Die globale Ordnung, die sich nach dem Ende des Kalten Krieges herausgebildet und die lange Zeit als weltpolitischer Anker fungiert hat, ist im Zerfall begriffen. Der Optimismus der 1990er Jahre, als es schien, als würde die liberale Demokratie weltweit siegen, ist einer fragmentierten, multipolaren Welt gewichen, in der Normen und Werte neu ausgehandelt werden. Die Machtverhältnisse sind heute diffuser, Bündnisse zunehmend transaktional. Für Mittelmächte wie die Türkei bringt diese Lage sowohl Zwänge als auch Chancen mit sich – und ein besonders wichtiges Gegenüber, an dem Ankara seine neue Autonomie erprobt, ist Russland.
Auf den ersten Blick wirkt das Verhältnis zwischen der Türkei und Russland widersprüchlich. Einerseits unterstützen sie in Syrien, Libyen und im Kaukasus gegnerische Konfliktparteien. Andererseits kooperieren sie in den Bereichen Energie, Verteidigung und Außenpolitik. Als Vertreter beider Staaten 2022 – zu Beginn des Ukrainekrieges – das Schwarzmeer-Getreideabkommen aushandelten, zeigte sich darin das Wesen dieser konfliktgeladenen Kooperation – zwei Rivalen, die gezwungen sind, partnerschaftlich zu handeln, und voneinander abhängig bleiben.
Trotz ihrer unterschiedlichen Interessen wissen beide Mächte den Wert eines pragmatischen Verhältnisses zu schätzen. Jede Seite betrachtet die jeweils andere als nützliches Instrument, um mit der Dominanz des Westens umzugehen und in einer sich wandelnden internationalen Ordnung ihre eigenen Handlungsspielräume zu erweitern. Was die beiden Länder verbindet, ist nicht Vertrauen, sondern die gemeinsame Überzeugung, dass ihr Streben nach Autonomie am besten durch selektives und taktisches Zusammenwirken gefördert wird.
Sowohl Russland als auch die Türkei agieren wie Mächte, die mit ihrer Stellung in einer sich entwickelnden Hierarchie unzufrieden sind. Die kurze Phase unipolarer US-Hegemonie ist vorüber, doch ein stabiles multipolares Gleichgewicht hat sich bislang nicht herausgebildet. Sobald ein Hegemon schwächelt, bringen sich ehrgeizige Herausforderer in Position, um die Normen und Werte des Systems umzukrempeln.
Unter diesem Gesichtspunkt sehen Moskau und Ankara ihren Status durch den Einfluss des Westens – etwa durch NATO-Erweiterungen, Sanktionen oder exklusive Energieprojekte – bedroht. Ihre Interessen nähern sich daher immer dann an, wenn es darum geht, westlichen Einfluss gezielt zu schwächen: durch das Umgehen von Sanktionen, die Vermittlung in Regionalkonflikten oder die Kontrolle über zentrale Versorgungswege. Ihre Kooperation hat nichts Sentimentales. Sie ist situationsbedingt und entspringt der Notwendigkeit, in einer Welt zu agieren, in der die Führungsrolle des Westens zunehmend ungewiss ist.
Russland fühlt sich wegen der Ausweitung der NATO und des Werbens für die westliche Demokratie eingekesselt.
Das Leitprinzip ihrer Interaktion lässt sich als eine Art „Matrjoschka-Prinzip“ beschreiben – überlappende Machtstrukturen, ineinandergeschichtet wie eine russische Matrjoschka-Puppe. Anführer der globalen Schicht sind die Vereinigten Staaten, während Russland eine regionale Schicht in Eurasien dominiert und die Türkei im östlichen Mittelmeerraum und im Kaukasus als subregionale Macht agiert.
Dort, wo sich die Interessen Russlands und der Türkei über die verschiedenen Schichten hinweg überschneiden – etwa wenn es darum geht, den Einfluss des Westens einzudämmen, Energieströme zu stabilisieren oder regionale Instabilitäten zu kontrollieren –, wird ihre Zusammenarbeit vertieft. Wo jedoch die Ambitionen beider Länder aufeinandertreffen, wie in Syrien oder Libyen, treten Spannungen offen zutage.
Diese Struktur erklärt, wie es möglich ist, dass Russland und die Türkei sich einerseits in Stellvertreterkonflikten bekämpfen und andererseits im direkten Austausch stehen und ihren gegenseitigen Handel ausbauen. Ihre Kooperation ist daher weniger ein Paradox als vielmehr Ausdruck einer asymmetrischen Beziehung innerhalb eines sich fortlaufend wandelnden internationalen Gefüges.
Das emotionale wie auch politische Bindemittel dieser Partnerschaft ist Sicherheit und das bewusste Definieren des Westens als Bedrohung. Russland fühlt sich wegen der Ausweitung der NATO und des Werbens für die westliche Demokratie eingekesselt. Die Türkei wiederum interpretiert die westliche Unterstützung kurdischer Gruppierungen, die nachsichtige Haltung gegenüber der Gülen-Bewegung und den Ausschluss aus dem East Mediterranean Gas Forum als gezielte Form der Ausgrenzung.
Diese konvergierenden Narrative verdichten sich zu einem tief sitzenden Groll. Indem die Türkei und Russland dem westlichen Druck trotzen, stärken sie ihre innenpolitische Legitimation. Als die Türkei russische S-400-Raketensysteme erwarb und daraufhin aus dem amerikanischen F-35-Programm ausgeschlossen wurde, inszenierten beide Regierungen diesen Vorgang als Beweis ihrer Souveränität und Unabhängigkeit. In ihrem politischen Diskurs gilt der Widerstand gegen den Westen als Ausdruck nationaler Selbstbehauptung.
Das Verhalten der Türkei lässt sich nur verstehen, wenn man erkennt, was sie im Innersten antreibt: das Streben nach strategischer Autonomie. In den vergangenen 20 Jahren hat sich Ankara von der optimistischen „Null Probleme mit den Nachbarn“-Politik der 2000er Jahre verabschiedet und einem kompromisslosen Realismus zugewandt. Dieser Strategiewechsel ist sicherlich geprägt von den chaotischen Entwicklungen in der Region: vom Arabischen Frühling über den Putschversuch von 2016 bis hin zur wachsenden Enttäuschung über den Westen. Außenpolitisch äußert sich dies in einem Mix aus Diplomatie und Abschreckung, mit dem Ziel, sich nicht an einen Block zu binden und zugleich einen vollständigen Bruch mit dem Westen zu vermeiden.
Dass die Türkei Moskau die Hand reicht, ist jedoch kein Schwenk nach Osten, sondern ein Akt des Ausbalancierens in einem multipolaren System.
Die Annäherung an Russland fügt sich nahtlos in diese Strategie ein. Sie verschafft Ankara mehr Gewicht innerhalb der NATO, Zugang zu Energie- und Rüstungstechnologien und Einfluss in regionalen Krisen. Dass die Türkei Moskau die Hand reicht, ist jedoch kein Schwenk nach Osten, sondern ein Akt des Ausbalancierens in einem multipolaren System. Wie andere Mittelmächte – etwa Indien, Saudi-Arabien oder Brasilien – versucht die Türkei, aus dem Wettstreit der Großmächte den größtmöglichen Vorteil für sich zu ziehen.
Diese Geopolitik wird von einem engmaschigen Netz wirtschaftlicher Verflechtungen getragen. Russland gehört zu den wichtigsten Energie- und Handelspartnern der Türkei: Moskau liefert Erdgas, investiert in die türkische Nuklearwirtschaft und schickt Millionen Touristen ins Land. Im Gegenzug bietet die Türkei dem sanktionsgeplagten Moskau einen überlebenswichtigen Wirtschaftskorridor. Zwei symbolträchtige Beispiele für diese pragmatische Interdependenz sind die TurkStream-Pipeline und das Kernkraftwerk Akkuyu.
Die enge wirtschaftliche Verflechtung macht allerdings auch anfällig. Angesichts der fragilen türkischen Währung und der Abhängigkeit von westlichen Märkten stößt die Annäherung an Moskau an ihre Grenzen. Zwar verschafft die Rolle der Türkei als Sanktionsschlupfloch Ankara eine stärkere Verhandlungsposition, doch in Moskau sorgt sie zugleich für Unmut. Beide Seiten wissen, dass ihr Verhältnis asymmetrisch ist – und beide nehmen es in Kauf, weil die Alternativen noch schlechter sind.
Für Europa stellt die sich entwickelnde Beziehung zwischen der Türkei und Russland einerseits eine Herausforderung dar, andererseits bietet sie aber auch wichtige Lehren. Die EU kann die Türkei weder vollständig integrieren noch einfach ignorieren. Ankara ist vieles zugleich: ein zentraler Pfeiler der NATO, Vermittler im Schwarzen Meer, Torwächter in der Migrationssteuerung und eine Regionalmacht, deren Entscheidungen direkte Folgen für Europas militärische und Energiesicherheit haben.
Doch das Misstrauen zwischen der Türkei und der EU sitzt tief. Der fortschreitende Demokratieabbau im eigenen Land und die militärischen Konfrontationen im östlichen Mittelmeerraum belasten die Beziehungen erheblich. Hinzu kommt, dass Brüssel über kein kohärentes Konzept zur Einbindung Ankaras verfügt – oder, um es drastisch zu formulieren: Die EU hat schlicht keine strategische Vision. Sie betrachtet die Türkei zugleich als Partner, Konkurrenten und Risiko. Diese widersprüchliche Haltung schwächt Europas Einfluss in einer Zeit, in der die Rolle der Türkei für die regionale Sicherheit unverzichtbar geworden ist.
Die Achse Ankara–Moskau erweist sich zwar als erstaunlich belastbar, doch sie hat auch ihre Grenzen.
Das Gleiche gilt für Russland. Weil Europa weder Moskau wirksam abschrecken noch Ankara konsequent einbinden kann, reagiert es zunehmend auf Entwicklungen, statt sie selbst zu gestalten. Die immer engere Zusammenarbeit zwischen diesen beiden selbstbewussten Mächten ist auch Ausdruck westlicher Inkohärenz.
Die Achse Ankara–Moskau erweist sich zwar als erstaunlich belastbar, doch sie hat auch ihre Grenzen. Seit Russlands Angriff auf die Ukraine hat sich das Kräfteverhältnis verschoben: In Fragen von Handel und Diplomatie ist Moskau heute stärker auf Ankara angewiesen, während die Türkei sich durch ein schwieriges Spannungsfeld manövriert, in dem sie von ihren NATO-Verbündeten mehr unter Druck gesetzt wird. Auch die heimische Wirtschaft ist eine schwere Hypothek: Beide Länder kämpfen mit hoher Inflation, schwachen Währungen und Ermüdungserscheinungen in den politischen Führungsetagen.
Diese Beziehung wird nur so lange halten, wie beide Länder den Druck des Westens als die größere Bedrohung empfinden. Finden die USA und die EU zu strategischer Geschlossenheit zurück – oder verschieben sich in einer der beiden Hauptstädte die politischen Prioritäten –, könnte die Kooperation rasch abkühlen. Vorerst aber dominiert der Pragmatismus: In einer instabilen Welt kann es sich keine Seite leisten, isoliert zu sein.
Dass die Zusammenarbeit zwischen Russland und der Türkei fortbesteht, sagt viel über die gegenwärtige internationale Ordnung aus. Diese Kooperation gründet weniger auf Ideologie als auf dem Streben nach Autonomie in einer unsicheren Weltlage. Mittelmächte stimmen sich taktisch ab, um sich gegen Unwägbarkeiten abzusichern – und um den Wettbewerb der Großmächte zu ihrem eigenen Vorteil zu nutzen.
Für die politisch Verantwortlichen in Europa und den USA ist die Botschaft eindeutig: Versucht man, Ankara oder Moskau zu isolieren, rücken sie meist nur enger zusammen. Eine vorbehaltlose Einbindung wiederum birgt das Risiko, ihrem Revisionismus zusätzliche Legitimation zu verleihen. Klüger wäre ein Ansatz, der Abschreckung mit glaubwürdiger Präsenz verbindet – indem Europa und Amerika im Schwarzen Meer, im Kaukasus und im östlichen Mittelmeerraum wieder stärker diplomatisch aktiv werden, die regionale Widerstandskraft stärken und Alternativen schaffen, welche die Abhängigkeit von der Türkei und Russland verringern.
Je weniger die Fragmentierung des Westens voranschreitet, umso weniger Spielräume wird für diese beunruhigende Partnerschaft bleiben. Russland und die Türkei kooperieren nicht aus gegenseitigem Vertrauen, sondern weil die gegenwärtige Weltlage solchen Pragmatismus ermöglicht – und sogar belohnt. Die Beziehung zwischen den beiden Ländern ist ein Spiegelbild des Übergangs von einer liberalen Ordnung hin zu einer Welt, die von mehreren konkurrierenden Ordnungen geprägt sein wird und in der die Kunst der Diplomatie nicht von Prinzipien, sondern von Macht bestimmt sein wird.
Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld




