz hätte auch eine ideologische Dimension. Die Hisbollah hat ihre Legitimation stets aus dem Narrativ der Vernachlässigung und des Opfers gezogen – aus einer Theologie der Märtyrer von Kerbela, die politische und religiöse Deutung vereint. Der Staat war in dieser Erzählung der Abwesende, die Bewegung war die Beschützerin der Entrechteten. Doch eine gestärkte, handlungsfähige Regierung könnte diese Erzählung entkräften – durch Präsenz, Gerechtigkeit und Wiederaufbau.
Sollte zugleich eine Lösung im Gaza-Konflikt gelingen, würde die Hisbollah einen großen Teil ihrer regionalen Daseinsbegründung verlieren. Dann könnte an die Stelle konfessioneller Opfermythen ein neues nationales Bewusstsein treten – gegründet auf Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und gemeinsamer Verantwortung. Wahre Souveränität entsteht erst, wenn der Staat seine Autorität und seine Aufgabe zurückerlangt – nicht durch Verzicht auf Konfrontation, sondern durch ihre Umwandlung in ein Projekt des Wiederaufbaus, der Legitimität und der kollektiven Zugehörigkeit. Genau dort sollte sich künftig jede Unterstützung bündeln – national wie international.




