Lesen Sie diesen Artikel auch auf Englisch.

Im Verhältnis zwischen ziviler Sphäre und Militär erlebten die USA Anfang Juni eine der außergewöhnlichsten Zeiten seit Jahrzehnten. Donald Trump drohte damit, die Armee einzusetzen, um der landesweiten Proteste gegen Rassismus Herr zu werden. Der zivile und militärische Leitungsbereich des US-Verteidigungsministerium sträubte sich allerdings, Soldaten gegen amerikanische Bürgerinnen und Bürger einzusetzen. Etliche pensionierte Führungskräfte sprachen sich gegen den Vorstoß aus und kritisierten Donald Trump mit deutlichen Worten. Manche Beobachter schlossen daraus, das US-Militär hätte sich gegen den Präsidenten gestellt.

So beachtlich der Streit über den Militäreinsatz im eigenen Land auch war – er war nur die heftigste Auseinandersetzung in dem seit Langem angespannten Verhältnis zwischen Trump und dem US-Militär. Angesichts der näherrückenden Präsidentschaftswahlen im November werden die Spannungen sich möglicherweise noch weiter verschärfen.

Das US-Militär ist auf innenpolitische Neutralität bedacht. So verlangen es die amerikanische Verfassung und Rechtsordnung, die Dienstvorschriften des Verteidigungsministeriums und die Standards, die Militärangehörigen schon auf den ersten Karrierestufen vermittelt werden. Kein Präsident der jüngeren Geschichte hat dieses Neutralitätsethos so massiv verletzt wie Donald Trump.

Trump behandelt das Militär als politischen Verbündeten. Er versucht, dessen Ressourcen zu seinem Vorteil zu nutzen und Militärvertreter als Unterstützer seiner Politik einzuspannen.

Trump behandelt das Militär als politischen Verbündeten. Er versucht, dessen Ressourcen zu seinem Vorteil zu nutzen und Militärvertreter als Unterstützer seiner Politik einzuspannen. Er gibt vor Militärpublikum eindeutig parteiische Stellungnahmen ab und greift in die Militärjustiz ein, um als Kriegsverbrecher angeklagte Armeeangehörige zu begnadigen oder zu rehabilitieren. Anschließend lädt er sie zu seinen Wahlkampfkundgebungen ein. Im Mai 2019 ordnete Trumps Stab an, dass beim Präsidentenbesuch auf dem Marinestützpunkt Yokosuka in Japan das nach einem seiner politischen Rivalen benannte Marineschiff „USS John McCain“ nicht zu sehen sein durfte. Das umstrittene Einreiseverbot, das als „Muslim Ban“ bekannt wurde, unterzeichnete der Präsident vor versammeltem Militär in der „Hall of Heroes“ des Pentagon.

Bei jenen, die das Verhältnis zwischen Zivilsphäre und Militär beobachten, ließen diese Vorkommnisse die Alarmglocken schrillen. Am meisten jedoch beunruhigte sie, dass Trump Anfang Juni damit drohte, die Streitkräfte zur Protestbekämpfung einzusetzen. Als es bei den ersten Demonstrationen stellenweise zu Vandalismus und Plünderung gekommen war, hatten mehrere Gouverneure die Nationalgarde zu Hilfe gerufen, um die Lage zu stabilisieren. Die Nationalgarde ist eine Miliz, die in der Regel den Gouverneuren der Bundesstaaten untersteht, sie kann aber auch auf Bundesebene eingesetzt werden und wird dann direkt vom Präsidenten befehligt.

Am 1. Juni war Trump Berichten zufolge drauf und dran, 10 000 reguläre Soldaten auf die Straßen zu schicken, die normalerweise in außenpolitischen Konflikten zum Einsatz kommen. Zwar hatte kein einziger Gouverneur die Truppen angefordert, aber Trump drohte damit, unter Berufung auf das Aufstandsgesetz (Insurrection Act) die Streitkräfte dann eben ohne Zustimmung der Gouverneure zu mobilisieren. Truppen – darunter auch Teile der gefechtsbereiten 82. Luftlandedivision – wurden in die Umgebung von Washington verlegt. In einer Besprechung mit Verteidigungsminister Mark Esper und den Gouverneuren mahnte Trump die Chefs der Bundesstaaten, „die Straßen wieder unter ihre Kontrolle zu bringen“, und in einem umstrittenen Gastkommentar forderte Senator und Trump-Gefolgsmann Tom Cotton: „Schickt die Truppen rein“.

Viele ehemalige Militärobere betätigen sich regelmäßig als Wahlkampfunterstützer für ihren favorisierten Kandidaten. Diesmal waren die Kommentare jedoch auffallend zahlreich und besonders scharf im Ton.

Viele werteten Trumps Drohung als Versuch des Präsidenten, das Militär einseitig für seine Zwecke einzuspannen, damit es seine Forderung nach der „Wiederherstellung von Recht und Ordnung“ durchsetzt – eine Formulierung, die in den Vereinigten Staaten aus historischen Gründen eindeutig rassistische Untertöne hat. Dass Esper und Generalstabschef Mark Milley Seite an Seite mit dem Präsidenten durch einen Park vor dem Weißen Haus spazierten, verstärkte den Eindruck, das Militär nehme Partei für Trump. Wenige Minuten zuvor hatten Beamte des Secret Service mit Pfefferspray und anderen „nicht tödlichen Mitteln“ friedliche Demonstranten auseinandergetrieben, damit Trump sich mit einer Bibel vor einer nahegelegenen Kirche ablichten lassen konnte. General Milley entschuldigte sich später für seine Rolle bei diesem Vorfall.

Nach diesen Geschehnissen hagelte es Kritik von pensionierten Militäroberen. Der Marinegeneral und frühere Verteidigungsminister Jim Mattis prangerte Trumps Vorgehen an und warf ihm vor, das Land zu spalten. Neben den beiden ehemaligen Generalstabschefs Admiral Michael Mullen und General Martin Dempsey meldeten sich zahlreiche Sicherheitsexperten inklusive mehrerer Ex-Verteidigungsminister zu Wort und kritisierten die Idee, die Armee gegen amerikanische Bürgerinnen und Bürger einzusetzen, die ihre verfassungsmäßigen Rechte ausüben. Esper erklärte später, er habe die Berufung auf das Aufstandsgesetz nicht befürwortet. Trump machte einen Rückzieher, und die gefechtsbereiten Truppen wurden aus dem Großraum Washington abgezogen.

Das war mitnichten das erste Mal, dass pensionierte hohe US-Militärs sich öffentlich zu Wort melden. 2006 kritisierten mehrere Ex-Generäle den damaligen Verteidigungsminister Donald Rumsfeld wegen dessen Kriegsführung im Irak. Viele ehemalige Militärobere betätigen sich regelmäßig als Wahlkampfunterstützer für ihren favorisierten Kandidaten. Diesmal waren die Kommentare jedoch auffallend zahlreich und besonders scharf im Ton.

Die Rolle des Schiedsrichters, der den demokratischen Prozess beurteilt, überließ man den Generälen.

Manche Beobachter begrüßten, dass prominente Militärgrößen sich in die Debatte einschalteten, und werteten es als wichtiges Zeichen dafür, dass das Militär für die Verfassung eintritt und demokratische Standards hochhält. Andere sahen darin eine dringend notwendige korrektive Gegenreaktion auf Trumps Versuche, das Militär als Verbündeten und Parteigänger zu vereinnahmen und es in den Kernbereich der Innenpolitik hineinzuziehen. Vor diesem Hintergrund musste jeder, der sich in Schweigen hüllte, mit politischen Folgen rechnen. Umso wichtiger war es für pensionierte Militärs, Trumps Pläne nicht unkommentiert hinzunehmen.

Andere zeigten sich trotz mancher Sympathien für den Standpunkt der Generäle besorgt, es könnte ein Präzedenzfall für die Zukunft geschaffen werden, wenn pensionierte hohe Militärs teils ganz explizit für eine bestimmte politische Position Stellung beziehen. Da Amerikaner nicht immer zwischen pensionierten und aktiven Militärangehörigen unterscheiden, entstand jedenfalls der Eindruck, dass Teile des Militärs einen amtierenden Präsidenten kritisierten.

Wie dem auch sei — der ausgeprägte Dissens pensionierter Militärs und die große Aufmerksamkeit, die ihm zuteilwurde, sind Anzeichen für eine höchst ungesunde Entwicklung in Amerikas demokratischer Kultur. Über Jahrzehnte erfreute sich das US-Militär dauerhaft enormer Beliebtheit in der Bevölkerung, während deren Vertrauen in andere US-Institutionen dahinschwand. Die Meinung der zivilen Sicherheitsexperten, die sich zu Wort meldeten, fand nur wenig Beachtung. Die Rolle des Schiedsrichters, der den demokratischen Prozess beurteilt, überließ man den Generälen.

Vorerst haben die Spannungen sich gelegt. Die Truppen wurden nach Hause geschickt, und ein Einsatz der Armee im eigenen Land ist derzeit nicht im Gespräch. Die Proteste bleiben weit überwiegend friedlich. Dennoch waren die Geschehnisse im Juni nur ein Vorgeschmack auf das, was im November bevorsteht. Sollte Donald Trump das Ergebnis der Präsidentschaftswahlen anfechten oder sollten ausländische Akteure in seinem Auftrag schweres Unheil im Wahlprozess anrichten, wird es unweigerlich zu Protesten kommen. Was dann passiert, kann niemand voraussagen. Sicher ist nur eines: Es dürfte das Verhältnis zwischen Zivilsphäre und Militär einer neuen Belastungsprobe aussetzen.

Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld