Trägt die Linke – im weitesten Sinne – Verantwortung für den Aufstieg der radikalen Rechten? Diese Debatte beschäftigt seit einiger Zeit nicht nur die deutschen Feuilletonisten. Klar scheint: Die Kombination von neoliberaler Wirtschafts- und Sozialpolitik mit einer „linken“ Gesellschafts- und Anerkennungspolitik – einschließlich größerer Offenheit für Migration – hat viele traditionelle Wählerinnen und Wähler der Mitte-Links-Parteien entfremdet. Ein Einfallstor für „populistische Polarisierungsunternehmer“. Inzwischen spitzen sich die politischen Auseinandersetzungen und emotionalisierten Kulturkämpfe immer weiter zu. In den USA sind seit einiger Zeit Vorfälle politischer Gewalt hinzugekommen, jüngst die Ermordung des MAGA-Aktivisten Charlie Kirk. Zudem steigt die Akzeptanz für weitere Gewalt auf beiden Seiten des politischen Spektrums.
Das Attentat auf Charlie Kirk fügt der Debatte über die Mitverantwortung der Linken eine neue Dimension hinzu: Trägt die Linke Verantwortung für den erwartbaren Anstieg politisch motivierter Gewalt – bis hin zur Rechtfertigung sogenannter „Tyrannenmorde“? Für Marco Bitschnau ist die Sache klar. Die Heldenverehrung, die Kirk spätestens seit seiner Ermordung von Seiten der MAGA-Bewegung erfährt, kommentiert er so: „Druck erzeugt Gegendruck“. Er nennt einige Kommentare aus „einschlägigen Kreisen“, die deren „unverhohlene Freude“ über Kirks Ermordung belegen sollen. Die Prominenteste unter den Zitierten ist die Abgeordnete Ilhan Omar, Demokratin aus Michigan, die sich weigert, Kirk als bloßen Verfechter der Meinungsfreiheit darzustellen, und stattdessen an seine problematischen Positionen zu Frauen und Minderheiten erinnert. Kirk war ein christlicher Nationalist, der die Trennung von Staat und Kirche aufheben wollte, und hing Verschwörungserzählungen wie der vom „großen Austausch“ an, nach der die Demokraten die weiße Mehrheitsbevölkerung gezielt durch nicht-weiße Migranten ersetzen wollen.
Schlechter Stil im Angesicht einer Gewalttat? Durchaus. Mitschuld an der nun folgenden verschärften staatlichen Repression und radikal rechten „Cancel Culture“ sowie steigender Gewaltbereitschaft? Das kann ernsthaft nur behaupten, wer völlig ausblendet, in welchem Zustand sich die amerikanische politische Kultur seit Jahren befindet. Denn: Ist der kämpferische Gestus Trumps bei der Gedenkveranstaltung für Kirk am 22. September wirklich neu? Oder seine Weigerung, dem Täter zu verzeihen (was Kirks Witwe öffentlich tat)? Oder sein expliziter „Hass“ auf seine Gegner? War Trump etwa bekannt dafür, dass er die Opfer politischer Gewalt, die in seinem Namen (oder zumindest zu seinen Gunsten) begangen wurde und wird, genauso ehrt wie nun Charlie Kirk? Oder dass er diese Täter genauso unbarmherzig verfolgt wie jetzt pauschal die „radikale Linke“ – zu denen er, Treppenwitz der Geschichte, die an Harmlosigkeit nicht zu überbietenden Demokraten zählt. Ist Trump, wie Bitschnau meint, nur eine „schillernd-erratische Figur“, die unberechtigterweise als „Todesengel der Demokratie karikiert“ wird, deren Dämonisierung angeblich die Gewaltbereitschaft steigere?
Trump bezeichnet die, die für ihn politische Gewalt begehen, beispielsweise beim Sturm auf das Kapital am 6. Januar 2021, als Patrioten.
In den von Trump ins Visier genommenen Late Night Shows kämen jetzt die Clips, die das Gegenteil zeigen, nämlich die ständige unanständige Heuchelei des US-Präsidenten: Trump bezeichnet die, die für ihn politische Gewalt begehen, beispielsweise beim Sturm auf das Kapital am 6. Januar 2021, als Patrioten. Diese hat er sofort nach Amtsantritt begnadigt, und seitdem verfolgt er stattdessen diejenigen, die als Mitarbeiter von FBI und Justizministerium ihre Pflicht bei der Verfolgung von schwersten Straftaten getan haben sowie Kongressabgeordnete wie Adam Schiff, die im Untersuchungsausschuss mitgearbeitet haben. Mit den Worten „stand down and stand by“ signalisierte er im September 2020 dem rechtsextremistischen Vorfeld der MAGA-Bewegung, sich für Gewalt bereitzuhalten. „Fight, fight, fight“, rief er in die Kamera, kurz nachdem er im Wahlkampf 2024 vom Schuss eines Attentäters gestreift wurde – was war damit wohl gemeint? Mit keinem Wort erwähnte Trump in seinen öffentlichen Äußerungen seit Kirks Ermordung die vielen Opfer politischer Gewalt aufseiten der Demokraten: die Abgeordnete des Repräsentantenhauses von Minnesota, Melissa Hortman, und deren Mann, den Minnesota-Senator John Hoffman und dessen Frau, Paul Pelosi, den Ehemann von Nancy Pelosi, der ehemaligen Sprecherin des US-Repräsentantenhauses, um nur einige zu nennen. Meist reagierte er mit Häme statt Anteilnahme.
Glaubt irgendjemand ernsthaft, dass Trump und seine willfährigen Helfershelfer wie Stephen Miller Beweise dafür brauchten, dass der Mörder Kirks linksextremistisch motiviert war, bevor sie pauschal die gesamte „Linke“ (wie gesagt, einschließlich der braven Demokraten) verantwortlich machen? Oder dass sie genau prüfen, ob und wie viele Kommentare „unverhohlener Freude“ es von dieser Seite gibt, bevor sie zu Repression und Unterdrückung der Meinungsfreiheit greifen? Die Ermordung Kirks war zweifellos eine Tragödie – aber für die Trump-Regierung war sie auch eine Gelegenheit, ihre Macht auszubauen und aggressiv gegen Opposition und kritische Medien vorzugehen. Diese Gelegenheit wurde ohne Zögern und mit Wucht ergriffen. Man muss keine Verschwörungserzählung konstruieren, um dahinter planvolles Vorgehen zu vermuten.
Beim „Werk“ Kirks, das nun von der gesamten Trump-Regierung fortgesetzt wird, geht es kaum um Meinungsfreiheit und intellektuelle Debatten.
Ist das jetzt Alarmismus oder gar das „Trump derangement syndrome“, das die MAGA-Republikaner allen unterstellen, die ihren großen Führer kritisieren? Oder sind mediale Verharmlosungen der Situation der Versuch, sich die nächste Einreise in die USA zu erleichtern? Beim „Werk“ Kirks, das nun von seiner Witwe, seiner Organisation Turning Point, der MAGA-Bewegung und der gesamten Trump-Regierung fortgesetzt wird, geht es kaum um Meinungsfreiheit und intellektuelle Debatten. Diese sind am Ende nur schmückendes Beiwerk eines autokratischen Umbaus der USA, mindestens in Richtung einer hyper-majoritären, illiberalen Demokratie, ohne Minderheitenrechte, unabhängige Justiz und Medien, mit einer gezielt geschwächten Zivilgesellschaft und Opposition. Die Orbánisierung der USA ist bereits ein ganzes Stück vorangekommen, und die MAGA-Regierung arbeitet stetig und gezielt weiter an ihrem Machterhalt, ob über die künstliche Beschaffung zusätzlicher Sitze im Repräsentantenhaus oder die weiter verschärfte Wählerunterdrückung.
Schon Timothy McVeigh begründete 1995 seinen Bombenanschlag in Oklahoma City, bei dem 168 Menschen starben – nach den Anschlägen von 9/11 der opferreichste terroristische Akt in den USA, begangen von einem amerikanischen White Supremacist – mit der drohenden Tyrannei der Bundesregierung. Es überrascht nicht, dass diesem Ereignis im Jahr 2025 auf Bundesebene nicht gedacht wurde; die ideologische Nähe der aktuell Regierenden zum Gedankengut des Attentäters ist kaum zu verkennen. Kurzum: Auch ohne die Ermordung Kirks, auch ohne problematische Kommentare von links, werden manche in der aktuellen Lage der USA eine Tyrannei, oder zumindest die Anfänge einer Tyrannei, erkennen. Nicht ohne Grund sprechen inzwischen auch die vorsichtigsten amerikanischen Faschismus-Forscher vom drohenden Faschismus in den USA. Die sicherlich wünschenswerte diskursive (und faktische) „Abrüstung“ müsste in erster Linie von Trump und der MAGA-Regierung kommen. Doch damit ist nicht zu rechnen. Denn die zunehmende politische Gewalt spielt ihnen in die Hände.
Lesen Sie in der Debatte auch die Gegenposition im Artikel „Macht der Worte“ von Marco Bitschnau.