Der Ukrainekrieg geht unvermindert weiter. Ein Ende ist nicht abzusehen. Der russische Angriff und die ukrainische Verteidigung sind inzwischen in einen Erschöpfungskrieg übergegangen, in dem zurzeit nur Miniterritorien in der Ostukraine erobert, beziehungsweise zurückgewonnen werden. In den westeuropäischen Medien wird jedoch zumeist ein Bild in schwarz-weiß gemalt: Wer nicht für Waffenlieferungen an die Ukraine ist und Verhandlungen fordert, wird schnell als Putin-Versteher etikettiert. Die Realität ist jedoch viel komplexer und bei aller Notwendigkeit, immer wieder darauf hinzuweisen, wer Täter (Russland) und wer Opfer (Ukraine) ist, bedarf es doch mehr, als jeweils ausschließlich auf eine militärische Entscheidung zu den eigenen Gunsten zu setzen.

Man könnte die russische Strategie als Eskalation mit der Hoffnung auf einen militärischen Sieg bezeichnen. Die Ukraine und ihre Unterstützer wiederum reagieren und eskalieren, um vielleicht irgendwann in der Zukunft zu de-eskalieren. Russlands Führung drohte in der Vergangenheit bereits zum wiederholten Male mit dem Hinweis auf den möglichen Einsatz von Atomwaffen. Die USA und die westeuropäischen Länder halten dagegen und unterstützen die Ukraine mit immer weiteren Zusagen für die Lieferung von effektiveren Waffen sowie durch die Verschärfung der Sanktionen. Die Absicht ist, dem Gegner die eigene Bereitschaft zu signalisieren, auf keinen Fall das Ziel eines militärischen Sieges aufzugeben. Bei dieser Auseinandersetzung ist bedeutsam, dass Russland und der Westen nicht nur um einen Sieg in der Ukraine kämpfen, sondern auch um die Zukunft der internationalen Beziehungen im globalen Maßstab.

Diesem Eskalationsmechanismus liegt – unausgesprochen – die Konzeption zugrunde, auf jeder Stufe der Eskalation die Kontrolle über den weiteren Verlauf des Geschehens behalten zu können. Dies ist jedoch eine äußerst problematische Annahme. Russlands Drohung mit Atomwaffen ruft die Theorie Thomas Schellings aus dem Jahr 1960 in Erinnerung. Zur Veranschaulichung der damaligen Abschreckungsszenarien mit Atomwaffen beschrieb er die Unsitte junger amerikanischer Männer, mit hoher Geschwindigkeit mit dem Auto aufeinanderzuzurasen, um dann zu sehen, wer sich wohl als erster wie ein „Feigling“ verhalten und ausweichen würde. Schelling kam in seinem spieltheoretischen Experiment zu dem Schluss, dass der Fahrer am glaubwürdigsten sein tödliches Rennen fuhr, der sein Steuerrad aus dem Fenster warf, um seinem Gegenüber zu signalisieren, dass er nun keine Chance mehr habe zu reagieren. Sein Verhalten sei unausweichlich.

Was ist die Alternative zu diesem Wettrennen am Abgrund? Verhandlungen jetzt? Zurzeit ist keine der beiden Seiten zu ernsthaften Verhandlungen bereit. Wäre eine Grundlage für seriöse Verhandlungen gegeben, dann wäre es vermutlich erst gar nicht zur russischen Aggression gekommen. Günther Baechler, ein ehemaliger Schweizer Diplomat, der in vielen Konflikten (Nepal, Sudan, Kamerun und für die OSZE im Süd-Kaukasus) als Mediator tätig war, weist zu Recht auf den Zeitfaktor hin. Ähnlich wie William Zartman, der von der „Reife“ eines Konflikts als Voraussetzung für den Erfolg von Verhandlungen spricht. Baechler schreibt: „Solange die Kampfhandlungen nicht in einen endlosen Zermürbungskrieg führen, der die Macht der Führungen untergräbt und das eigene politisch-militärische System zersplittert, so lange werden glaubwürdigen Verhandlungen kaum Chancen eingeräumt.“ Die deprimierende Schlussfolgerung ist, dass diese Situation heute weder in Russland noch in der Ukraine gegeben ist.

Was ist die Alternative zu diesem Wettrennen am Abgrund?

Um abzuschätzen, wie denn dieser Krieg möglicherweise weitergeht und wann er eventuell beendet werden kann, lohnt ein Blick auf frühere Konflikte. Natürlich verläuft jeder Konflikt anders und auch die jeweiligen Rahmenbedingungen unterscheiden sich. Dennoch ist zu fragen, ob es Konfliktmuster und auch Muster der Konfliktbeilegung gibt, die Hinweise auf die Zukunft der Ukraine geben könnten. Sergey Radchenko, Historiker an der Johns Hopkins School of Advanced International Studies in den USA, hat jüngst in einem Gastbeitrag in der New York Times auf Parallelen zum Koreakrieg hingewiesen. Vor fast genau 70 Jahren, im Juli 1953, führte ein Waffenstillstandsabkommen und der Aufbau einer demilitarisierten Zone zum Einfrieren dieses Kriegs und zur Teilung Koreas in zwei separate Staaten.

Zwar ist Korea Anfang der 1950er Jahre nicht mit der Ukraine gleichzusetzen. Doch die Parallelen zwischen Korea- und Ukrainekrieg verheißen für den heutigen Konflikt nicht viel Gutes. Interessant ist, dass einige der damaligen Akteure auch heute Hauptakteure in der Ukraine sind: die Sowjetunion und China auf Seiten des kommunistischen Nordens und die USA und ihre Alliierten, mit einem Mandat der UN ausgestattet, auf Seiten des Südens. Der Koreakrieg wogte von 1950 bis 1953 hin und her. Ähnlich wie jetzt in der Ukraine war damals weder der Norden noch der Süden und auch nicht ihre jeweiligen Unterstützer bereit, den Krieg rasch zu beenden, weil man sich Hoffnungen auf einen militärischen Sieg machte. Zunächst okkupierte der Norden große Teile des Südens, einschließlich der Hauptstadt Seoul. Durch das Eingreifen der USA wurde der Norden zurückgedrängt und die US-Truppen besetzten Teile des Nordens. Der Einsatz chinesischer „Freiwilligenverbände“ und Unterstützung durch Stalins Sowjetunion wiederum warfen die Streitkräfte des Südens und der USA bis zum 38. Breitengrad zurück.

Ab Mitte 1951 konnte keine der beiden Seiten nennenswerte militärische Fortschritte erzielen. Der Krieg war festgefahren. Dennoch fanden heftige Kämpfe statt. Die Infrastruktur im Norden wurde von den USA bombardiert, Logistik zerstört. Heftige Artillerieduelle hinterließen gravierende Schäden und bis zum Kriegsende zählte man schätzungsweise zwischen drei und viereinhalb Millionen Tote, Zivilisten und Soldaten. Es war ein verlustreicher Stellungskrieg.

Auch für eine Beendigung des Ukrainekriegs könnten neutrale Staaten eine wichtige Rolle spielen.

Obwohl nach einem Jahr Krieg klar war, dass ein militärischer Sieg für keine der beiden Seiten möglich war, dauerten die Verhandlungen bis zu einem Waffenstillstand mehr als zwei weitere Jahre. Erst nach Stalins Tod im März 1953 war die neue sowjetische Führung bereit für ein Waffenstillstandsabkommen. Die Vereinbarung vom 27. Juli 1953 schrieb den Status quo ante, mit der Teilung des Landes am 38. Breitengrad fest. Korea ist bis heute ein geteiltes Land geblieben und der Konflikt ein eingefrorener. Ein Friedensvertrag wurde nie geschlossen und die sogenannte entmilitarisierte Zone entlang der Grenze zwischen beiden Teilstaaten ist eine der am stärksten hochgerüsteten Grenzen der Welt.

Die damals eingesetzte Neutrale Überwachungskommission für den Waffenstillstand in Korea bestand aus Soldaten sogenannter neutraler Staaten, also Länder, die nicht mit Soldaten am Krieg teilgenommen hatten: Für den Norden waren das Polen und die Tschechoslowakei, für den Süden Schweden und die Schweiz. Zwar gab es in den 70 Jahren der Existenz des Waffenstillstandsabkommens und trotz des Bestehens der Neutralen Überwachungskommission zahlreiche militärische Scharmützel an der Grenze. Das nordkoreanische Atomwaffenprogramm ist eine Bedrohung, ebenso wie der Norden das südkoreanische Militär mit seinem Verbündeten USA als Bedrohung bezeichnet. Gerade deshalb ist es bemerkenswert, dass dieses Abkommen sieben Jahrzehnte lang einen verlustreichen neuen Krieg verhindert hat.

Auch für eine Beendigung des Ukrainekriegs könnten neutrale Staaten eine wichtige Rolle spielen: beispielsweise Indien, Südafrika, Brasilien oder Indonesien. Sergey Radchenko zieht aus den Erfahrungen in Korea eine interessante und zugleich deprimierende Schlussfolgerung für den Ukrainekrieg: „Wenn jedoch keine der beiden Seiten in den kommenden Monaten nennenswerte Gewinne erzielt, könnte der Konflikt durchaus auf einen Waffenstillstand zusteuern. Die Ukrainer werden, obwohl sie ihre Territorien vielleicht nicht vollständig zurückgewinnen, einen aggressiven Feind abgewehrt haben. Die Russen ihrerseits können ihre strategische Niederlage als taktischen Sieg tarnen. Der Konflikt wird eingefroren, ein alles andere als ideales Ergebnis.“ Keine Frage: Ein eingefrorener Konflikt ist besser als ein heißer Krieg. Aber die Geschichte der eingefrorenen Kriege, beispielsweise im Kaukasus, zeigt, dass sie jederzeit wieder in heiße Kriege umschlagen können.