Im „Nebel des Krieges“ sind verlässliche Aussagen mit langer Halbwertzeit zunehmend schwierig. Vieles geschieht im Verborgenen, vieles entzieht sich eindeutigen Bewertungen oder muss auch als Beitrag zur psychologischen Kriegsführung verstanden werden – nicht zuletzt, um Unterstützung der Öffentlichkeit für die als richtig erkannte Linie zu erhalten oder zu gewinnen. Das gilt auch für die Debatte um die Lieferung von weitreichenden Waffensystemen unterschiedlichster Art an die Ukraine, mit der diese in ihrem legitimen Abwehrkampf gegen die russische Aggression unterstützt werden soll.

In den vergangenen dreieinhalb Jahren wurden immer wieder neue Waffensysteme als potenzielle „Gamechanger“ diskutiert – Leopard-Panzer, F-16-Kampfflugzeuge sowie Raketensysteme wie ATACMS, SKALP oder Taurus und nun aktuell die US-amerikanischen Tomahawks. Häufig dominieren dabei militärtechnische Fragen, während strategische Ziele und der politische Rahmen deutlich zu kurz kommen. Mehr Waffenlieferungen könnten die Verhandlungsposition der Ukraine verbessern, so das vorherrschende westliche Lager. Damit werde nur ein für die Ukraine nicht zu gewinnender Abnutzungskrieg verlängert, so die Minderheitenposition.

Worum geht es also? Weitreichende Waffensysteme sollen es der Ukraine ermöglichen, nach der Logik „Angriff ist die beste Verteidigung“ tief auf russischem Gebiet zuzuschlagen. Dies sei nicht nur politisch geboten, sondern auch völkerrechtlich zulässig, denn es gehe ja um die Wahrnehmung des legitimen Rechts auf Selbstverteidigung. Wer mit auf dem Rücken gebundenen Händen kämpfe, könne nicht erfolgreich sein und es sei an der Zeit, diese Fesseln zu lösen.

Diese Debatte ist alles andere als neu. Auf den letzten Metern hatte bereits die Biden-Regierung im Herbst 2024 die Entscheidung getroffen, der Ukraine den Gebrauch weitreichenderer US-Raketen auch auf russischem Territorium zuzugestehen. Dies bezog sich aber wohl vornehmlich auf Teile der von der Ukraine besetzten russischen Region Kursk – welche die Ukraine vermutlich als Faustpfand für Verhandlungen mit Russland unter Inkaufnahme großer Verluste besetzt hielt.

Allerdings hängt die Wirksamkeit der Raketen stark von Zielauswahl und Zielsteuerung ab.

Die Freigabe wurde auch damit begründet, dass Russlands durch die Stationierung von zehntausend Soldaten aus Nordkorea bereits eskaliert habe, dem setze man nun etwas entgegen. Die ATACMS-Raketen und die dazugehörigen bodengestützten Trägersysteme werden wohl seitdem von der Ukraine eingesetzt, zunehmend auch mit taktischen Erfolgen. Ebenso wie die britischen Storm-Shadow- und die französischen SKALP-Raketen, die – allerdings von Flugzeugen abgefeuert – mit bis zu 300 Kilometern eine ähnliche Reichweite wie die ATACMS haben. Mit diesen sehr wirksamen und schwer abzufangenden Raketen können feindliche Truppen, Gerät und militärische Infrastruktur weit hinter der Kriegsfront effektiv bekämpft werden. Je nach Bewaffnung auch mit Streumunition eignen sie sich zur großflächigen Zerstörung von gegnerischen Truppen. Selbst wenn die Raketen der Ukraine nur in begrenzter Stückzahl zur Verfügung stehen, hat das die russische Kriegsführung durchaus beeinträchtigt.

Wenn Donald Trump – der in der Vergangenheit bereits mehrere 180-Grad-Wenden bezüglich seiner Unterstützung für die Ukraine vollzogen hat – nun tatsächlich weitreichende Waffensysteme wie Tomahawk-Raketen liefern lassen sollte, stellen sich strategische Fragen: Wird es Russland wirklich zum Einlenken bewegen? Oder verschafft es der Ukraine nur kurzfristige taktische Vorteile – mit dem Risiko, dass der Krieg eine neue Eskalationsstufe erreicht und russische Reaktionen provoziert, die sowohl der Ukraine schaden als auch einen direkten Konflikt zwischen Russland und der NATO wahrscheinlicher machen?

Bei den aktuell diskutierten amerikanischen Tomahawk-Raketen, die eine maximale Reichweite von etwa 2 500 Kilometern haben, kommt noch hinzu: Um sie abzufeuern, braucht es Abschusseinrichtungen – klassischerweise Zerstörer auf See oder U-Boote –, über welche die Ukraine nicht verfügt. Die jüngst entwickelten bodengestützten Abschusssysteme sind hingegen rar gesät und es ist mehr als fraglich, ob diese der Ukraine zur Verfügung gestellt werden. Sollte dies dennoch geschehen, würden die USA diese nicht direkt an die Ukraine liefern, sondern sie an willige europäische Staaten verkaufen, die sie dann an die Ukraine weitergeben. Das Risiko läge dann mithin, so die US-Kalkulation, bei den europäischen Staaten.

Allerdings hängt die Wirksamkeit der Raketen stark von Zielauswahl und Zielsteuerung ab, bei der die Ukraine auf ganz unmittelbare US-Unterstützung wie Geheimdienstinformationen und Satellitentechnik angewiesen wäre. Die Schwelle, Kriegspartei zu werden, wäre damit erreicht – in russischer Wahrnehmung, aber auch faktisch. Das Risiko, dass Russland befürchten könnte, solche Angriffe könnten seine strategischen Nuklearwaffen treffen und damit die eigene Zweitschlagfähigkeit unterminieren, lässt es ohnehin unwahrscheinlich erscheinen, dass dies ein effizientes Mittel der ukrainischen Kriegsführung wäre.

Militärisch sind einzelne Waffensysteme – mit Ausnahme von Nuklearwaffen – kein Gamechanger.

Aller Wahrscheinlichkeit nach würden die USA daher im Falle eines Einsatzes Russland eine gewisse Reaktionszeit gewähren und die Zielauswahl vorab mitteilen. Denkbar ist jedoch, dass symbolische Ziele, etwa die Brücke von Kertsch oder kriegswichtige militärische Infrastruktur in Russland zerstört werden. Ob das Ziel, Russland damit in gewisser Weise an den Verhandlungstisch zu bomben, erreicht wird, ist ungewiss. Sicher ist jedoch, dass es der Ukraine darum geht, die Europäer oder besser noch die USA direkt in den Krieg hineinzuziehen, weil dies aus ukrainischer Perspektive ein Weg sein könnte, den Krieg zu ihren Gunsten zu drehen.

Doch militärisch sind einzelne Waffensysteme – mit Ausnahme von Nuklearwaffen – kein Gamechanger, auch wenn die Lieferung weitreichender Raketen Russland gewiss Schaden zufügen würde. Die Falken-Fraktion in Deutschland applaudiert zwar und fordert die Bundesregierung auf – schließlich sei Deutschland doch immer im Gleichschritt mit den USA marschiert –, nun auch die deutschen Taurus-Raketen zu liefern. An der strategischen Lage der Ukraine ändert dies jedoch absehbar nichts. Weder wird Russland damit aufhören, die ukrainische Energieinfrastruktur massiv anzugreifen und ukrainische Städte zu bombardieren, noch wird es sich davon abhalten lassen, an der Front schrittweise weiter vorzurücken.

Der Umfang der Unterstützung westlicher Staaten bei Ausbildung und Ausrüstung der ukrainischen Soldaten wie auch die massive Hilfe bei Zielerfassung und Aufklärung führen bisher nicht dazu, dass Russland von seiner Aggression ablässt, sondern absehbar zu zweierlei: Erstens wird auch aufseiten Russlands Unterstützung von außen gesucht – und offenkundig auch gefunden. Die Entsendung nordkoreanischer Soldaten nach Russland ist dafür ein Beispiel. Auch China würde eine russische Niederlage (nach der es aktuell aber keineswegs aussieht) vermutlich zu verhindern versuchen. Zweitens wird Russland seine Angriffe auf ukrainische Ziele weiter eskalieren. Der Abnutzungskrieg, der bisher hauptsächlich an der Front sowie mit Angriffen auf ukrainische Infrastruktur geführt wird, könnte sich zu einem noch intensiveren Zerstörungskrieg ausweiten.

Die alte Frage in diesem Krieg ist die nach der Eskalationsdominanz. Russland glaubt, dass sie auf seiner Seite liege; die Ukraine denkt, sie könne diese mit westlicher Unterstützung erreichen. Die Eskalationsspirale dreht sich dabei munter weiter. Viele, die über Jahre hinweg falsche Ratschläge gegeben und schlechte Politik betrieben haben, reden nun das Scheitern ihres eigenen Kurses schön oder verbreiten weiter Durchhalteparolen – und fordern gleichzeitig, auf genau diesem Weg weiterzumachen. Das ist Strategielosigkeit im schlechtesten Sinne. Für eine wirksame Unterstützung der Ukraine bräuchte es jedoch Bewegung auf diplomatischer Ebene. Die zentrale Frage ist, ob es ernsthafte Gespräche über eine Lösung oder eine Befriedung gibt – oder bald geben wird. Die USA scheinen zumindest weiter in diese Richtung zu denken. Ihrem bevorstehenden Versuch in Budapest, im Rahmen des geplanten Treffens zwischen Trump und Putin, kann man nur Erfolg wünschen – und diese Linie unterstützen.

Die Europäer hingegen haben keine klare Vorstellung davon, wie der Krieg enden soll. Stattdessen vertreten sie unrealistische Maximalforderungen und setzen auf Durchhalteparolen. Doch wofür soll durchgehalten werden? Für einen politischen Kompromiss mit Russland, der eines Tages ohnehin notwendig sein wird – und für den es nicht tausende weiterer Tote oder das Risiko einer womöglich nicht beherrschbaren Eskalation braucht? Um diese Frage zu beantworten, bräuchte es echte Staatskunst – nicht bloß martialische Worte und symbolische Raketendiplomatie. Bemühungen in diese Richtung sind in Deutschland und Europa jedoch Mangelware.