Von den vielen nichtssagenden und sinnentleerten Äußerungen, die westliche Politiker in regelmäßigen Abständen immer wieder von sich geben, ist keine so nichtssagend und sinnentleert wie diese: „Dieser Konflikt lässt sich nicht militärisch lösen.“ 2013 bediente der damalige UN-Generalsekretär Ban Ki-moon sich dieser Formulierung und erklärte: „Für den Konflikt in Syrien gibt es keine militärische Lösung.“ Auch der damalige US-Außenminister John Kerry bemühte die Floskel „keine militärische Lösung für den Konflikt in Syrien“ bei vielen Gelegenheiten. Zalmay Khalilzad, der US-Sonderbeauftragte für Afghanistan, gab am 3. August zu Protokoll: „Wir glauben, dass es keine militärische Lösung gibt. Damit in Afghanistan Frieden und Stabilität einkehren, muss eine politische Lösung ausgehandelt werden.“ Sogar der britische Premierminister Boris Johnson wiederholte im Juli feierlich, es gebe „für die Taliban keinen militärischen Weg zum Sieg“.

Der Satz klingt nett, ist aber nicht wahr. In vielen Konflikten gibt es sehr wohl eine militärische Lösung – auf Syrien trifft das wahrscheinlich, auf Afghanistan mit Sicherheit zu: Der Krieg endet, weil eine Seite gewinnt. Eine Kriegspartei hat die stärkeren Waffen, die bessere Kampfeinstellung, mehr Unterstützung von außen. Eine Seite hat bessere Generäle und Soldaten und mehr Durchhaltevermögen. Manchmal zeigt eine Seite auch eine höhere Bereitschaft, Gewalt, Grausamkeit und Terror zu verüben, und ist eher bereit zu sterben, um anderen Menschen Gewalt, Grausamkeit und Terror anzutun.

Friedensunterhändler, Fachleute für Konfliktprävention, VN-Vertreter, EU-Beamte und zahllose amerikanische und internationale Diplomaten wollen nicht wahrhaben, dass es sich so verhält, weil es nicht den Werten der Welt entspricht, in der sie leben. Sie kennen keinen einzigen Taliban-Kämpfer, militanten Hisbollah-Anhänger oder russischen Söldner und haben keine Vorstellung davon, wie sich die Welt aus deren Perspektive darstellt. Gewaltbereite Extremisten können aber – entgegen der landläufigen Vorstellung – recht rational sein: Sie können exakt kalkulieren, was sie tun müssen, um eine Schlacht oder einen Krieg zu gewinnen. Und genau das haben die Taliban in Afghanistan zuletzt getan. Es gab eine militärische Lösung, und die Taliban haben seit langem darauf gewartet, diese umzusetzen. Jetzt werden sie den gewalttätigen Extremismus ihrer Bewegung in einen gewalttätigen, autokratischen und tyrannischen Staat überführen.

Es gab eine militärische Lösung, und die Taliban haben seit langem darauf gewartet, diese umzusetzen.

Eben weil verhindert werden muss, dass genau das auch an anderen Orten passiert – also dass gewalttätige Extremisten dort einfallen, wo die Menschen lieber in Frieden und unter rechtsstaatlichen Bedingungen leben würden –, haben wir Armeen, Waffen, Nachrichtendienste und Spione aller Art. Trotz aller Fehler, die sie machen, und der hässlichen Dinge, die sie mitunter tun. Eben weil verhindert werden muss, dass gewalttätige Extremisten Strukturen wie Al-Qaida aufbauen oder nuklear bewaffnete Schurkenregime errichten, engagieren sich Nordamerikaner und Europäer in schwierigen Konflikten an weit entfernten Orten. Aus diesem Grund unterhalten die USA Militärstützpunkte in Deutschland, Südkorea, Kuwait und anderswo. Und genau deswegen ließen sich sogar die Niederländer dazu bewegen, in Afghanistan eine Militärbasis einzurichten, die ich 2008 besuchte (und die schon damals einen einigermaßen gefährdeten Eindruck machte).

Aus demselben Grund gibt es das Phänomen des liberalen Internationalismus – oder, wenn dieser Begriff genehmer ist, des „neokonservativen Internationalismus“: Weil gewalttätige Extremisten manchmal nur mit Waffengewalt daran gehindert werden können, die Macht zu übernehmen. Viele oder gar die meisten Menschen in der freiheitlich-demokratischen Welt wollen das allerdings nicht glauben. Sie finden diese Instrumente schon lange geschmacklos oder zu kostspielig. Wie Ban Ki-moon und die vielen, die ihm nacheifern, tun sie manchmal so, als bräuchte es dieses Instrumentarium überhaupt nicht, weil Konflikte sich durch „Gespräche“, „Dialog“ und „kulturellen Austausch“ lösen ließen. Sie tun so, als gäbe es immer friedliche Lösungen, die aus irgendeinem Grund nicht in Erwägung gezogen werden. Als sei „Solidarität“ mit den Frauen in Afghanistan ohne eine physische Präsenz, mit der sie abgesichert wird, eine sinnvolle Idee. „Lasst Euch nicht unterkriegen, Schwestern!“ schrieb der griechische Wirtschaftswissenschaftler Yanis Varoufakis in einem Tweet, in dem er den Sturz des „liberal-neokonservativen Imperialismus“ begrüßte und damit ungewollt ein anschauliches Beispiel dafür lieferte, wie weit die linke Antikriegsfraktion inzwischen ins Wahnhafte abgedriftet ist. Lasst Euch nicht unterkriegen, Schwestern? Der Fall von Kabul macht solche Sprüche zum Gespött und stellt diejenigen, sie von sich geben, als Narren bloß.

Gewalttätige Extremisten können manchmal nur mit Waffengewalt daran gehindert werden, die Macht zu übernehmen.

Viele werden in den kommenden Tagen behaupten, dass Afghanistan keine amerikanische oder westliche Niederlage gewesen sei – und haben damit in gewisser Weise sogar Recht. Die USA haben nicht kapituliert; sie haben die Geduld verloren und beschlossen, sich zurückzuziehen. US-Außenminister Mike Pompeo und Präsident Donald Trump haben, als sie noch im Amt waren, eine Vereinbarung unterzeichnet, den Rückzug der Truppen angekündigt und dann damit begonnen. US-Präsident Joe Biden hat diese Aufgabe lediglich zu Ende geführt. Doch die Bilder aus Kabul erzählen eine andere Geschichte, die nicht nur von Bidens oder Trumps Entscheidungen handelt und gar nichts mit US-Politik zu tun hat. Die Geschichte geht so: Eine theokratische, frauenfeindliche, militaristische Organisation ist dabei, innerhalb kürzester Zeit alle Elemente einer freiheitlichen Gesellschaft zu zerstören, die in zwei Jahrzehnten des „neokonservativen Imperialismus“ in Afghanistan gewurzelt haben. Nach dem Sieg der Taliban dauerte es nur wenige Stunden, bis Frauen zu hören bekamen, sie dürften die Universität in Herat nicht mehr betreten, bis Taliban auf friedliche Demonstranten und auf Menschen schossen, die in irgendeiner Funktion mit den Amerikanern oder Europäern zusammengearbeitet hatten und sich nun verstecken wollten oder zu fliehen versuchten. In den Straßen von Kabul machten Männer sich hastig daran, Plakate zu übertünchen, auf denen Frauengesichter abgebildet waren, die jetzt einmal mehr in ein Schattendasein verbannt werden.

Was in Afghanistan geschieht, ist Teil einer viel umfassenderen Geschichte, und macht diese in schmerzhafter Deutlichkeit sichtbar. Selten trat die Auseinandersetzung zwischen „offenen“ und „geschlossenen“ Gesellschaften, zwischen Demokratie und Diktatur, zwischen Freiheit und Autokratie dermaßen glasklar zutage. Selten hat die Diktatur so schnell und so vollständig über die Demokratie gesiegt. Ein Hugo Chávez oder ein Wladimir Putin brauchten Jahre, um ihren Ländern einen repressiven Kontrollapparat aufzuzwingen. Die Taliban schaffen dies womöglich innerhalb weniger Tage oder Wochen.

Selten trat die Auseinandersetzung zwischen „offenen“ und „geschlossenen“ Gesellschaften, zwischen Demokratie und Diktatur, zwischen Freiheit und Autokratie dermaßen glasklar zutage.

Deshalb wird der Fall von Kabul zwangsläufig zur Folge haben, dass sich manche Verbündete der USA die Frage stellen, ob ihre eigenen liberalen Gesellschaften eigentlich sicher sind. Sie können nachvollziehen, dass die Amerikaner von Afghanistan genug hatten. Vielleicht war das Land tatsächlich zu weit entfernt und zu fremd, um weiterhin vor Ort zu bleiben, wie Biden nachdrücklich erklärte. Aber welche Länder sind nah genug oder kulturell ähnlich genug, um darauf vertrauen zu können, dass Amerika sie auch auf lange Sicht unterstützt? Diese Verbündeten befinden sich derzeit nicht im Krieg, aber dennoch: Zöge das US-Militär seine Luftunterstützung und Logistik aus Europa oder zum Beispiel von der südkoreanischen Halbinsel ab, fänden sich viele Länder unversehens in einer angriffsgefährdeten Situation wieder. Deutschland wäre nicht von einem Tag auf den anderen in der Lage, sich selbst zu verteidigen. Dasselbe gilt für Polen. Oder Estland. Oder Japan. Ein riesiges Fragezeichen schwebt natürlich über den Inseln Taiwans.

Angesichts des Falls von Kabul sollten die Amerikaner – in der Regierung, im Kongress, in der Führung beider Parteien, aber vor allem Bürgerinnen und Bürger im ganzen Land – sich wieder auf die Entscheidungen besinnen, die es jetzt mit besonderer Dringlichkeit zu treffen gilt. Afghanistan ist ein hilfreicher Weckruf: Während wir und unsere europäischen Verbündeten die „ewigen Kriege“ vielleicht leid sind, sind die Taliban nicht im geringsten kriegsmüde. Auch ihre Helfer, die Pakistanis, sind es nicht. Auch die Regime in Russland, China und Iran nicht, die hoffen, vom Machtwechsel in Afghanistan zu profitieren. Dasselbe gilt für Al-Qaida und die anderen Gruppierungen, die in Zukunft in Afghanistan vielleicht wieder heimisch werden. Wichtiger noch: Auch wenn wir uns für keines dieser Länder und ihre brutale Politik interessieren – sie interessieren sich für uns. Sie betrachten die wohlhabenden Gesellschaften in den USA und Europa als Hindernisse, die es aus dem Weg zu räumen gilt. Für sie ist die freiheitliche Demokratie nichts Abstraktes. Sie sehen in ihr eine mächtige und gefährliche Ideologie, die ihre Macht bedroht und überall dort, wo sie existiert, besiegt werden muss. Sie werden Korruption, Propaganda und auch Gewalt einsetzen, um dieses Ziel zu erreichen. Das werden sie in Syrien und in der Ukraine tun, und auch innerhalb der USA, der EU und Großbritanniens.

Der Fall von Kabul wird zwangsläufig zur Folge haben, dass sich manche Verbündete der USA die Frage stellen, ob ihre eigenen liberalen Gesellschaften eigentlich sicher sind.

Wir wollen das vielleicht alles nicht wahrhaben und lieber in einer anderen Welt leben, in der wir einander aus dem Weg gehen können. Aber das ist nicht die Welt, in der wir leben. In der Realität ist der Kampf zur Verteidigung der freiheitlichen Demokratie manchmal ein wirklicher Kampf, ein militärischer und nicht nur ein ideologischer Kampf. Nicht immer lässt er sich mit Worten, Argumenten, Konferenzen oder Diplomatie, mit dem Engagement von Menschenrechtsorganisationen, mit VN-Deklarationen und leidenschaftlichen Besorgnisbekundungen der EU führen. Oder vielmehr: Man kann versuchen, den Kampf mit diesen Mitteln zu führen, aber dann wird man ihn verlieren.

Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld

© The Atlantic